Der Schmerz ist ein Echo

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 09.07.2008, 09:26

Der Schmerz ist ein Echo


Vor mir liegen zwanzig Fäden in einer Reihe.
Mit Bedacht wähle ich ein neues Haar.
Sie leben.
Eine vorherbestimmte Zeit lang,
leben sie.
So wie ich.

Ich könnte Gold aus ihnen spinnen,
dem Liebsten eine Locke senden,
Zöpfe flechten.

Man muss sich entscheiden.
Es gibt so viele Möglichkeiten.
Und so wenig Zeit.
Man muss sich beschränken.
Eine Aufgabe suchen, die zu bewältigen ist.

Jede Nacht reiße ich Hundert von ihnen.
Ich höre rechtzeitig auf.
Ich kenne die Grenze.
Nur Hundert in jeder Nacht.

Nebenan schlägt ein Kopf rhythmisch an die Wand.
Sie haben so viel Zeit
Und so wenig Möglichkeiten.

Der Schmerz ist ein Echo.
Zuletzt geändert von Xanthippe am 13.07.2008, 12:52, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.07.2008, 21:17

Liebe Xanthippe,

ich schließe mich Catys Einschätzung an: das kommt ganz schlicht daher, aber ist sehr fein gesponnen, auch die einfachen Wiederholungen erscheinen mir nicht überflüssig. Und ich höre diesen Text seltsamerweise schon (in einer ganz ruhigen Lesung) - auf eine echte Lesung wäre ich sehr gespannt; vielleicht erfüllt mir ja jemand den Wunsch? :pfeifen:

Kleine Ideen:

hier sehe ich die Motivation für den Zeilenumbruch nicht:

Nebenan schlägt ein Kopf
rhythmisch an die Wand.

würde ich streichen. Wirkt auch zu theatralisch.

Toms Hinweis zum Titel finde ich gut (auch die letzte Zeile zu lassen) - aber bitte nicht "Echo", das klingt nach allerweltstext - wie wäre denn: "Vor mir"? Das passt auch zum Inhalt, finde ich. Ansonsten würde ich die letzte Zeile streichen und den Titel lassen, das fänd ich fast genauso schön. Dann hast du das Kräftige im Titel und das Schlichte wirkt in dieser Aufwelle.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 12.07.2008, 21:36

Hallo Lisa,

apropos Lesung, ich fände das auch toll! Würde es sogar selbst machen, wenn ich mich mal überwinden könnte, mich mit dem ganzen technischen Kram vertraut zu machen...
Echt, und den Kopf nebenan findest Du theatralisch?
Dabei ist das nur eine Alternative zu den Haaren...
Nicht böse sein, aber "Von mir" mag ich ebenso wenig wie "Echo".
Ich glaube bei diesem Gedicht bin ich ziemlich starrsinnig :rolleyes:
Danke für Deine Auseinandersetzung
viele Grüße
xanthippe

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 12.07.2008, 22:33

ne, ich meine, dass ich den Zeilenumbruch theatralisch finde!

und ich meinte "vor mir" - muss aber auch nicht gefallen .-)

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 12.07.2008, 22:51

Ach so, gut dass wir das noch geklärt haben, Lisa. Auf den Zeilenbruch kann ich gut verzichten. Und vor mir ist auch was ganz anderes als von mir.
Danke für die schnelle Antwort
xanthippe

Trixie

Beitragvon Trixie » 12.07.2008, 23:24

Ja, eine Lesung!! Ich habs auch schon probiert, aber es schwankt bei mir zwischen Wahn und langweilig. Ich krieg das nicht hin. Lisa, wie wäre es, wenn DU es selbst liest ;-) ? Oder Mucki könnte ich mir auch gut vorstellen mit ihrer ruhigen Stimme. Das wäre fein :-) !!!

Liebe Grüße im Auftrag der Hörbarfee
die Trixie

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.07.2008, 01:11

Hallo Elke,

ein bedrückendes Gedicht hast du geschrieben. Leise und doch sehr eindringlich. Es gefällt mir richtig gut.
Den Vorschlag von Caty hier:

Nebenan schlägt ein Kopf
rhythmisch an die Wand.


das Echo des Schmerzes dranzusetzen, finde ich gut, denn hier wird ja dieses Echo genau beschrieben. Vielleicht: Echo meines Schmerzes, danach dann Absatz.

Ich würde auch dafür plädieren, die letzte Zeile zu streichen und einen kürzeren Titel zu nehmen. "Meine Grenzen" z.B. fände ich sehr passend.

Wenn du die Endfassung hast, kann ich gerne versuchen, es zu lesen, wenn du magst.
Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.07.2008, 10:14

Liebe Elke,

dieser Text lässt mich ein wenig zwiespältig zurück und das liegt vor allem am Titel.

Sowohl das Haareausreißen, als auch das rhytmische Kopf-an-die-Wand-schlagen lese ich hier als Zwangshandlungen bzw. Krankheitssymptome. Da es der Mensch debenan ist, entsteht für mich der Eindruck einer Psychatrischen Klinik. Zwischen diese Bilder hast du nun die Gedanken über Zeit und Möglichkeit eingesponnen und den Titel und die Schlußzeile: Der Schmerz ist ein Echo.

Ich beziehe den Schmerz erst einmal auf das, was zu diesen Handlungen führt. Wenn der Schmerz allgemeingültig nur ein Echo ist, so ist er stets selbst erzeugt, zugefügt, entsteht aus dem, wie wir der Welt gegenübertreten, sie wahrnehmen und mit ihr umgehen. Hierfür steht ja dann bildlich auch der körperliche Schmerz, den sich die Prot. zufügen.

Für mich funktioniert das Zeit/Möglichkeitenbild Anhand der Extreme, die du hier aufzeigst nicht. Wenn bereits krankhaft ausgeprägte Zwangs/Ausweich/Ersatzhandlungen vorliegen, wird es dem Mensch aus meiner Sicht nicht gerecht hier von einem Echo zu sprechen, das ja impliziert, man könne genausogut aufhören den Schmerz zu erzeugen, oder die Welt eben auf diese Weise zu betrachten.

Das Gedicht regt sicher an, darüber nachzudenken, macht es sich aber aus meiner Sicht an dieser Stelle zu einfach.
(Ich hatte so ein klein wenig das Gefühl, dass mir hier eine "Lebensratgeberbotschaft" vermittelt werden soll. Das finde ich immer schwierig, weil sie der Wirklichkeit selten gerecht werden, sich aber meist gut anhören.)

Mag natürlich sein, dass ich hier anders interpretiere, als von dir intendiert, vielleicht findest du es trotzdem interessant zu lesen. :-)

liebe Grüße smile

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.07.2008, 12:38

Hallo smile,

klar, ich lese hier auch von einer Zwangsstörung, der Trichotillomanie. Ich verstehe es auch so, dass LI sich in einer Klinik befindet, (Nebenan schlägt ein Kopf rhythmisch an die Wand.) LI befindet sich nach meiner Lesart in einem Zwischenstadium, in einer Verhaltenstherapie ("Man muss sich beschränken. Eine Aufgabe suchen, die zu bewältigen ist."), wo dem LI bereits "beigebracht" wurde, die Zahl des Haare, die es ausreißt, zu beschränken, was dem LI jedoch sehr schwerfällt.
Doch als eine Art "Lebensratgeberbotschaft" kann ich es nicht lesen. Dafür ist der Text zu unaufdringlich, was ich gerade gut finde.
LI ist sich seiner Situation und auch seiner Hilflosigkeit bewusst. Ich lese es als ohnmächtige Eigenreflexion des LI, das sich seiner Grenzen und Nicht-Grenzen bewusst ist und auch der Zwangssituation, in der es sich befindet. Gerade in diesen Zeilen "Sie haben so viel Zeit Und so wenig Möglichkeiten." lese ich die Ohnmacht am Deutlichsten heraus.
So meine Lesart.
Saludos
Mucki

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 13.07.2008, 12:58

Hallo Smile, hallo Mucki,

Smile: eine Lebensratgeberbotschaft wollte ich sicher nicht loswerden. Und das Echo war wohl so gemeint, dass jemand da aufgrund seiner Erkrankung sehr in sich eingeschlossen ist, und die Welt und auch sich selbst, nur zeitversetzt von weitem wahrnimmt, wie ein Echo eben.
Ich finde es aber immer interessant zu erfahren, warum welche Botschaft nicht ankommt, darum sind mir auch gerade kritische oder bemängelnde Kommentare wichtig.
Mucki: ich glaube das ist jetzt schon fast die Endversion. Ich fände es ganz toll, mein Gedicht von Dir gelesen und interpretiert zu hören. Ich selbst bin noch nicht in der Lage zu lesen, weil mir die ganzen technischen Hilfsmittel fehlen.
Vielen Dank auch für Deine Leseart, die sich sehr mit meiner Intention deckt
xanthippe

Mucki
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Beitragvon Mucki » 13.07.2008, 13:16

Hallo Elke,

ok, ich werde mich an einer Lesung versuchen. Vielleicht ist sie ja sogar hilfreich für dich, um zu sehen, ob es mit dem Titel und der Wiederholung am Schluss stimmig ist.
Und klar: ich lese es so, wie ich es interpretiere, geht ja gar nicht anders,-)
Saludos
Mucki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.07.2008, 13:33

Hallo Elke,

Und das Echo war wohl so gemeint, dass jemand da aufgrund seiner Erkrankung sehr in sich eingeschlossen ist, und die Welt und auch sich selbst, nur zeitversetzt von weitem wahrnimmt, wie ein Echo eben.

Warum schreibst du dann nicht:
Die Welt ist ein Echo
oder gar
Ich bin ein Echo

Ich kann Muckis Interpretation zwar gut nachvollziehen, für mich reibt es sich aber trotzdem am Titel, der dem Ganzen für mich eine andere Richtung vorgibt, oder vielleicht eine andere Ebene aufweist, eine Außenperspektive.

liebe Grüße smile

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 13.07.2008, 14:04

Warum schreibst du dann nicht:
Die Welt ist ein Echo
oder gar
Ich bin ein Echo


Weil die Welt für mein lyrisches Ich nur aus Schmerz besteht.

xanthippe

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Beitragvon Xanthippe » 13.07.2008, 14:07

Ups Mucki,

jetzt hätte ich Dich fast überlesen! Ich freue mich, dass Du das machst und bin schon sehr gespannt. Danke

xanthippe


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