Ein Dorf

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 13:42

Übersetzung eines Gedichts von Roland Jooris, das mir meine Mittagspause erhellt hat:

http://www.lyrikline.org/index.php?id=1 ... 657a65d785

Ein Dorf


Ein Dorf ist ein Kreis
den man freihändig
um eine Kirche schlägt

Eine Taube
ist eine sehr einfache luftleere
Linie auf dem Dach

Ein Frühling macht nasse
Flecken auf dem Papier
der Luft

Und schau, das ist gerade jetzt
Wirklichkeit: Gleich lass ich es regnen
auf mein Gedicht
so dass es zerfließt
zu einem Aquarell
aus vollgesogenen
unlesbaren Worten
Zuletzt geändert von Max am 27.02.2009, 13:59, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 26.02.2009, 19:44

Hi Max,

das ist ja klasse! Gefällt mir richtig gut!
Ich hätte ja schwören können, dass ich wenigstens einen Teil von dem niederländischen Original verstanden hätte, aber Pustekuchen. *kicher* Ich brech mir schon beim Versuch, es zu lesen, einen ab, ha, ha.

amüsierte Grüße
Mucki

Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 20:19

Liebe Mucki,

ja, dabei hat niederländisch, selbst wenn man glaubt es zu verstehen, auch immer wieder ein paar nette Fallen.
Z.B. haben sie ein Wort namens 'slim'. Das heißt aber weder 'schlimm', wie man als deutscher glauben könnte, noch 'schlank', wie man mit englischen Hintergrund ahnt, sondern, weil die Holländer so pfiffig waren, sich eine neue Bedeutung auszudenken 'clever' ... ;-)

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 20:26

Ich habe noch was geändert .. ich glaube Kreis schlägt man 'frei hand' .. 'freihändig' fährt man eher Rad.

Liebe Grüße
Max

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 26.02.2009, 20:45

Ich kapiere die Strophe mit der Taube nicht.

Kann man das auch mit luftfrei oder so übersetzen? Ich komme darauf, weil "ledig" ja auch frei von etwas meint, oder?
Mit luftleerer Linie kann ich nicht viel anfangen, es paßt auch irgendwie nicht so richtig zum Rest des Textes.

Ich bin im niederländischen (oder war es flämisch?) mal bei "doof" hängengeblieben. Das meint nicht unser doof, sondern taub. Mir hat mal jemand erklärt, dies komme von der lautsprachlichen Ähnlichkeit mit "deaf" und da man früher taube Menschen für dumm und so hielt, heißt eben taub "doof".
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 21:07

Liebe Sethe,

bestimmt kann man das auch so übersetzen, aber was sollte "luftfrei" bedeuten, vor allem was anderes alls "luftleer"? Das ist mir nicht so ganz klar ..

Liebe Grüße
Max

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 26.02.2009, 21:47

Mir auch nicht ;- )
Ich kann mir eben unter einer luftleeren Linie nicht viel vorstellen.
Mir fällt nur ein, daß vielleicht gemeint ist, daß die Taube einen Schatten wirft, weil sie auf dem Dach steht oder so über ein Dach fliegt, daß man die Taube nur als Linie in Form eines Schattens sehen kann. Dies wiederrum würde zu einem Dorf passen, wie es die erste Strophe skizziert.
Nur wieso ist diese Linie ohne Luft? Luft ist doch überall, außer in einem Vakuum.
Es sei denn, der Kreis der gezogen wurde, erzeugte ein Vakuum - wie eine Kuppel- und alles in diesem Dorf ist wie in einem Vakuum. Dann ist die Linie, die die Taube wirft, halt luftleer.
Na ja bis er es eben anfängt regnen zu lassen.

Oder so.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 21:54

Ich kann mir eben unter einer luftleeren Linie nicht viel vorstellen.


Aber unter einer luftfreien Linie? ;-)

Nur wieso ist diese Linie ohne Luft? Luft ist doch überall, außer in einem Vakuum.


Eben .. in dieser Linie nicht, ich denke, daher findet der Autor ees bemerkenswert.

Ich habe mir beim Übersetzen erst die Taube "luftleer" also gewissermaßen abgeschlossen vorgestellt.
Dann aber dachte ich, dass es eine durchbrochene Linie sein soll, so wie Picasso manchmal Stierkampf zeichnet.

Ich habe auf Deine Nachfragen hin mir mal angeschaut, was die englischen und französischen Übersetzungen angeschaut. Die englische ist von einem Niederländer erstellt, der auch 'luftleer' ("void of air", wobei mir da vielleicht airless besser gefallen hätte) übersetzt, während es sich der Franzose mit 'vide' leicht macht.

Liebe Grüße
Max

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 26.02.2009, 22:10

Luftfrei klingt halt poetischer als luftleer, luftleer klingt so dröge. (letzter Rettungsversuch meines Ansinnens :- ) )

Ach so, es ist das so gemeint, daß die Taube quasi als Umriß gezeichnet ist, wird oder wirkt?

Es ist halt so, daß ich die Strophe mit der Taube als Bruch in diesem Text empfinde. Alles andere ist so schön, so fließend (oder wie ich in einem anderen Text gelernt habe: viskos) und dazwischen diese Taube und diese Linie, das ist wie ein Bruch, so hart im Gegensatz zu den anderen Passagen.
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.

(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Max

Beitragvon Max » 26.02.2009, 22:19

Ach so, es ist das so gemeint, daß die Taube quasi als Umriß gezeichnet ist, wird oder wirkt?


Ja, ich denke ..

Für den Rest kann ich nix, das ist der Vorteil bei Übersetzungen ;)

Liebe Grüße
max

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Beitragvon leonie » 26.02.2009, 23:31

Boh, ist das ein schönes Gedicht!

Warum komme ich nie auf solche Ideen...

Toller Text, Max. Danke dafür...

leonie

Max

Beitragvon Max » 27.02.2009, 09:51

Liebe Leonie,

das "wieso komme ich nie darauf" hatte ich auch, als mir der Text gestern in der Mittagspause in die Hände fiel.
Ich überlege, ob ich nicht lyrikline schreibe, ob sie nicht die Übersetzung einstellen wollen, in Englisch, Frazösisch und Baskisch (!) und natürlich Nederlands gibt es ihn da schon.

Liebe Grüße
Max

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Beitragvon leonie » 27.02.2009, 11:47

Der Text ist wunderbar! Ein in Worte gemaltes Aquarell, man seht die Pinselstriche, die der Wortmaler setzt, man ist gespannt auf den nächsten, man ist in den Entstehungsprozess einbezogen und bemerkt erst am Schluss, wie sehr dieses Kunstwerk und so auch dem betrachtenden Leser dem Künstler ausgeliefert sind.
Ja, und es ist, als dürfe man immerhin einen Moment lang die Worte lesen, die hinterher zerfließen. Und dann staunen, dass erst durch das Zerfließen das Kunstwerk vollkommen wird.
Hinter den Metaphern liegen Welten, man ahnt, fült sie und darf einen Moment darin wohnen.
Ich könnte noch Stunden weiterschreiben...

Hach, einfach zauberhaft schön! Schwärm...

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 27.02.2009, 13:10

PS: Weiß übrigens jemand (Mucki, Lisa ... ), ob das frei hand richtig geschrieben ist? Ich wollte es an Lyrikline schicken, die es autorisieren lassen wollen und das ist schöner ohne Tippfehler


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