Das Liebesgedicht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Estragon

Beitragvon Estragon » 20.07.2008, 10:42


sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen

wenn wir uns liebten legten wir unsere gebisse
aufeinander

unsere augen waren still&müde

unsere augen lagen neben uns
und begannen zu verstehen
Zuletzt geändert von Estragon am 20.07.2008, 11:45, insgesamt 3-mal geändert.

Estragon

Beitragvon Estragon » 20.07.2008, 21:36

Zakkinen hat geschrieben:Warum wiederholst Du "unsere augen"?



weil ich das wichtig finde...
beim ersten mal sind sie ja noch dort
wo sie scheinbar immer sind,
aber in der zweiten Erwähnung liegen sie doch neben den Zweien, wer
auch immer das ist

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 20.07.2008, 22:02

Setz doch mal probehalber die Zeile ab:

unsere augen waren still
und müde

unsere augen lagen
neben uns
und begannen zu verstehen

Nur so'ne Idee

Max

Beitragvon Max » 21.07.2008, 12:21

Lieber Estragon,

das Gedicht hat einige gutes Passagen.

Mir gefällt zum Beispiel der Schluss

unsere augen lagen neben uns
und begannen zu verstehen


sehr und auch die Gebiss-Strophe ist heiter und nachdenklich.

Die kritische Strophe ist sicher

unsere augen waren still&müde


Auch wenn ich Louisa nicht zustimme, dass Adjektive generell kritisch sind, so waren drei davon es sicherlich. Nun aber, mir derkurzen Vesion, wirken die Augen seltsam gedoppelt und die zitierte Strophe kommt mir vor wie eine Art Warteschleife, weil das Gedicht noch nicht mit der letzten Strophe rausrücken mag. Sie scheint mir derzeit recht wenig Aussagekraft zu besitzen, so dass ich mich frage: Spricht etwas dagegen, sie einfach wegzulassen?

Liebe Grüße
Max

Estragon

Beitragvon Estragon » 21.07.2008, 12:59

sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen

wenn wir uns liebten legten wir unsere gebisse
aufeinander

unsere augen waren still&müde

sie lagen neben uns
und begannen zu verstehen



so könnte man es doch machen

Max

Beitragvon Max » 21.07.2008, 14:50

Ja, das stimmt ... ich überlege noch, ob

unsere augen waren still&müde


für mich überraschendes enthält .. aber immerhin klingt Deine Version.

Liebe grüße
Max

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 21.07.2008, 15:42

Hallo Estragon,

diesen Vers finde ich großartig
sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen

danach verliert der Text, finde ich.

Schade, wenn man mit dem stärksten Satz anfängt...

Leider verstehe ich auch das Ende nicht
unsere augen lagen neben uns
und begannen zu verstehen

Ich stelle mir dann unwillkürlich Augen vor, die neben mir liegen, die des Ichs und die der Sie, vier Augen. Und verstehe nicht: Wieso liegen die da herum? Und vor allem: Wie können AUGEN etwas verstehen? Augen verstehen nichts. Augen sehen. Wenn irgendetwas versteht im Menschen, ist es das Herz (als Metapher), der Körper (als Fühlen) oder das Gehirn (als Denkendes, als Bewusstsein), und wahrscheinlich gibt es wahrhaftes Verständnis nur als Ganzheit dieser drei Teile. Aber Augen allein, abgespalten, danebenliegend vom denkenden, fühlenden Ich verstehe ich einfach nicht als verständig.

Auch die Gebisse sind mir noch ein Rätsel:

wenn wir uns liebten legten wir unsere gebisse
aufeinander

Sind die im Mund vorhandenen Zähne gemeint? Oder sind es DRitte Zähne, die im Wasserglas daneben liegen, neben den Augen sozusagen? Vor MEINEM inneren Auge entsteht so ein Gruselkabinett aus Organen, das, fürchte ich, gar nicht intendiert ist?

und auch dies
unsere augen waren still&müde

empfinde ich als unglücklich. Augen sind nicht laut. Ich verstehe die Adjektive nicht. Ich verstehe die Hervorhebung der Augen nicht. Ich bin zu blöd für dieses Gedicht...

Nichtsdestotrotz ist der erste Satz großartig:
sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen


Hut ab dafür!
Das doppeldeutige "alten zeiten" imponiert mir sehr.

Geht es tatsächlich um Liebe im Alter? Oder habe ich alles missverstanden?

Grüße
klara

Estragon

Beitragvon Estragon » 21.07.2008, 16:29

Aber das ist doch Dichtung. Gregor Samsa hat sich auch nicht wirklich in einen Käfer verwandelt.
Aber was hältst du davon


unsere augen lagen neben uns
und begannen zu sehen

Xanthippe
Beiträge: 1312
Registriert: 27.06.2008
Geschlecht:

Beitragvon Xanthippe » 21.07.2008, 16:39

unsere augen lagen neben uns
und begannen zu sehen


nee, auch nicht!

Benutzeravatar
noel
Beiträge: 2666
Registriert: 04.08.2006

Beitragvon noel » 21.07.2008, 16:40

wenn ich zu nah an einer sache dran bin,
wenn ich mir & meinen gesichtspunkten zu nahe bin,
verhaftet bin,
bin ich nichts OHNE ein mögliches alles .

so verstand ich die zeilen mit den augen,
die verstehen,
wenn sie neben einem liegen .
GRUZ
Zuletzt geändert von noel am 21.07.2008, 16:41, insgesamt 1-mal geändert.
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Estragon

Beitragvon Estragon » 21.07.2008, 16:41

Ganz genau so habe ich es auch verstanden, es ist ja kein reales Bild,
da liegen zwei die von sich selber angesehen werden, eine Spiegelung des Glücks

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 21.07.2008, 17:03

Spiegelung des Glücks? Interessant. Ich schreib Dir nachher mal auf, was ich für ein Bild beim Lesen hatte. Grade reicht die Zeit nicht. Kommt aber, versprochen.

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 21.07.2008, 19:15

Aber das ist doch Dichtung. Gregor Samsa hat sich auch nicht wirklich in einen Käfer verwandelt.

ich sag ja, ich bin zu dumm für dein gedicht.
für dichtung überhaupt?
denn was heißt schon "wirklich"
in der sprache
in der wirklichkeit
bin zu sehr kind.
bin immer gleich verwandelt
immer der käfer -

grüß dich
klara
ps natürlich hat er sich in einen käfer verwandelt! sonst macht doch die ganze geschichte keinen sinn! kafka ist wahrscheinlich gründlich missverstanden worden von erwachsenen... ,-)

Benutzeravatar
Zakkinen
Administrator
Beiträge: 1768
Registriert: 17.07.2008
Geschlecht:

Beitragvon Zakkinen » 22.07.2008, 18:55

Für mich hat das Gedicht einen traurig melancholischen Anklang.

sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen

Könnte auch als "Die Zeiten des Alt-Seins" gedeutet werden. Ein Kissen als Polster während der Liebe, weil der alte Körper nicht mehr ganz so kann wie er will.

wenn wir uns liebten legten wir unsere gebisse
aufeinander

Und hier ganz profan und wörtlich. Gebisse stören beim Küssen. Es bleibt unklar, ob die Gebisse jetzt im Wasserglas aufeinander liegen, oder ob das eine leicht zynische Bemerkung im Sinne von "Nicht mal der Kuss ist mehr echt" ist.

unsere augen waren still&müde

Mit nichts assoziert man die Seele bzw. die Fenster zur Seele so wie mit den Augen. Vielleicht sind die Seelen müde? Die Personen müde? Dann vielleicht mit "Wir" gleichzusetzen?

unsere augen lagen neben uns
und begannen zu verstehen

Weitere Assoziation. Ich als Brillenträger sage manchmal "meine Augen" zur Brille, besonders wenn ich die Brille nicht auf habe und daher nichts sehen kann. Liegen hier Brillen auf dem Nachttisch? Eine bewusste Doppeldeutigkeit, die gut zu den müden Augen passen würde, ebenso zur Identifikation der Augen mit den Personen. Die betrachten sich selbst von außen und beginnen, zu verstehen - dass etwas vorbei ist, vergänglich. Dass sie das Alter eingeholt hat.


Vermutlich liege ich komplett neben der Spur, würde mich nicht wundern.

Ich würde übrigens immer noch anders umbrechen:

unsere augen waren still
und müde
unsere augen lagen neben uns
und begannen
zu verstehen



Oder die Variante nehmen:

sie trug ein kissen bei sich um sich an die alten zeiten zu gewöhnen

wenn wir uns liebten legten wir unsere gebisse
aufeinander

unsere augen waren still&müde

sie lagen neben uns
und begannen zu verstehen


Gruß
Henkki


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 107 Gäste