fruchtfleisch

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 16.08.2008, 10:50

fruchtfleisch



wische mir den nachtschweiß von der nülle
schalte ein philosophisches feature ein auf WDR 5
und starre dübellöcher
in die schlafzimmerdecke

die autowerkstatt nebenan
fährt mit lautem gewummer die bühne hoch
und die erste fliege scheißt mir
den morgen aufs laken

ich huste mich die treppe rauf
verschlucke eine haarsträhne
trete den küchenstuhl weg
und beiße vor wut in eine aprikose
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.08.2008, 11:17

Moin Liesel,

vielen netten Dank!

Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht genau was du damit meinst:

"Die letzte Strophe allerdings könnte noch einen kleinen Abschlussbogen vertragen"

Für mich liegt der Punkt in der Beschleunigung/Dynamik im Verlauf des Textfortschrittes (erst statisch, dann passiv, dann aktiv, und am Schluss eine merkwürdige, irgendwie versöhnliche Wende - die Aprikose muss also unbedingt bleiben).
Ist zwar unbewusst so entstanden, stimmt aber trotzdem :o)
Ich finde, das rockt.

Kannst du mal ein Beispiel geben, wie du das meinst?

Nixschnall-Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.08.2008, 13:02

klar,

ich meine das so: strophe eins macht sofort den rhythmus/tonfall des textes klar - indem sie auf das ich vor wische verzichte. strophe 2 übernimmt genau den tonfall, hat aber andere satzkonstruktionsreihenfolgen, wodurch die stimmung gleich bleibt, sprachlich aber keine monotonie aufkommt = perfekt komponiert. strophe 3 dann wirkt aber nicht wie eine endstrophe, wenn du den text (laut) liest, klingt es (für meine ohren) so, als ob noch 10 solche strophen kämen, aber der Text ist dann zuende. (und sie hat als auftakt dann auch noch das "ich" nicht gestrichen und das "und" das in jeder stroph auftaucht ans ende gesetzt). Ich meine das also rein syntaktisch oder wie man das immer beschreiben mag, auf der Bildebene ist es durchgführt und "endstrophig". soll heißen: satzkompositorisch ist für mich das gedicht eher nach strophe 2 zu ende, obwohl ich nicht auf 3 verzichten möchte, sondern nur finde, dass die dritte der ersten so ähnlich ist, dass der Text nicht am Ende zu sein scheint, wenn er es aber ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das sofort ändert, wenn du die letzte Zeile noch mit einem einzelwort statt einer ganzen verszeile enden lässt.

Bisschen klarer geworden?

Liebe Grüße,
Lisa


übrigens: der titel ist so genial - in dem wort hört man die stimmung des ganzen textes.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.08.2008, 14:14

Meine Herren!
Man merkt, dass du vom Fach bist :o)))

"perfekt komponiert" >> Das Lob gebe ich mal an Herrn Zufall und Frau Intuition und deren Kinder Rock und Roll weiter ... :o)

Ich verstehe, was du bei Strophe 3 meinst. (immerhin!) Aber könnte man nicht auch so argumentieren, dass das Ende deswegen so überraschend ist, genau weil der Text nicht zuende scheint? Oder es eben nicht via Bogen daraufhinleitet?

Oder brächte eine einfache Zeilenumbruchänderung das von dir gewünschte?


ich huste mich die treppe rauf
verschlucke eine haarsträhne
trete den küchenstuhl weg
und beiße vor wut in eine

aprikose



Na, ich weiß nicht ...

Tom
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DonKju

Beitragvon DonKju » 20.08.2008, 16:22

Hallo Tom,

gut, es war ohnehin nur ein Vorschlag - fußend auf meiner "glatten" Lesart; Ich hielt die Dreizeiler für eine gute Idee (3 x 3 = 9), besonders die dann jeweils längeren, für mich nachklingenden dritten Sätze (. s. u.)

und starre dübellöcher in die schlafzimmerdecke

und die erste fliege scheißt mir den morgen aufs laken

und trete den küchenstuhl weg, beiße vor wut in eine aprikose

aber DU bist der Autor ...

Trotzdem lieben Gruß von Bilbo,
der jetzt in Kurzferien geht

Perry

Beitragvon Perry » 20.08.2008, 18:51

Hallo Tom,
ein bösmeinender Typ könnte natürlich jetzt mutmaßen, der Tom hat wohl gerade seine "Fruchtfliegentage". Ich sage lieber, Bukowski hätte sicher, so wie ich auch, seine Freude an dem Text.
LG
Manfred

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.08.2008, 19:08

Hi Perry,

Fliegentage kann man ja öfter haben? Muss man wohl, in Ermangelung von genügend Fledermäusen ...
Diesmal wars aber nicht die Frucht, sonder die Stuben. Die Gemeine. Die Hunds.

Fliegen ziehen sich wie ein brummendes Band durch meine Schreiberei. Sie sind für mich der Beweis für die Nichtexistenz Gottes.

Danke fürs Lesen und Gutfinden, Gruß an Hank. :o)

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 20.08.2008, 20:29

Hi Tom,

ich schließe mich dem Gutfinden an. Die Bilder erschlagen zwar erstmal und wirken auch nach mehrmaligem Lesen erstmal gewollt wuchtig, aber auch stimmig. Es rockt, hast du geschrieben. Bei Bochum total (ein Rock/Pop/Metalfestival) gab es eine Lyrikstunde. Da hätte dieser Stil sehr gut reingepasst und das ist lobend gemeint.

Schöne Grüße

Jürgen

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.08.2008, 20:40

Hi Jürgen,

lang nix gehört von dir. Und dann gleich sowas Nettes :o)))

Ich weiß von der Lyrikstunde, da wollten wir doch zusammen hin (als ich nicht konnte).

Tja, das Leben ist manchmal wirklich 'gewollt wuchtig'. Leider nicht immer so stimmig :o)

Schöne Füße,

Tom
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.08.2008, 21:37

Lieber Tom,

ne, so "aprikose" abzusetzen ist natürlich nicht das wahre - ich weiß auch nicht, theorietrüffelschweinchen wie ich sind gut drin, probleme aufzuzeigen, aber die Umsetzung...noch dazu Tomton...die kann ich leider nicht leisten.. - zur Frage, ob das nicht sogar gut so ist, das unerwartete Ende: ich schrieb ja im ersten Beitrag, dass das lakonisch-beschissene durchaus dauerhaft da sein sollte, der text also durchaus so komponiert sein sollte, dass die dauer spürbar ist. trotzdem wünsch ich mir wohl einen leichten Bogen - rein leseerlebnismäßig. es müsste halt beides ein bisschen da sein (...)

Vielleicht erreichst du den Effekt durch das Umstellen des letzten Verses?

liebe Grüße,
Lisa (heute mal an einer Tastatur mit nem funktionierendem e .-) )
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.08.2008, 13:25

Hallo Lisa,

also nach einigem zeitlichen wie inhaltlichen Abstand ist der letzte Vers für mich immer noch schlüssig und richtig. Ohne, dass du mir das mal am Beispiel aufzeigst, werde ich da wohl nicht zu neuer Erkenntnis gelangen ... :o)

Tombock
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 25.08.2008, 17:11

Ich würde es genauso lassen, Tom.

Saludos
Mucki

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 25.08.2008, 17:28

Ich frage mich, warum Du vor Wut in die Aprikose beißt. Das Bild ist mir nicht klar. Voller Wut wäre mir verständlicher.

Ansonsten würde ich es so lassen, wie es ist. Eine Momentaufnahme, Deine Momentaufnahme. Vom Aufbau her könnte, ich betone könnte, man die letzte Strophe vielleicht auch so machen:

huste mich die treppe rauf
verschlucke eine haarsträhne, trete den küchenstuhl weg
und beiße vor wut
in eine aprikose

Cheers
Henkki

Niko

Beitragvon Niko » 25.08.2008, 17:52

hi tom!
dübellöcher und gewumme sind mir zu lautmalerisch / konkret. gefällt mir persönlich weniger. aber die fliege, die den morgen auf´s laken scheißt find ich zb klasse. du schwankst hier (für mich) zwischen guten "lyrischen" formulierungen und einem derben jargon, der dich vielleicht an bukowski erinnern mag. für mich (!!!!) passt das eine aber nicht zum anderen. ich würde dann entweder die geniale fliegenformulierung entfeinern, oder aber das grobschlächtigste (gewumme, dübellöcher [die dübel davor machen die gestierten löcher auch nicht lyrischer],nülle - ist es das, wofür ich es halte???!!!) verfeinern.
leseeindrücke mit liebem gruß: Niko
PS: find´s toll, dass du viel mehr lyrik (und meist gute dazu) schreibst (bzw hier veröffentlichst) als "früher"!

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.08.2008, 17:56

Moin Henkki.

Sagt man nicht so? 'Vor Wut', 'vor Zorn'? Er wurde ganz grün vor Neid?

Kann sein, dass ich hier (unbewusst) was Umgangssprachliches verwurstet habe?

Ich guck mal eben nach ...

Also lt. Wahrig kann 'vor' auch Beweggrund bzw. Ursache bezeichnen. Im Sinne von 'aus' ('aus Wut'). Wobei ausgerechnet 'vor Wut' als veraltet bezeichnet wird ('vor Freude' komischerweise nicht). Macht nix, veraltet bin ich ja auch, ich Haderlump :o)

Dass ich wütend bin, sollte doch aus den Zeilen davor hervorgehen, ohne es zu benennen? Das wäre nämlich dein 'voller Wut' (sozusagen der Erklärbär).
Ich war so sauer, dass ich einfach in was Süßes/Hübsches beißen musste. So wie das plärrende Blag ein Eis kriegt. Und so ward auch Tom wieder samten.

Zu deinem Stropheneinteilungvorschlagskonjunktiv finde ich als Gegenargument, dass es durch die längere zweite Zeile zu einer Hemmung des Drives käme. Da gönge mir einfach der Rhythmus bzw. der Endspurt mittels Verdichtung verlustig.

Anscheinend hat da wohl jeder seinen eigenen Rhythmus. Ich geh dann mal lieber mit Mucki spazieren ... :o)

Danke fürs Lesen,

Tom
Zuletzt geändert von Thomas Milser am 25.08.2008, 18:14, insgesamt 1-mal geändert.
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