Feierabend

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Quoth
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Beitragvon Quoth » 16.04.2010, 10:22

Feierabend

Wieviel satter das Rot
des Sonnenuntergangs,
wenn der Magen nicht murrt,

wieviel voller erstrahlt
das orangene Rund,
wenn das Konto nicht klafft!

Wie behaglich der Blick
von kühler Ruhebank,
wenn warm die Wohnung wartet,

wie heiter und hübsch, ja,
wohllautend die Wortwahl,
wenn die Liebste wohlgelaunt lacht!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.04.2010, 14:26

Lieber Quoth,

bis zum Ende habe ich bei diesem Text die ironische Wende erwartet - insbesondere weil die kleinen Glücksmoente, die hier geschildert werden, unter dem Titel "Feierabend" laufen - aber irgendwie ist der Text für mich nur unmittelbar gegeben lesbar, soll heißen: ich fasse die Aussagen als direkt formuliert auf: der Text möchte also tatsächlich sagen, dass die Sonne schöner erscheint, wenn man keine Geldsorgen hat.

Und das stimmt ja (leider?) sogar. Aber gerade deswegen verlangt mir nach irgendeiner Metaebene, auf der ausgehandelt wird, dass dies eben die Realität ist und dass das Glück doch sehr eingeengt und mechanisch klingt.
ich will damit nicht sagen, dass der Text sich nicht der Einfachheit zuwenden soll (denn viele Texte kranken ja auch am Gegenteil, da werden Elegien verfasst, dessen Menschen und Handlungen nicht mehr verbunden sind mit irgendetwas, aber dieser Text spricht für mich auf eine unangenehme Weise so von den Zuständen, die er beschreibt, als wären diese frei, unschuldig und unproblematisch - für mich fühlen die sich aber anders an. Und ich kann sprachlich und stilistisch weder in Übertreibung noch in extremer Zurückhaltung erkennen, dass das anders gemeint sein könnte (soll es ja vielleicht auch gar nicht, aber dann sagt es mir nicht zu).

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 17.04.2010, 08:03

Liebe Lisa,
der Text entstand, als ich das Unterforum "Lyrik - der Blick aus dem Fenster - Lyrik und Kultur" entdeckte, das sich mit den Worten definiert: "Lyrik mit anthropologischem Blickwinkel. Politische, kritische Lyrik. Mit Fokus auf die Gesellschaft, menschliches Verhalten und Handlungsmuster". So eine Zielsetzung hatte ich noch nirgends gefunden! Endlich einmal ein Ort, an dem man die Voraussetzungen von Lyrik reflektieren kann, die fast immer ausgeklammert, verdrängt, verschwiegen werden. Wie, wann und warum entsteht Lyrik? Darüber habe ich hier nachzudenken versucht, und bin zu einem sicherlich nicht abschließenden Ergebnis für einen bestimmten Typ von Lyrik gekommen, der die Schönheit von Welt und Natur im Spiegel des Ich feiert: Sie setzt einen sozial, wirtschaftlich und psychisch abgesicherten Beobachterstandpunkt voraus. Aus Not, Angst und Zerrissenheit lässt dieser Typ von Lyrik sich nicht schaffen, und selbst aggressiv gesellschaftskritische Lyrik bedarf eines Minimums an physischer Gesättigtheit und äußerer Ruhe, damit sie entstehen kann. Sie bedarf auch als Minimum eines Bleistifts und eines Fetzens Papier oder einer Zellenwand, in die man mit dem Löffelstiel kratzen kann. Dass solches Nachdenken von Lyrik über sich selbst nicht unbedingt allen gefällt, nahm ich in Kauf und fühle mich durch Deinen Widerspruch belohnt.
Mit herzlichem Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 17.04.2010, 08:33

Lieber Quoth,

Bei deinem Gedicht entstehen bei mir gemischte Gefühle, begonnen beim Titel. Ironie? Ja, denke ich doch, obwohl ich deinen Kommentar zu Lisa vielleicht dann nicht richtig verstehe.
Vielleicht ist es so ein Zipfelchen Hinweis, das auch mir fehlt.

Wenn dir das aber zu viel erscheint, dann setzt sich bei mir immer mehr das Bild einer Jeff Koons Skulptur im Spiegelsaal von Versailles durch: eine Provokation, aber auch Selbstgefälligkeit. Wohlgemerkt, nicht der Autor, aber das lyr.Ich wäre dann so behäbig narzisstisch.



Am Gedicht selbst machen mich die Verben nachdenklich: ich finde sie gleichzeitig passend und unpassend. Ich kann mich nicht entscheiden.

Aber eine Wirkung hat es, dein Werk!

liebe Grüße

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.04.2010, 09:14

Lieber Quoth,

deine Überlegungen in deiner Antwort finde ich äußerst interessant und genau solch eine eingenommen Perspektive fände ich wirklich im positivsten Sinne wertvoll. Das Problem ist nur, dass ich bisher eben nicht diese Perspektive in deinem Gedicht sehe, sondern eine völlig unreflektierte Wohligkeit des lyr. Ich in der Situation, weißt du, was ich meine? Vielleicht musst du auch nicht an diesem einzelnen Text etwas ändern, sondern schreibst eine Reihe zu dem, was du in eben schriebst - Reihen können oft dann den Reflexionsschritt, die Beobachterposition deutlich machen und so zeigen, dass etwas problematisiert und nicht nur dargestellt wird (?).

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
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Shareena

Beitragvon Shareena » 17.04.2010, 11:30

Hallo Quoth,
als erstes ein herzliches Willkommen auch von mir.
Als ich dein Gedicht das erste Mal las, dachte ich nur: schade für das lyr. Ich, es wird sich nicht weiter entwickeln.
Wenn man sich in einer solchen, von dir in diesem Gedicht beschriebenen, Gemütlichkeit einrichtet, wird man träge und wird nach und nach das Angenehme der Situation und die Schönheit nicht mehr zu würdigen wissen. Sicher braucht es ein gewisses Maß an Sicherheit, um sich der Schönheit widmen zu können, doch auch ein Stück Unsicherheit, Hässlichkeit und Unannehmlichkeit.
Wenn man Glück richtig fühlen will, muss man Unglück kennen. Sonst ist eben "Feierabend". Insofern habe ich wie Renée das Gefühl, der Titel könnte ironisch gemeint sein.
Wobei wir natürlcih komplett falsch liegen können.
liebe Grüße
Shareena

Max

Beitragvon Max » 17.04.2010, 17:01

Lieber Quoth,

dieser Text erinnert mich an ein Interview mit Bertrand Russell, das ich mal gelesen habe, als ich noch jung und Bertrand Russell noch am Leben war ;-) - naja nicht ganz ;-) . Dort sagt er so etwas ähnliches, wie, dass Glück im wesentlichen von einem Minimum an Wohlstand, sozialen Kontakten und dem eigenen Schaffen abhängt. Dein Text scheint mit eine gute Illusstration dieses Ausspreuches (den ich gleich mal suchen werden) - allerdings ist das Gedicht auch nicht so viel mehr für mich: Er malt dieses Bild aus, er entwickelt den Gedanken nicht weiter, was für mich auch innerhalb des Gedichts sichtbar wird: Für mich bleiben die Strophen Variationen einer Melodie und ich frage mich, ob es nicht mehr Aspekte gibt, die aufzuzeigen wären.

Liebe Grüße
Max

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 17.04.2010, 23:40

Lieber Quoth,

sattes Rot
behaglich
heiter, hübsch
wohllautend

... sind das für dich wirklich Attribute eines guten Kunstwerkes?

Carl Spitzweg, dessen eigene Bilder oft eben dies Behaglichkeit vermitteln, war mit seinem Poeten in der Dachkammer da anderer Ansicht. Und Robert Gernhardt meint dazu (wobei hier die Ironie deutlich spürbar ist):

Abends zählt er seine Leiden,
tut sich an dem Vorrat weiden,
wählt eins aus, bedichtet es,
und das Dichten richtet es.

Morgens aber fleht er wieder:
Schicksalshammer, sause nieder!
...

aus: Der Dichter (Robert Gernhardt)

Ich glaube, dass sich Wohlstand/Wohlbefinden und Kunst überhaupt nicht so einfach in Relation setzen lassen - weder so, wie in deinen Aphorismen ausgedrückt, noch im Gernhardtschen Sinne.

Deine Intention, diesen Aspekt überhaupt einmal zum Inhalt eines Textes zu machen, ist allerdings wirklich interessant, wie die beginnende Diskussion bereits zeigt.

Liebe Grüße
fenestra

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.04.2010, 09:39

Spiegelsaal von Versailles, Renée - vielleicht, wenn Du ihn das nächste Mal besuchst, nimmst Du mein Textchen mit und klebst es mit einem Stück Tesafilm unauffällig unter ein Sims! Jeff Koons, nicht übel, aber fenestras Spitzweg sagt mir eher zu. Wobei sein "Armer Poet" auch als Hohelied auf die Geborgenheit gelesen werden kann, die mein Text ins Visier nimmt. Die Armut freilich halte ich für ideologisch. Das Bild ist gerade so beliebt, weil es in diesem Punkt so verlogen ist, denn hier wird nicht der Poet verklärt, sondern die Armut. Neulich durchstöberte ich
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Dichterjuristen
und war doch erschüttert: Was für erlauchte Namen mit Festgehalt und Pensionsberechtigung! Wir wissen alle, dass von Lyrik nur die wenigsten leben können, von daher ist es völlig begreiflich und vernünftig, dass ein Adept dieser Kunst sich ein einträgliches Amt sucht, gerade um frei zu sein und nicht nach dem Markterfolg haschen zu müssen. Aber ist es nicht oft umgekehrt: Dass Richter, Anwälte, Notare, Diplomaten aus ihrer wirtschaftlichen Absicherung heraus die poetische Ader entwickeln? Alles nur Fragen, die aber einmal gestellt werden dürfen, und ich bin weit davon entfernt, Beamten das Recht aufs Dichten absprechen zu wollen - aber was dabei herauskommt, habe ich in anderen Foren schon belachen dürfen!
Shareena, allein Dein Beitrag war es wert, dass ich den provozierenden Text einstellte! Ich stecke ihn mir hinter den Spiegel, dass er mich vorm Biedermeierteufelchen bewahre!
Spitzwegs "Rast auf dem Weinberg" passt besser zu dem Text, ich würde es einstellen, kenne mich aber mit Bildzitaten noch nicht so aus.
Lisa, wenn mir wieder was zum Thema einfällt, werde ich nicht zögern, Deiner Aufforderung zu folgen! Ich würde gern auch mal was über die Poesie der "ächzenden Beziehungskiste" schreiben!
Max, das Zitat von Russell wäre echt bereichernd!
Dank an alle für nachsichtsvolle Aufnahme!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Max

Beitragvon Max » 18.04.2010, 22:32

Quoth hat geschrieben:Max, das Zitat von Russell wäre echt bereichernd!


Ja, ich habe einen Link gefunden, in dem das Interview (wenn es das ist) gesprochen ist .. nur muss ich mir dann halt die 2 Stunden mal anhören .... das Buch habe ich vor 25 Jahren aus meiner damaligen Stadtbibliothek entliehen.

Liebe Grüße
Max

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Beitragvon leonie » 18.04.2010, 22:59

Quoth hat geschrieben:und ich bin weit davon entfernt, Beamten das Recht aufs Dichten absprechen zu wollen - aber was dabei herauskommt, habe ich in anderen Foren schon belachen dürfen!


Das sind ja wirklich interessante Zusammenhänge, die Du da herstellst.

Heißt das im Umkehrschluss auch, dass, sobald ein richtig guter Künstler mit seiner Kunst die erste Million gemacht hat (das soll es ja geben!), er tunlichst seine Kunst aufgeben sollte, da sowieso nichts Gutes mehr dabei herauskommen kann, weil er die Schäfchen jetzt ja im Trocknen hat?

Mich hat das ehrlich gesagt, jetzt gerade etwas belustigt.

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon Ylvi » 19.04.2010, 10:36

Hallo Quoth,

ich habe diese kleine Diskussion verfolgt und staune gerade ein wenig, vielleicht entgehen mir aber auch mal wieder die ironische Seiten.
Alles nur Fragen, die aber einmal gestellt werden dürfen, und ich bin weit davon entfernt, Beamten das Recht aufs Dichten absprechen zu wollen - aber was dabei herauskommt, habe ich in anderen Foren schon belachen dürfen!
Also da muss ich dann lachen, da geht es mir wohl ähnlich, wie Leonie. Zumal ich mit dem "belachen" von Texten sowieso wenig anfangen kann, da sind mir konstruktive Kommentare lieber. .-)
Shareena, allein Dein Beitrag war es wert, dass ich den provozierenden Text einstellte!
Also auf mich wirkte dein Text nicht provozierend. Eine Reibung entsteht erst durch den Leser, oder eben auch nicht. Der Text selbst leistet da für mich wenig. Hinzu kommt, dass er für mich weder sprachlich, noch bildlich etwas Neues, Anregendes, Aufwühlendes oder Inspirierendes enthält, und es vermutlich daher auch erst gar nicht zu einer näheren Auseinandersetzung mit ihm kommen würde. Die Frage wäre dann wohl, ob es dem Text ohne deinen Kommentar gelingen könnte, sein Anliegen überhaupt sichtbar werden zu lassen. Und ob der Text mehr sein kann, will, als ein Aufhänger für eine Diskussion.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.04.2010, 13:10

An Leonie: O ja, Erfolg, materieller Erfolg hat schon viele Künstler künstlerisch ruiniert, schau dir Dali an, umgekehrt, schau Dir Rembrandt und van Gogh an, wie sie an ihrem Misserfolg wuchsen! Aber es ist so, wie fenestra sagte: Es lassen sich keine festen, regelhaften Zusammenhänge herstellen, Kreativität ist ein scheuer Gast, der kommt, wann er will. Dass äußere Bedingungen mitspielen, dürfte kaum zu leugnen sein. Welcher allein erziehende Vater vermag dem Druck, unter dem er steht, noch kreative Momente abzupressen? Oder stelle Dir einen Saturierten und einen Hungrigen vor, die dasselbe Objekt inspiriert - wie unterschiedlich werden die Texte ausfallen! Muße ist ein Zentralbegriff für künstlerische Tätigkeit, und Muße setzt immer finanzielle Absicherung voraus. Kierkegaard wäre nicht Kiekegaard geworden, hätte sein Vater ihm nicht ein existenzsicherndes Erbe vermacht, Poe umgekehrt wäre nicht Poe geworden, hätte sein Ziehvater ihn mit dem Erbe ausgestattet, das er sich erhofft hatte.
An Flora: Zur Provokation gehören immer zwei, Shareena hat sich zu ihrer wunderbaren Entgegnung provozieren lassen, Du lässt Dich nicht provozieren. auch gut. Ich habe den Text absichtlich in ein Unterforum gestellt, in dem das Inhaltliche und nicht das Formale im Vordergrund steht. Ein schlechter Text, der diskutiert wird, ist, meine ich, in einem Forum mehr wert als ein guter, der langweilt. Und was die konstruktive Kritik betrifft: Was ist das? Mir hat destruktive oft mehr geholfen als die Streicheleinheiten vermeintlicher Freunde.
Gruß und Dank an alle - bin weg nach Dänemark.
An Max: Vielleicht magst Du den Link posten. Für Russell hätte ich zwei Stunden über!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Beitragvon leonie » 19.04.2010, 13:18

Ich finde die Fragestellung spannend und kann Dir in vielem zustimmen. Dazu kommt für mich aber auch die Liebe zu etwas, in der Poesie zur Sprache, die Lust an der Kreativität, die Bereitschaft sich auseinanderzusetzen und oft auch so ein inneres "Muss". Ich glaube, ein Künstler kann ja oft gar nicht anders, als das zu sein, was er ist.
Die äußeren Bedingungen können ihn da sicherlich hindern oder fördern und natürlich findet das, was in und um ihn herum geschieht, immer auch seinen Ausdruck in dem, was er erschafft.
Ein spannendes Feld...

Liebe Grüße

leonie


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