rückfahrt mit der U79

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 25.06.2010, 10:34

rückfahrt mit der U79

für dieter († 26.06.2010)




letzte fahrt:

st. raphael



"nächster halt:

neuer friedhof"









st. raphael = malteser-hospiz
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 26.06.2010, 15:31

Lieber Niko,

ich beziehe mich auch gar nicht auf eine reale Situation, von einer fikiven Schilderung würde ich ja im Idealfall ebenfalls erwarten, dass sie mit der gleichen Intensität geschrieben ist - ich verteidige den Text als Text, und versuche ihm als solchem gerecht zu werden, alles andere müsste wirklich woanders stehen.

Liebe Grüße
Max

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leonie
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Beitragvon leonie » 26.06.2010, 16:10

Mir ging es auch darum, den Text als Text ernst zu nehmen. Und da empfinde ich es halt als Schwäche, dass das Bild darinrelativ "gängig" ist und der Text sich inhaltlich im Wesentlichen durch die Widmung und die Fußnote vermittelt.

Liebe Grüße

leonie

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 26.06.2010, 18:04

ich wollte noch anmerken, dass es meiner meinung nach der fußnote nicht bedarf.

"st raphael" kann ich als leserin entschlüsseln. vielleicht nicht in der art, dass ich an ein hospiz denke, aber zumindest der begriff KLINIK stellt sich schon ein.

a.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 26.06.2010, 19:34

Hallo,

ich denke, die Diskussion hat die Tiefen und Probleme von Trauer, Text & Trauertexten angerissen - ich kann mir vorstellen, dass die Lücke, die sich auftut, mit der Zeit in allerleiraus Sinne (die Worte kommen wieder) ausgefüllt wird und wieder für mehr Menschen lesbar wird. Der Text in seiner jetzigen Art, in diesem Moment zeigt eigentlich sehr gut , was er zeigen möchte, jetzt ist es genau so leer zwischendrin - allerdings zeigt er dies wahrscheinlich nur einem Leser, der nahezu im selben Zustand wie das lyr. Ich ist. Ich finde das als Dokument (und über diesen Begriff bekäme der Text für in einem größerem Rahmen, etwa einer Reihe etc. ganzheitlichen Textcharakter) sehr wichtig und nahegehend.

Zur Fußnote: Ich würde sie insofern nicht missen wollen, als ich die Gefahr sehe, dass man den Text ohne persönlichen Rahmen (Tom hier bekannt etc.) vielleicht sonst so interpretieren würde, dass St. ein Altersheim ist und man den Text dann sehr moralisch intendiert lesen könnte (abgeschoben --> Tod).

Tom, alles andere an anderer Stelle.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Max

Beitragvon Max » 26.06.2010, 20:21

Ich stimme Lisas note zur Fußnote zu :-)

Liebe grüße
Mäx

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 27.06.2010, 11:58

Hallo Ihr Lieben,

danke für Eure einfühlsamen Kommentare. Ich möchte aber in der Tat diesen Text nicht als Traueranzeige verstanden wissen. Seit die finale Krebs-Diagnose bei meinem Vater feststand, habe ich immer wieder versucht, mich diesem Thema literarisch zu nähern, und je mehr es dem Ende zuging, desto weniger kamen die Worte. Diese innere Leere kann ich nur durch einen leeren Text widerspiegeln; er kam ganz von selbst, ohne von mir bemüht worden zu sein. Und der ganze Pathos, der den Tod umgibt, zerfällt durch das Begleiten des monatelangen Vorgang des Vergehens und Zerfallens eines geliebten Menschen zu Staub, und wenn man aus dem Sterbezimmer wieder an die Sonne kommt, überall Fußballwimpel wehen, sich der Verkehr auf der A59 staut und Hunde in Nachbargärten kläffen, dann ist man wieder Teil des Profanen, des Alltags, und das ist gut so.

Der Text entstand auf der Rückfahrt vom Hospiz, nachdem ich meinen Vater dorthin im Krankenwagen begleitet hatte, als die Straßenbahnstimme 'Neuer Friedhof' ankündigte. Eine eher zufällige Folgerichtigkeit auf meinem Gefühlsweg, und ein Augenöffnen, ein Sich-Abfinden. Bis dahin nur eine Skizze, aber für mich ist der Text jetzt durch die Widmung und die Fußnote vollständig. Jedes weitere Wort zuviel.

Vorgestern Nacht ist mein Vater dann verstorben, und je mehr ich mir hier beim Versuch einen abbreche, das Geschriebene oder den Inhalt zu erklären, umso richtiger und treffender erscheint es mir, dass der Text darauf verzichtet. An Euren Reaktionen kann ich gut ersehen, dass sich trotzdem eine Menge transportiert, ohne, dass es eindeutig sein muss, und dass die weißen Stellen im Text wichtig sind.
.

Ich bitte darum, von Beileidsbekundungen abzusehen, und die Kommentare auf das Textliche zu beschränken. Mir geht es gut, es ist auch ganz viel Erlösung und Befreiung dabei (für meinen Paps und mich), und wenn hier alles abgewickelt ist, fahre ich ans Meer. Und Dieter fährt mit. Alles wird gut.

Tom.
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Klara
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Beitragvon Klara » 29.06.2010, 23:19

Hallo Tom,
ein interessanter Text...

am spannendsten finde ich darin: das wort "rückfahrt" im Titel - und die Kleinschreibung sogar des Namens in der Widmung.

Die "Erläuterung" für St Raphael bräuchte es, glaube ich nicht, aber vielleicht irre ich, weil ich ja dadurch jetzt weiß, was ich nicht wüsste ohne. (Beim ersten Lesen, noch bevor ich die Fußnote erreichte, habe ich, wenn ich mich richtig erinnere, an ein Krankenhaus gedacht oder ein Altenheim. Klar war jedenfalls, dass es sich um Ansagen in Straßenbahnen oder U-Bahnen oder Bussen handelt - dieses Nüchterne, egal, ob jemand geboren wird oder stirbt, die Ansage bleibt, automatisch oder vom lebendigen Fahrer gesprochen, jedenfalls unberührt von all dem Individualschmerz- und glück der Gefahrenen, der - ihrerseits - Transportierten).

Ich finde den Text toll.
Grund 1: Er lässt mich in Ruhe, buhlt nicht um Mitgefühl und mildernde Umstände, weil Todesfall etc. (diese Befürchtung hatte ich zunächst, dass ein Tabu drüber liegt, über dem Sprechen vom Text, weil direkt erlebt, das Datum und so, hab mich deshalb nicht getraut, mich zu äußern, mir gleichzeitig selbst gesagt, sei doch nicht so skrupulös, Klara, wenn er das in ein Textforum einstellt, ist es keine Bitte um Beileid, sondern ein - Text, naja, sagte dann die andere Stimme, du weißt doch, das mit der Konsequenz und so geht meistens schief, und dann kommst du wieder grob rüber, Klara, stößt die Leute völlig ungewollt vor den Kopf, hab also den Mund gehalten, den Schreibmund, und dann gelesen, Tom, dass du kein Beileid willst, sondern Textkritik, oder Reaktion auf Text, da dachte ich: okay, kannste haben.)
Grund 2: Er macht dieses ganze Todes-Pathos nicht mit, verweigert sich, und stellt dadurch eine Liebe hin, eine Lebendigkeit gegen den Tod, beide, auch die Liebe gegen den Tod, zugleich MIT dem Tod, mit einem Menschen, mit dem man gegangen ist, der nun gegangen ist, dass diese ganze Sache, dieses Fremde, Schlimme, Erlösende, Gefürchtete, Trennende, Unbekannte, etwas Eigenes wird, absurderweise gerade durch das scheinbar entfremdete ungerührte Stationen-Ansagen. Ein Da-Sein. Ein So-Sein. Ein Akzeptieren. Kein Nachruf, sondern ein Dabeiruf.

Toll.

herzlich
klara

Niko

Beitragvon Niko » 29.06.2010, 23:32

Er macht dieses ganze Todes-Pathos nicht mit, verweigert sich, und stellt dadurch eine Liebe hin, eine Lebendigkeit gegen den Tod,
:daumen: perfekte aussage, klara!

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 30.06.2010, 07:35

Klara hat geschrieben:Er lässt mich in Ruhe, buhlt nicht um Mitgefühl und mildernde Umstände, weil Todesfall etc.


Hallo liebe Klara,

genau aus diesem Grund habe ich die anderen drei Texte, die ich zum selben Thema zu schreiben versucht hatte, nicht eingestellt ...

Ich danke dir sehr für deinen schönen Kommentar.

Tom
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