Monolog

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Max

Beitragvon Max » 27.06.2010, 14:05

das habe ich gerade u.a. ausgegraben, weil es mich an allerlei's text erinnerte, ist schon was älter ...


Monolog


Dir nicht unverwandt
bin ich nicht du
Wie du nie ich warst

Geheftet sind wir
an den Wunden

Wo du bluten musstest*
schmerzt mich die Narbe
Täglich
begrabe ich
dein unsterbliches Hoffen
neu

Deine Tagträume
zerteilen mir die Nacht






* war "blutest" geändert auf Vorschlag Floras

Benutzeravatar
allerleirauh
Beiträge: 766
Registriert: 26.06.2010
Geschlecht:

Beitragvon allerleirauh » 27.06.2010, 16:48

hallo max,

ich verstehe, warum du diesen text hervorgeholt hast.
auf den ersten blick sind unsere gedichte "verwandt". beide erzählen von ambivalenz.

dennoch sehe ich in "monolog" eine komponente, die meinem text völlig fehlt - inhaltlich.

ich lese davon, dass individuen so eng aneinander waren, dass sie als eins gelten konnten. und davon, dass diese einheit aufgehoben ist. allein der schmerz erinnert an den ursprünglichen zustand.

während sich das LYRich in PAPER PLANES ganz auf sich selbst konzentriert, spielt in MONOLOG das DU eine viel größere rolle. ich kann dieses DU für mich nur als etwas außenstehendes interpretieren, eher weniger als eine (weitere)facette einer identität.

ein schöner, schlichter text.

allerleirauh

Mucki
Beiträge: 26644
Registriert: 07.09.2006
Geschlecht:

Beitragvon Mucki » 27.06.2010, 18:15

Hi Max,

dein Monolog gefällt mir ausgesprochen gut.
Max hat geschrieben:Geheftet sind wir
an den Wunden

Wo du blutest
schmerzt mich die Narbe

finde ich genial und nicht nur aus dieser Passage lese ich von einem LI, dass mit keinem anderen DU spricht, sondern mit sich selbst, mit dem früheren Ich, wie das LI sich heute verhält bzw. wie sich vergangene Charakteristika des LI heute auf das LI auswirken.
Feines Gedicht!

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 27.06.2010, 18:40

Lieber/s Rau (warst du nicht mal Bundepräsident?),

ja, die Bemerkung stimmt - aber auch umgekehrt. Ich glaube, dass Dein Text auf de spachlichen Ebene den Gedanken sehr viel mehr widerspiegelt als meiner.

Zum lyr. Du hat Mucki Recht - entstanden ist das Gedicht einmal aus der Beschäftigung mit der Frage der Identität (und ich glaube es ging um Hume und um den Begriff der Person). Tatsächlich sind also lyr. Ich und Du 'die gleiche Person' was auch immer das bedeuten mag - diese Frage mag der Text ja gerade aufwerfen. Hierbei ist der lyrische Aspekt vielleicht der Schmerz, der entsteht, den man die Ichs nebeneinanderlegt. Dieses Schmerzhafte, wenn auch aus anderer Quelle finde ich in allerleis Text viel sprachlicher gefasst.

Liebe Grüße und danke für Eure schönen Kommentare
Müx ...

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 27.06.2010, 23:36

Lieber Max,

ich finde das einen bemerkenswerten Text, und für mich erhält er eine besondere Dimension durch die Überschrift, die ja das Trennungsthema des Textes noch einmal verschärft.
Mich brachte der Text ins Nachdenken über die Sehnsucht der Liebe. Verschmelzung, das behandelst Du hier im Text.
Ein für mich wesentlicher anderer Aspekt ist das "Im-Wesen-Erkannt-Werden",das vermutlich voraussetzt, dass die Distanz, die im Gegenüber-Sein, im "Anderer-Sein" liegt, gewahrt bleibt, aber die Möglichkeit besteht, sich einzufühlen und eine Art Seelenverwandtschaft zu empfinden (mir fällt kein besserer Ausdruck ein).
Letztlich ist beides in der Reinform oder in der vollkommenen Gestalt eine Illusion, kann nicht funktionieren.
Beim ersten, weil man seine Identität auf eine ungute Weise verlieren würde, beim anderen, weil Identität zu komplex ist, als dass sie einem anderen sich vollständig vermitteln könnte.

Auf jeden Fall ein spannendes Thema, das Du auf eine Weise aufnimmst, die ich so noch nicht gelesen habe.

Liebe Grüße

leonie

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 28.06.2010, 08:58

ein ausgefuchster text...

gibt sich so schlicht, in seiner (scheinbar?) auf ewig schmerzenden, unaufhebbaren komplementarität - und bleibt doch außerhalb des zweiseins, weil... weiß nicht... es ein bisschen so ist wie di zen-aufforderung, mit einer hand zu klatschen? (es ist ja ausdrücklich ein "monolog", ungenannt bleibt, was das "du" dazu meint, ob es sich um ein emotionales hirngespinst handelt etc.), das unmögliche wird hier nicht versucht, sondern wie eine art (lebensnotwendiger? empfindungsnotwendiger? schreibnotwendiger?) fluch? elsa hat unten an ihren texten die signatur "schreiben ist atmen", glaub ich. vielleicht ist schreiben - nach luft schnappen?



zuerst hab ich mich an dem auf den ersten blick plakativen gestoßen ("schmerzt", "blutest", "wunden"), an jener ausgestellten notwendigkeit von verletztsein (und bleiben!), das, wenn man ein auge zukneift, beinahe jesus als assoziation aufscheinen lässt, liebesreligiös überhöht wirkt. aber wenn ich das auge dann wieder ent-kneife, lese ich (spüre ich): wahrhaftigkeit. und werde traurig darüber. und zugleich froh, dass die worte, dieses unvergleichlich notwendige sprechen, das uns menschen zu menschen macht, dem schreiber ermöglichen, sich auszudrücken. wie kompensatorisch das auch immer sein mag: etwas daraus zu schaffen, aus dem, was nicht anders geht und weh tut. und damit andere zu trösten.

jedenfalls, in dieser hinsicht, gerade wegen der schlichten komposition: sehr starker text!

Benutzeravatar
Ylvi
Beiträge: 9468
Registriert: 04.03.2006

Beitragvon Ylvi » 28.06.2010, 09:36

Hallo Max,

ich hatte dieses Gedicht auch eher auf Beziehungsebene, denn über den Aspekt der Identitätsfrage gelesen. Das liegt wahrscheinlich hauptsächlich am "blutest", was ja dann eigentlich in die Vergangenheit gesetzt werden müsste, da es durch die Gleichzeitigkeit ein Gegenüber-Du erfordert? "Blutetest" ist natürlich klanglich nicht sehr schön, aber warum nicht zum Beispiel "bluten musstest"?

Im Gegensatz zu allerleirauhs Text bewegt sich dieses Gedicht für mich weniger in seinen Bildern, sondern zieht sie eher heran, um etwas aufzuzeigen, einen Gedanken sozusagen zu bebildern.

Die erste Strophe klingt mir ein wenig zu sehr nach Rätsel, was vermutlich vor allem an der ersten Zeile liegt. Ich weiß nicht, ob das dem Gedicht, das ja dann anschließend sehr klar spricht gut tut, und ob sie die Frage, wer denn nun dieses Du ist, nicht zu sehr in den Vordergrund stellt, zumal das ja wohl nicht deine Intention war. Warum nicht einfach:
Ich bin nicht mehr du
wie du nie ich warst.


Auch bei den Zeilenumbrüchen, der Einzelsetzung der Worte frage ich mich, ob es nicht etwas freier klingen und auch für mich wirken könnte, wenn es weniger betont wäre, also die Zeilen länger gesetzt wären.

Wieder sehr gern gelesen, aber ich muss zugeben, dass ich die mögliche Leseweise über die Beziehungs/Gegenüberdu-ebene fast spannender finde. :)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Max

Beitragvon Max » 28.06.2010, 10:03

Liebe Leonie,

ich glaube, Dur bringst einen wichtigen Aspekt mit in das Thema ein: Liebe. Ich denke, dass die Liebe, in diesem Falle die Liebe zu sich selbst, ein sehr identitätsstiftendes Gefühl ist, die so manchen Graben überwindet. Gräben gibt es ja genug, der Text beginnt bei einem solchen: Für einen Mathematiker ist es schmerzlich zu erkennen, dass Identität nur eine mathematische Abtraktion ist :-). Es gibt auch noch einen "Gegentext", der dieses Abstraktum verteidigt und der (aus meiner Erinnerung) mit den Worten:

Bin ich auch nicht derselbe
so bin ich doch kein anderer

beginnt.

Liebe Klara,

danke für Deine freundlichen Worte. Ich weiß gar nicht, ob ich beim Schreiben all die Facetten im Kopf hatte, die Du entdeckt hast.
Das religiöse Vokabular ist wohl durch meine Messdienerzeit eingeimpft, das geht nicht mehr raus ;-) - und nu im günstigsten Falle dreht es sich dann in Richtung Wahrhaftigkeit ... merci. Was sicher wahr ist, da ist, ist der Schmerz, der entsteht, wenn man sein Heute mit seinem Früher abgleicht - egal, wie es heute steht.

Liebe Flora,

das Schönean einem älteren Text ist, dass ich ihn auch aus Deinem Blickwinkel lesen kann und verstehen, was Du darin liest (was mir eine neue Perspektive öffnet).
Mit dem "blute musstest" rettest du mir die Zeile. An dem "blutest" bin ich selbst immer wieder hängen geböieben, aber "blutetest" ist eben nur grammatisch gut. Das ändere ich gleich mal.

Herzlichen Dank an alle!
Max

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 28.06.2010, 20:06

Lieber Max,

ich lese das ausschließlich als Beziehungstext, so ist das nun mal mit mir ;-)
und er packt mich (steh ich doch sehr auf Dramatik) und ich kann die Gedanken blendend nachvollziehen. Gerade heute, als ich Besuch hatte von einer alten Wunde, äh, Liebe. Und eben durch unsere Narben kleben, sind wir immer noch geheftet an das, was einst war. Interessant...

Ich mag deinen Text wirklich sehr!

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Benutzeravatar
leonie
Beiträge: 8896
Registriert: 18.04.2006
Geschlecht:

Beitragvon leonie » 28.06.2010, 23:06

Liebe Elsa,

ich habe es ja auch so aufgefasst wie Du. Aber ich muss sagen, seit ich diese andere Lesart kenne, gefällt mir der Text noch besser.
Sehr anregend, Max, toller Text!

Liebe Grüße

leonie

Benutzeravatar
Elsa
Beiträge: 5286
Registriert: 25.02.2007
Geschlecht:

Beitragvon Elsa » 28.06.2010, 23:18

Liebe Leonie,
dann muss ich jetzt die Antworten von Max mal lesen ...

---

Jetzt hab ich es gelesen, in der Tat, das ist gut!

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

scarlett

Beitragvon scarlett » 29.06.2010, 08:13

Lieber Max,

ein bemerkenswerter Text, an dem ich eigentlich alles mag: er eröffnet mir nicht unbekannte Räume auf neue Art.

Ich frage mich nur hier:

geheftet sind wir
an DEN Wunden

warum ich immer und immer wieder lese

an DIE Wunden???

Ich kann keinen Grund für dieses DEN finden.
Was lese oder verstehe ich nicht???

Famos, dieser Text!

LG
scarlett

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 29.06.2010, 09:15

oh, ich fürchte, da war ich wohl ähnlich verblendet wie Elsa und Leonie...

danke für die Erklärungen, dass der Text nicht eine Beziehung zu einem anderen thematisiert (so hatte ich das verstanden), sondern um die Beziehung zu sich selbst (sorry).

herzlich
k

Max

Beitragvon Max » 29.06.2010, 09:18

Liebe Scarlett,

danke für diesen sehr freundlichen Kommentar. Es erstaunt mich beinahe, dass ein Text, den ich vor einiger Zeit geschrieben hat, eine Wirkung hat - aber es freut mich vor allem.

Das "den" erklärt sich so, dass ich mir vorstelle, das lyr. Ich und das lyr. Du haben ihre Wunden - das ist das Verbindende, an diesen Stellen sind sie zusammengeheftet - kann man das verstehen?

Liebe Grüße und danke für den Kommentar!
Max


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 67 Gäste