Buchtipp Rundbrief Oktober 2013 von ecb
Verfasst: 01.10.2013, 08:14
Rundbrief Oktober
Buchtipp und Besprechung Rundbrief Oktober 2013 von ecb // Joseph und seine Brüder von Thomas Mann
Ich habe einen Lieblingsautor deutscher Sprache, und das ist Thomas Mann. Eines seiner Werke, „Joseph und seine Brüder“, begleitet mich besonders intensiv seit Jahrzehnten durch mein Leben. Aufgrund von Zerfledderung, Reisen und Handhabung, sowie extensiven Unterstreichens ist das dritte Exemplar in Gebrauch.
Thomas Manns Joseph-Roman ist zunächst einmal eines: lang. Genauer gesagt tausendachthundert Seiten lang - aber damit ist es wie mit mancher Wagner-Oper, bei der man auch nach fünf Stunden noch nicht das Gefühl hat, sie enthalte auch nur eine Note zuviel; davon also sollte man sich nicht abschrecken lassen, und es soll ja noch Leute geben, die nicht aufgehört haben, dicke Bücherschinken zu lieben. Sie wachsen anscheinend sogar nach – denkt nur an alle die Millionen Kinder buchstäblich jeden Alters in der ganzen Welt, die seit etwa fünfzehn Jahren die umfangreichen Harry Potter-Bücher verschlingen. Nicht umsonst, um in diesem Zusammenhang den ursprünglichen Faden wiederaufzunehmen, wurde und wird Thomas Mann der „Zauberer“ genannt.
Thomas Mann ist ein Geschichtenerzähler allerersten Ranges und weiß obendrein wie kaum ein zweiter, was er tut. Zusätzlich zu allem Erzählen reflektiert er sein Schreiben und Denken fortlaufend auf unterhaltsamste Art im Prozeß des Erzählens. „Joseph und seine Brüder“ erzählt „umständlich, das heißt den Umständen nach,“ die Geschichte des biblischen Joseph im ersten Buch Mose des Alten Testaments. Schon den ganz jungen Goethe interessierte diese Geschichte, „Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen“, schrieb er im ersten Teil von „Dichtung und Wahrheit“. Er kam damit nicht zurande, denn er „bedachte nicht, was freilich die Jugend nicht bedenken kann, daß hiezu ein Gehalt nötig sei, und daß dieser uns nur durch das Gewahrwerden der Erfahrung selbst entspringen könne“.
Einen solchen Gehalt allerdings fand Thomas Mann für diese Geschichte, das heißt einen Grund (und beiweitem nicht nur einen), warum sie unbedingt und ausführlich erzählt werden müsse. Sie wurde für ihn zur exemplarischen Menschengeschichte schlechthin, ich kann es nicht anders ausdrücken, wenn ich benennen soll, wie er alle Aspekte menschlichen Daseins und Treibens durch sie hindurch versucht zu erfassen. Selbstverständlich ist er sich der Grenzen menschlicher Erkenntnis nur zu bewußt, der Undeutlichkeit Gottes sozusagen, weswegen man sich über die unverständlichen Stellen in seinem Buch manchmal kunstvoll hinwegbehelfen muß.
Ich habe nie wieder eine solche Erzählfreude erlebt, die sich nicht scheut, sich der heikelsten Themen menschlichen Erlebens und Denkens anzunehmen, wie in diesem Buch. Es ist die kühnste, umfassendste und packendste Auslegung der Grundlagen unserer Zivilisation, die ich kenne.
Vorallem aber liebe ich die Sprache Thomas Manns und ganz besonders diejenige dieses Werkes. Diese Sprache lebt, das heißt, sie ist noch eins mit ihrem ursprünglichen Bildgehalt, dem sie nachgeht, den sie schöpferisch abwandelt und variiert. Hier ist wahrhaft von einem Sprachschatz zu reden, der sich vor dem inneren Auge des Lesers entfaltet. Der geistige und sprachliche Reichtum dieses Buches ist unerschöpflich, es ist für mich das vollkommenste Deutsch, das ich kenne, und vollkommen beispiellos in der Tiefe seines Verständnisses der Menschenseele und ihrer Beweggründe.
Ach ja - und nebenbei wird man auch noch ganz schön bibelfest.