hinter dem nebel

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
bluebird
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Beitragvon bluebird » 06.11.2009, 23:04

hinter dem nebel


im fahrtwind der jahre
welkt uns trauer

zusammen

brechen träume
entzwei

wunden uns
offen
als unbekannte

ins brückenlose
dunkelster nacht





ursprüngliche version:


hinter dem nebel


über den gleisen
im fahrtwind der stunden
welkt uns trauer
zusammen

wir brechen
an getrennten träumen
entzwei

wunden uns offen
als unbekannte

wie hände
die keine brücke fanden

versprochen
der dunkelsten nacht
Zuletzt geändert von bluebird am 12.12.2009, 23:39, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 08.11.2009, 17:27

Hallo bluebird,

ich versuche mich mal dem Text zu nähern.

über den gleisen
im fahrtwind der stunden
welkt uns trauer
zusammen


Das finde ich sehr gelungen und etwas aufspannend, sowohl auf Bildebene, als auch als Gefühl für die Situation.

wir brechen
an getrennten träumen
entzwei


Hier komme ich dann ins Grübeln. Also die Trauer hatte sie gerade für mich zusammengebracht, und nun brechen sie schon wieder auseinander. Was war dazwischen? Damit ich ein Gefühl für eine Zweisamkeit aufbauen kann, oder auch den Schmerz, brauche ich ein bisschen mehr Zeit und Geschichte.

wunden uns offen
als unbekannte


Da bin ich unsicher, es klingt toll, aber ich kann es nicht in einen Bezug setzen und verstehe vielleicht auch einfach nicht, was es sagen soll. Es handelt sich also um Unbekannte, die sich in einem Moment der Trauer begegnen, vielleicht auf einer Beerdigung? Und die ihren Schmerz offen zeigen? Oder fügen sie sich diese Wunden gegenseitig zu, bis sie ganz offen liegen?

wie hände
die keine brücke fanden


Hier kommen mir wieder die Gleise aus der ersten Strophe in den Sinn, ich sehe eine Eisenbahnbrücke vor mir... dann hätte ich aber eher Geländer erwartet? Oder meint das, dass sie sich nicht die Hand geben konnten? Aber was wäre dann die Brücke?

versprochen
der dunkelsten nacht


Und hier kann ich dann gar keinen Kontext mehr herstellen. Warum und von wem sind sie der Nacht versprochen? Sind sie nicht in ihrem Schmerz schon mittendrin? Und dann frage ich mich auch, warum sind sie „hinter dem Nebel“? Was ist da, klare Sicht?

Da das ganze unter Liebeslyrik steht, bin ich versucht, das ganze auf eine Paarbeziehung hin zu lesen. Vielleicht meint es aber auch das innere Zerbrechen und es schildert, was angesichts der Trauer mit einem passiert, man welkt zusammen, bricht entzwei (vielleicht, weil die Träume dann nicht mehr zusammenpassen), man kennt sich selbst nicht mehr... aber die Brücke, der Nebel und die Nacht kann ich dann auch nicht zueinander bringen. Du siehst, ich komme dem Gedicht nicht so ganz hinterher... Die erste Strophe für sich genommen gefällt mir aber sehr.

Vielleicht kannst du mit meinen Fragen etwas anfangen.
Mag auch sein, dass ich einfach ein Brett vor dem Kopf habe. .-)

liebe Grüße
Flora

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 09.11.2009, 09:46

Hallo bluebird,

die Erkenntnis bringende Klarheit, die hinter dem Nebel liegt, hast Du präzise und schnörkellos in Verse gefasst. Bei aller Melancholie ist Dein Gedicht doch wunderschön und klar.

Auch wenn es nicht geschrieben steht, lese ich zwischen Deinen Zeilen eine Spur von Jedem-Ende-wohnt-auch-immer-ein-neuer-Anfang-Inne. Das ist aber vielleicht nur ein Nebelfaden vor meinen Augen.

Gruß
Rosebud

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 09.11.2009, 21:36

Liebe bluebird,

ich muss auch sagen, dass sich unter dem großartigem Titel auch für mich viele Fragen auftun, für mich fehlt auf der Sprachebene einfach ein Zusammenhang, der das ganze lesbar macht. Insgesamt lese ich das Bild so, dass es um zwei Gewächse geht, die über den Gleisen einander (zugeneigt) gegenüberstehen und durch die Züge und ihren Fahrtwind verletzt, abgerissen wurden bzw es beständig werden. Einander eigentlich bekannt (zusammen gewachsen, ein Leben lang) sind sie doch durch ihre Trennung einander Unbekannte (als Unbekannte dabei eine schöne grammatische Art das zu beschreiben). ich kann dann aber dieses (obwohl es ja schon fast das ganze ist) nicht mit allen Bildern sich entfalten lassen, weil sie so verschieden sind und die Bezüge so unruhig/unherstellbar. Ich kann die Gewächse etwa nicht auf das Bild der versprochenen Nacht anwenden, weil ich bei den Gewächsen keine Emotionalität gegenüber ihr fühlen kann. "Wunden uns offen" ist für mich dann wieder sehr "menschlich" gesprochen - und wie ich dann das "Hinter" des Nebels als Auflösung anwenden kann, ist mir auch nicht klar.
Vielleicht habe ich den Text ja auch schon im Ansatz überhaupt nicht richtig verstanden, dann entschuldige ich mich für die falschen Folgerungen, aber ich kann das für mich wirklich alles nicht zusammenbringen, obwohl viele Passagen für sich genommen sehr kraftvoll auf mich wirken.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 09.11.2009, 22:21

Liebe Bluebird,

Die Worte, die schienenartig, wie Parallelen, die sich an jenem unendlichen Punkt treffen, haben stark auf mich gewirkt. Aber ich verstehe nicht. Nun will ich versuchen, die Bedeutungen abzuklopfen, vielleicht werde ich fündig ...



hinter dem nebel


wenn der Schleier fällt ... man will wissen, was sich dort auftut ....

über den gleisen
im fahrtwind der stunden
welkt uns trauer
zusammen


erst jetzt fälly mir auf, dass hier die Brücke schon auftaucht, Das Verwelken in gemeinsamer Trauer - oder die Trauer um das gemeinsame Zusammenwelken - In Fahrtrichtung = dem Ende der Reise entgegen, das Stundenglas ...


wir brechen
an getrennten träumen
entzwei


Getrennte Gleise : parallel, aber getrennt "zweigleisig"

wunden uns offen
als unbekannte

wunden uns offen
als unbekannte


das "wunden" mag ich gar nicht, das kommt mir so seltsam preziös vor (subjektiv, bitte ..)

wie hände
die keine brücke fanden


da ist die Brücke, zu der die Hände nicht fanden ... oder die Hände wussten keine Verbindung herzustellen, keine Brücke zwischen den Gleisen ...
versprochen
der dunkelsten nacht

der Liebesnacht, der Todesnacht?

Danke für diese Wortwanderung

liebe Grüße
Renée

bluebird
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Beitragvon bluebird » 15.11.2009, 12:02

Liebe Flora,

vielen Dank für dein ausführliches Befassen mit dem Text. Offenbar sind da einige Passagen etwas irreführend. Du liest es schon richtig als Paarbeziehung, doch ging es mir hier nicht um ein Zusammenführen, sondern das Bewusstwerden einer unaufhaltsamen Entfernung/Trennung, ich hoffe, so werden einige Zeilen für dich nun klarer. Ich freue mich, dass dich der Text trotz aller Unklarheiten ansprechen konnte. Danke.

Liebe Rosebud,
vielen Dank für dein Hineinfühlen in diesen Text, ich freue mich sehr, dass meine Zeilen so bei dir angekommen sind. Und ja …. jedem Ende wohnt ein Neubeginn inne und insofern müssen Dinge enden, damit Neues beginnen kann.


Liebe Renee´!

Vielen Dank fürs Lesen und Interpretieren, ja, das Ende einer Reise, allerdings liegt dann meine Intenion doch anders, ein Auseinanderbrechen, die Hände, Brücke und dunkelste Nacht stehen hier mehr als Metapher. Danke für deine Bemühungen und deine Wortwanderung.

Liebe Lisa!
Vielen Dank für deine ausführliche Antwort, es ist wohl meine Art so zu schreiben, dass mich selten jemand versteht, also bitte entschuldige dich nicht. Ich freue mich immer über Kommentare und du liegst in vielem ja eigentlich gar nicht abwegig. Man sollte Gedichte ja nicht erklären. nur soviel: die Auflösung des Nebels bringt Klarheit, auch wenn sie in diesem Fall schmerzlich (dunkel) ist. Vielleicht kann sich doch noch das eine oder andere Bild entfalten.

Herzlichen Dank allen fürs Lesen und Eure Worte!!

mit lieben grüssen
bluebird

Max

Beitragvon Max » 16.11.2009, 12:02

Liebe Bluebird,

ein Text, der bei mir ambivalente Gefühle hinterlässt, ein Text, den ich als Echo einer Unerfüllte Liebe lese.
Dabei mag ich ihn passagenweise sehr gerne: Einzelne Sätze, die Überschrift beispielsweise finde ich stark. Was mich ein wenig stört, ist weniger die Abgeschlossenheit des Textes, der mir vielleicht in erster Linie für die Autorin geschrieben scheint (was aber nicht schlimm ist, sondern nur eine Art zu sagen, dass der Text sehr bei Dir ist, oder einem Adressaten, den wir nicht kennen) als, dass er wenig konsistent ist in den Bildern. Wir bekommen in Strophe 1 Fahrtwind und Gleise zu lesen, also einen Zug, der aber später nie wieder auftaucht, später ist von Träumen die Rede, von Brücken, von Nacht. All das wird als Metapher herangezogen, kurz beleuchtet und weicht dannn der nächsten ... vielleicht würde das Gedicht noch kräftiger werden und eher Linien aufzeigen können als "nur" Bilder, wenn Du bei einer Metapher bliebest und versuchen würdest, aus dieer heraus einen Gedanken zu entwickeln ... Nur als ein gedanke ;-)

Liebe Grüße
Max

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 16.11.2009, 17:23

Hallo Bluebird,

ich komme immer wieder und lese dein Gedicht. Das ist bei mir sehr ungewöhnlich.

Und obwohl mir "wunden uns offen" und "welkt uns trauer" zunächst gewöhnungsbedürftig erscheinen,

erlese ich mir damit eine Tiefenschicht.
Das Gedicht hat etwas Rohes (roh im Sinne von drastischem Darstellen der Verletzlichkeit und Ungeschütztheit), durch seine eigenwillige Ausdrucksweise und es fasziniert mich,

Viele Grüße
Fux

bluebird
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Registriert: 19.02.2009

Beitragvon bluebird » 17.11.2009, 09:43

Lieber Max,

vielen Dank für deine Worte, ich kann deine Kritik gut nachvollziehen. Dein Gedanke ist ein sehr gute Anregung, ich werde mal versuchen, in anderer Form mich dem Thema zu nähern. Dankeschön fürs Lesen und deinen Rat!!

liebe grüsse
bluebird


Lieber Fux,

herzlichen Dank für dein mehrmaliges Lesen, Hineinfühlen und Spüren des Textes, das freut mich wirklich sehr!! Danke für dieses große Kompliment!

liebe grüsse
bluebird

bluebird
Beiträge: 23
Registriert: 19.02.2009

Beitragvon bluebird » 12.12.2009, 23:46

Hallo!

habe den text nun überarbeitet, gekürzt und eine neue version eingestellt.

vielen dank nochmals an alle für beiträge und anregungen!

liebe grüsse
von bluebird

Max

Beitragvon Max » 13.12.2009, 11:43

Liebe Bird (sprich: Bert, wenn ich Dich einfach mal mit Nachnamen ansprechen darf ;-) ),

die zweite, gekürzte Fassung finde ich deutlich besser. es gibt nur noch eine Stelle, an der ich ein wenig hänge. Bei

wunden uns
offen
als unbekannte


kann ich noch nicht einmal feststellen, ob es sich bei "wunden" um ein Substantiv handelt (in diesem Fall verstünde ich vermutlich nicht ganz, warum die Wunden uns offen sind als Unbekannte, umgekehrt ergäbe es für mich mehr Sinn - aber das ist eine ganz private Meinung ;-) ) oder um ein von Dir geschaffenes Verb, was meinem Gefühl eher entspräche, nur wäre es dann wohl 3. Pers. Plural und mir fehlt das Subjekt des Satzes :-) (dabei habe ich mir angemaßt zu wissen, wie sich ein von Dir geschaffenes Verb konjugiert :-), das könnte natürlich auch ganz anders sein).

Aber wie gesagt, mir gefällt das schon sehr gut.

Liebe Grüße
Max

Herby

Beitragvon Herby » 13.12.2009, 11:56

Hai Mäx,

könnte es nicht sein, dass das Subjekt, welches du vermisst, die "träume" sind? Also etwa: träume brechen entzwei, die uns wunden...
Ich kann dieses Wort nur als Verb lesen, ansonsten würde es für mich keinen Sinn ergeben.

Sonntagsgrüße
Herby

Max

Beitragvon Max » 13.12.2009, 11:59

Forelle Herby (noch ein Bert hier),

stimmt. Irgendwie war ich mit meiner Suche wohl in Strophe 1 stecken geblieben.

Adventlichen Dank,

Mäx

Herby

Beitragvon Herby » 13.12.2009, 12:05

o.T.: (FORELLE?????? Wenn ich an mir runter schaue, ja wohl eher Karpfen... :blink2: )


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