begegnung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
eve
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Beitragvon eve » 31.01.2010, 08:18

blasses blütenblatt
dies gesicht in der menge
für immer vorbei

DonKju

Beitragvon DonKju » 31.01.2010, 08:53

Hallo eve,

es freut mich ja, daß auch andere sich an Haiku/Senryu versuchen, wobei ich Dein Textlein eher zur letzteren Kategorie zählen würde. Einen kleinen Vorschlag hätte ich für den Anfang der zweiten Zeile. Hier könnte ich mir entweder etwas distanzierter

"...
ein gesicht in der menge
..."

oder im Gegenteil noch persönlicher

"...
dein gesicht in der menge
..."

vorstellen, je nachdem, ob Du eher es unbestimmt oder bestimmt halten möchtest. Meine erste Assoziation zu Deinem Text war übrigens dieser Text von Ezra Pound:

http://en.wikipedia.org/wiki/In_a_Station_of_the_Metro

Mit lieben Sonntagsgrüßen der Hannes

eve
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Beitragvon eve » 31.01.2010, 11:15

oh, da scheine ich mich ja in interessanter gesellschaft zu befinden! tatsächlich schwebte mir genau so etwas vor - eine flüchtige begegnung auf einem bahnhof, einer u-bahnstation, einem kaufhaus vielleicht. etwas, wo man vielleicht auf einer rolltreppe aneinander vorbeigleitet.
das "dies" habe ich schon bewusst ausgewählt. es ist eben nicht "dein", weil man sich ja nicht kennt. es ist auch nicht "ein", weil es im augenblick der begegnung einzigartig und besonders und irgendwie bedeutungsvoll erscheint. etwas, was sein könnte, wenn nicht...

danke für deinen kommentar!
eve

Max

Beitragvon Max » 01.02.2010, 19:53

Liebe Eve,

vieeles haikus und senryus auf Deutsch scheinen mir künstlich, so, dass man ihnen anmerkt, dass zuerst die Form da war und dann ein Inhalt dazugekommen. Das ist hier anders, die Form scheint mir in ihrer Zartheit sehr gut zu einer flüchtigen Begegnung zu passen.

Gern gelesen,
liebe Grüße
Max

eve
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Beitragvon eve » 02.02.2010, 13:54

danke dir - freut mich, dass du das so siehst!

eve

aram
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Beitragvon aram » 02.02.2010, 19:53

liebe eve,

der text spricht mich an,
wobei ich 1. und 3. vers jedoch nicht ganz in einklang bringen kann - für mein empfinden 'beißen' sich die.

will ich den text als beschreibend/interpretationsfrei lesen, passt der schlussvers nicht rein - darin findet sich nicht beobachtung/schilderung, sondern gedankengang, konstrukt, wertung - eine nicht-ableitbare, nicht aus dem beobachteten begründbare erwartungshaltung, die aus der gedankenwelt des beobachters dazutretend die ebene des erlebens verlässt.

im 'fernöstlichen sinne' wäre der text bereits so vollständig:

blasses blütenblatt
dies gesicht in der menge


& dies empfinde ich als wohl gelungen - die gestrichene zeile ist als möglicher anklang über "in der menge" ausgedrückt - denn im grunde geht es ja um die empfindung und nicht um die erwartungshaltung: letztere ("für immer vorbei") versucht erstere nur auszudrücken: eine leise, flüchtige wehmut - das gelingt ihr jedoch nicht, da sie ins gedankenspiel, in eine 'negative erwartung' polaren denkens abrutscht; und darin eine ziemlich 'westliche art zu denken' vorführt.

- andererseits funktionierte der text m.e. auch rein 'westlich', dann über die letzten beiden zeilen:

dies gesicht in der menge
für immer vorbei


- dies entspricht eher einer tradition von 'gedanken-dramatischer' emotionalität unseres kulturkreises.

beides zusammen ergibt in diesem fall nach meinem gefühl keine harmonische verbindung.

(mein favorit wäre natürlich die erste variante - sehr fein, klar, zart und mehrschichtig.)

liebe grüße - gern gelesen.


ps. das "dies" finde ich genau richtig, und lese es auch so wie du.

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.02.2010, 22:26

Liebe eve,

mir gefällt Dein Kleines auch. Es entsteht ein Bild. Es kann sogar eine ganze Geschichte werden.
Ich könnte auf die letzte Zeile verzichten. Das "blass" kann sich für mich nicht nur auf das Gesicht beziehen, sondern auch auf das, was dann geschieht: Das Verblassen der Erinnerung. Insofern ist die letzte zeile für mich im Bild schon enthalten.

Liebe Grüße, bin gespannt auf mehr von Dir

leonie

eve
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Beitragvon eve » 04.02.2010, 07:17

danke aram, danke leonie für euer lob.

wenn ich die letzte zeile weglasse, ist es allerdings kein haiku mehr?

eve

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.02.2010, 11:18

Hallo eve,

arams Kommentar trifft es für mich sehr gut, ich würde auch die letzte Zeile überdenken. Für mich passt sie auch auf bildlicher Ebene nicht, denn das Blütenblatt/Gesicht ist ja nicht "vorbei" und für eine Begegnung finde ich "für immer" dann auch ein bisschen dramatisch, schräg, weil sich das ja nicht auf den Moment, sondern das Gesicht bezieht?
Ich kenne mich mit Haikus nicht so aus, aber sie haben eigentlich keine Titel, oder? "Begegnung" ist für mich nämlich dann auch schon Interpretation.
Ich sehe erst einmal das Blütenblatt in einem Meer von Blüten an einem Kirschbaum. Das Zwischenmenschliche kommt für mich erst auf der übertragenen Ebene, als möglich Leseweise dazu.

Wenn dir die Haiku-Form wichtig ist, könntest du versuchen im Naturbetrachtungsbild zu bleiben, zum Beispiel über "ein Blinzeln" dieses Anschauen mithineinnehmen, was dann auch den zeitlichen Aspekt aufnehmen und das Wertende etwas rausnehmen würde.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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leonie
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Beitragvon leonie » 04.02.2010, 11:31

Liebe eve,

gerade als ich Floras Kommentar lese, denke ich, im Grunde ist doch auch die Übertragung "Blütenblatt - Gesicht" eine Art Interpretation.
Ich glaube, ich würde versuchen, mich an dieser Stelle von der Form des Haikus zu lösen und etwas Eigenständiges zu machen. Und die dritte Zeile weglassen (aber das sagte ich ja schon...)

Liebe Grüße

leonie

aram
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Beitragvon aram » 04.02.2010, 13:08

die auseinandersetzung mit diesem text berührt ein für mich sehr interessantes thema - dazu folgender wikipedia-auszug zu 'haiku', bzw. der sicht von roland barthes (das von mir hervorgehobene stimmt mit meinem empfinden zu poetischer sprache auch allgemeiner überein, und drückt es gut aus)

Roland Barthes unterscheidet die unterschiedlichen Möglichkeiten des Haikulesens. Eine westliche Lesart des Haiku, die es symbolisch interpretiert und dabei einen zum Metaphysischen tendierenden Sinn unterstellt, hält er für unangemessen eurozentristisch. Eine solche Leseweise widerspricht der Intention des Haiku, das dagegen „Wort und Ding in eins fallen“ lässt.[8] Barthes vergleicht das Haiku mit dem satori des Zen-Buddhismus und sieht eine wesentliche Analogie darin, eine Wahrheit lediglich aufblitzen[9] zu lassen:

„Der Westen tränkt alle Dinge mit Sinn … wir unterwerfen die Äußerungen systematisch (durch hastiges Zustopfen der Lücken, in denen die Leere unserer Sprache sichtbar werden könnte) der einen oder anderen dieser beiden Signifikationen (d.h. aktiven Herstellung von Zeichen): Symbol und Schluss, Metapher und Syllogismus. Der Haiku, dessen Sätze einfach und flüssig sind – mit einem Wort, akzeptabel (wie man in der Linguistik sagt) –, wird einem dieser beiden Reiche des Sinns zugeordnet.“

– Roland Barthes: Der Einbruch des Sinns. In: Roland Barthes: Das Reich der Zeichen. Frankfurt a.M., 1981. Seite 65, 96

Entgegen den Interpretationsversuchen westlicher Art, „ob Dechiffrierung, Formalisierung oder Tautologie … die bei uns dazu bestimmt sind, den Sinn zu durchdringen, d.h. in ihn einzubrechen“, könnten das „Haiku mithin nur verfehlen, denn die Lesearbeit, die mit ihm verbunden ist, liegt darin, die Sprache in der Schwebe zu halten, und nicht darin, sie zu provozieren.“ Dagegen gehe es vielmehr darum, den Sinn „zu erschüttern und ausfallen zu lassen wie den Zahn des Absurditätenbeißers, welcher der Zen-Schüler angesichts eines Koan sein soll.“[10]

Die Charakterisierung von Barthes bezieht sich allerdings allenfalls auf eine von vielen Strömungen innerhalb der Haiku-Dichtung.

Louisa

Beitragvon Louisa » 07.02.2010, 16:38

Hallo Eve,

nicht nur wegen der Haiku-Tradition, aber auch wegen der Schönheit der Deutungs-Bandbreite deines feinen Textes würde ich auch dazu raten es ohne der dritten Zeile zu verfassen... Das ist wirklich, wirklich, wirklich (!) besser ;-)

Schönes Wochenende!
l

PS: Denn die ersten zwei Zeilen gefallen mir sehr gut so.

Lydie

Beitragvon Lydie » 01.03.2010, 09:31

Liebe Eve,

Ich durchforste gerade den Salon, um zu sehen, an wen ich die Februarstimme abgeben möchte, und stoße hier auf dein Gedicht. Sehr schön finde ich es. Wirklich sehr schön.

Liebe Grüße,

Lydie

eve
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Beitragvon eve » 21.03.2010, 07:07

Liebe Lydie!

Fast hätte ich deinen Kommentar übersehen, erst jetzt gerade beim sonntäglichen Stöbern darübergestolpert!
Ich danke dir sehr herzlich dafür!

Eve


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