Die behagliche Inneneinrichtung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 10.09.2010, 14:24

Die behagliche Inneneinrichtung

Ephemere Wanderung auf dem Schorf der Krise:

Wertbebenopfer Wiedertänzer
bauen Häuser aus abgebrannten Streichhölzern
stinken an
gegen tote Bäume und Glubschaugen
wollen unverstrahlt strahlen
über‘m immervollen Napf
sind pazifistische Pistoleros
die ins Meer pissen
die in die Suppe spucken
immer für’s Rechtsfahrgebot
und für gesundgebildete tote Kinder

…machsoweiterSam…

(Kopfschütteln*)

Hindurchlaufenderhitzt das ICH, nicht unschuldig, aber unwillig und unbehagt, satt natürlich und hungrig, zeithungrig und glückshungrig, gelassenheitshungrig und wissenshungrig, da geht was ab, immer geht was ab, viel Arbeit für den Zeigefinger, für Herz und Hirn, weniger für’s Hirn, für die faulen Knochen vielmehr, die fauligen oder besser die faulenden oder sogar schon verfaulten Knochen, die nichts mehr bewegen, die beinahe verwest sind; alles ist verwest, bis auf Hirn und Auge und Herz, HerzAugeHirn, aber keine Knochen mehr - um irgendetwas zu tun, kann ICH nur noch schauendenkenfühlen.

Hören?

Hören!

:

„Böse bellt der Zukunftshund!“


*Verneinende Geste, die als intellektuell, wenn unbegründet, als banal aber wahngenommen wird, kommt sie mit allerhand Erklärungen daher.

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Sethe
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Beitragvon Sethe » 10.09.2010, 19:21

Hallo Sam,

Frau fängt an zu lesen, kommt in Schwung, liest sich fest, aber dann...
der Versuch einer Vollbremsung, der nicht glückte und daher Frontalzusammenstoß mit:

Hindurchlaufenderhitzt

Wie? Was ist das? Konfusion.

Hin durch laufend erhitzt?

Ja gut, denke ich noch benommen, "laufend erhitzt" verstehe ich noch, aber wieso "hin durch"?
Oder muß ich es doch anders betonen?

Hin durch lauf ender hitzt?

Nein, macht keinen Sinn.

Kann denn gemeint sein, das Ich läuft hindurch durchs leben, und ist dadurch erhitzt?
Ein "Hindurchlaufender", ja nur stört da irgendwie dann das "hitzt", weil fehlt dann nicht ein "er"?

Sam, dieses Wort schafft mich. Nicht so sehr inhaltlich, aber wie lese ich dieses "Hindurchlaufenderhitzt"?

viele Grüße
Sethe
Was ich tu, das tu ich, was ich tat, das wollte ich tun.
(aus: "Ich schließe mich selbst ein" von Joyce Carol Oates)

Gerda

Beitragvon Gerda » 11.09.2010, 00:13

Hallo Sam,

ich beginne mal mit dem
"Hindurchlaufenderhitzt",
weil ich glaube, dass dieses Wort im Grunde zusammenfasst, was im Text explizit und detailliert beschrieben ist.
Der Text handelt davon, wie Menschen/wir mit einer Krise, mit Missständen, Katastrophen etc. umgehen.
Wir sind zwar ungemein angestrengt erregt und lassen uns immer wieder aufs neue von Schreckensmeldungen erhitzen, aber im Endeffekt bleibt nahezu alles "Durchlaufender Posten", wie beim Durchlauferhitzer eben das Wasser hindurch läuft.
Vielleicht bleiben ein paar Spuren, (wie im Durchlauferhitzer z. b. Kalk), aber das eigentliche Geschehen läuft größtenteils durch uns hindurch. Das mag man schlimm finden und zu verallgemeinernd, aber der Text beschreibt m. E. genau dieses Verhalten und Verharren ohne moralisch zu werten, sehr wohl stellenweise aufrüttelnd, aber in anderen Passagen auch resignativ.
Du Sam, als Autor bist im Ton nahe am lautstarken Fluch, mindestems aber bei einer Art Tirade angekommen, du benutzt dieses Stilmittel, m. M. n. um aufmerksam zu machen, obwohl Fatalismus schon auf der Schwelle zu stehen scheint.

Im Untertitel verwendest du das Fremdwort "ephemer", es steht vllt. für : flüchtig, kurzlebig.
Muss es das Fremdwort sein? Es kann ja gute Gründe geben, die sich mir verschließen.

Ich bin nicht sicher, ob nicht eine Wortschöpfung wie beispielsweise "Wertbebenopfer" etwas zu sehr auf die vordergründige Wirkung abhebt, bei mir ensteht dieser Eindruck, obgleich ich von der Schöpfung, die inhaltlich viel transportiert auch wiederum angetan bin. Ähnlich ergeht es mir bei "gesundgebildete tote Kinder", auch hier sage ich: "Wie treffend",verstehe was du meinst, bleibe aber mit indifferenten Gefühlen zurück.
Bei einem solchen Text, geht mir ein "Gefällt mir gut" eher nicht über die Lippen. Der Text lässt mich nachdenklich und ambivalent zurück (nicht das schlechteste wie ich meine ) ;-) weil er nicht glatt über die Zunge geht und auch nicht glättet.

Das sind so meine Eindrücke.

Liebe Grüße
Gerda

Sam

Beitragvon Sam » 12.09.2010, 08:06

Hallo Sethe,

vielen Dank für deinen Kommentar!

was das "hindurchlaufenderhitzt" angeht, hat Gerde ja schon einiges gesagt, was vom Sinn her auch zutreffend ist. Das ICH wandert auf dem Schorf de Krise, läuft "hindurch" und wird dabei erhitzt.


Hallo Gerda,

auch dir lieben Dank für deine Auseinandersetzung!

Den Grundgedanken, wie du ihn bezüglich des "hindurchlaufenderhitzt" formuliert, hatte ich schon, wobei nicht die Ereignisse durch das ICH hindurchlaufen, sondern das ICH durch die Ereignisse und dabei erhitzt wird.

Aufmerksam machen wollte ich nicht (muss denn auf das, was so geschieht aufmerksam machen? Es ist doch alles mehr als offensichtlich). Mir ging es darum, wie bestimmte Geschehnisse in einem ICH wirken, was sie auslösen etc.

Das Wort ephemer habe ich benutzt, weil mir seine Bedeutungsvielfalt gefällt (flüchtig, kurzlebig, temporär, oder wie ich es auch gelesen habe: keine bleibenden Eindruck hinterlassend.) Außerdem war mir daran gelegen, die Form dieses Gedichtes an mehreren Stellen aufzubrechen bzw. keinen Fluss zuzulassen (so Form-Ideen, die man halt hat, die vielleicht funktionieren, vielleicht aber auch nicht). Deswegen auch verschiedene Wortschöpfungen, obwohl ich diesen immer sehr skeptisch gegenüberstehe.

Wenn das Gedicht (oder vielmehr der Text, ein wirkliches Gedicht ist es ja eigentlich nicht bzw. wird es irgendwo in der Mitte hinterrücks erschossen) dich ambivalent zurücklässt, dann finde ich das schon sehr gut.


Nochmals vielen Dank euch beiden!

Gruß

Sam

Gerda

Beitragvon Gerda » 12.09.2010, 11:15

Lieber Sam,

Sam hat geschrieben:Den Grundgedanken, wie du ihn bezüglich des "hindurchlaufenderhitzt" formuliert, hatte ich schon, wobei nicht die Ereignisse durch das ICH hindurchlaufen, sondern das ICH durch die Ereignisse und dabei erhitzt wird.


Das ist ja interessant, dass du es genau andersherum intendiert hast, an diese Möglichkeit hatte ich nicht gedacht, denke aber darüber nach.

Sam hat geschrieben:Aufmerksam machen wollte ich nicht (muss denn auf das, was so geschieht aufmerksam machen? Es ist doch alles mehr als offensichtlich). Mir ging es darum, wie bestimmte Geschehnisse in einem ICH wirken, was sie auslösen etc.

Gerade weil wir mit Schreckensnachrichten überschüttet werden, ist eine literarische (künstlerische) Form der Auseinandersetzung, am subjektiven Beispiel wichtig und notwendig, meine ich, um eine besondere Aufmerksamkeit zu erzielen, fern ab der Sensationsgier.

Sam hat geschrieben:Das Wort ephemer habe ich benutzt, weil mir seine Bedeutungsvielfalt gefällt (flüchtig, kurzlebig, temporär, oder wie ich es auch gelesen habe: keinen bleibenden Eindruck hinterlassend.)

Ja, ich weiß um die Bedeutungsvielfalt, dennoch würde ich eher eine deutsche Umschreibung wählen.

Sam hat geschrieben:Außerdem war mir daran gelegen, die Form dieses Gedichtes an mehreren Stellen aufzubrechen bzw. keinen Fluss zuzulassen (so Form-Ideen, die man halt hat, die vielleicht funktionieren, vielleicht aber auch nicht). Deswegen auch verschiedene Wortschöpfungen, obwohl ich diesen immer sehr skeptisch gegenüberstehe.


Ich glaube, dir, dass du dir diese Wortschöpfungen genau überlegt hast. Sollte der Text noch relativ frisch sein, werden sie sich in Zukunft beweisen so oder.

Sam hat geschrieben:Wenn das Gedicht (oder vielmehr der Text, ein wirkliches Gedicht ist es ja eigentlich nicht bzw. wird es irgendwo in der Mitte hinterrücks erschossen) dich ambivalent zurücklässt, dann finde ich das schon sehr gut.


:-) ja, der Text spricht mich an, macht nachdenklich und ich finde, die Stelle an der du das Lyrich einbringst passend.

Liebe Grüße
Gerda

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 12.09.2010, 20:05

das ist eine richtige herausforderung, finde ich. ganz und gar nicht behaglich. und ich fühle mich nicht behaglich. weder wenn ich es lese, noch wenn ich jetzt versuche etwas von dem, was ich denke aufzuschreiben.
den ersten teil mag ich nicht besonders (was eine sehr dumme aussage ist, aber seis drum, wenn sie dem weiterkommen dient), ich mag sie nicht und finde sie doch sehr notwendig, sehr konsequent, auf das
machsoweitersam *kopfschüttel*
zusteuernd und
da an diesem bruch
fängt es an mich zu interessieren
beschäftige ich mich weiter damit, obwohl es "anstrengend" bleibt, sich immer noch verweigert.
ja: böse bellt der zukunftshund.

so der gesamteindruck in kürze. und irgendwie finde ich, verbietet es dieser gesamteindruck ins detail zu gehen, weil ich mir (und dem text, gedicht, collage ?...) ja immerzu widersprechen würde, sagte ich z.b., dass auch ich diese abneigung gegen fremdworte teile, aber das passt wiederum so wunderbar zum intelektuellen kopfschütteln und auch die wertbebenopfer, nein, das ist kein schönes wort, aber es trifft doch den sachverhalt der beschrieben wird, nur die gesundgebildet toten kinder versteh ich nicht.

was das "hindurchlaufenderhitzt" angeht, ist mir nicht ganz eingeleuchtet, warum man das wort zusammenschreiben muss.

ja gelungen unbehaglich.
böse bellt der zukunftshund.

Sam

Beitragvon Sam » 13.09.2010, 18:45

Hallo Gerda,

Gerade weil wir mit Schreckensnachrichten überschüttet werden, ist eine literarische (künstlerische) Form der Auseinandersetzung, am subjektiven Beispiel wichtig und notwendig,


Auseinandersetzung ja, darum ging es mir auch. Allerdings weniger Auseinandersetzung mit den Nachrichten an sich, sondern damit, wie diese auf ein Ich einwirken.

Herzlichen Dank nochmals für deine Meinung!



Hallo Xanthippe,

auch dir lieben Dank für deine Gedanken zum Text (und dumme Aussagen finde ich nicht, in dem, was du geschrieben hast).

Vielleicht ist es wirklich so, dass man das Gedicht nur im Ganzen sehen kann (ich tue es zumindest), da ja der Anfang (als pseudolyrischer Teil) in Frage gestellt wird und es mir nicht darum ging, aktuelles Geschehen in lyrische oder nach Lyrik klingende Sprache zu übertragen, sondern ein Bild zu schaffen, das zeigt, wie ein solcher Versuch scheitert.
Die Wortschöpfungen sind u.A. ein Beweis dieses Scheiterns. Sie sind zwar eventuell treffend, aber fügen sich nicht wirklich ein.

Durchlaufenderhitzt habe ich zusammen geschrieben, weil es, wie andere Zusammenführungen in dem zweiten Teil, eine gewisse Atemlosigkeit und ein inneres Drängen und Ringen ausdrücken soll.


Gruß

Sam

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 13.09.2010, 21:44

Hallo, Sam,

eine heftige Schimpftirade und mir wurde erst im zweiten Anlauf klar, dass das lyrische Ich gar nicht über das Waldsterben und das Weiterso nach jeder Naturkatastrophe schimpft, sondern wohl über diejenigen, die gegen die Ursachen kämpfen ("pazifistische Pistoleros").

Dann besinnt sich das lyrische Ich (warum nicht einfach durchlauferhitzt?) und fasst sich an die eigene Birne, die angeblich noch nicht so faul ist, wie die Knochen. Alles sei faul, nur HerzAugeHirn nicht. Klingt für mich so, als hätte der Protagonist als Entschuldigung für seinen mangelnden Einsatz nur sein Alter vorzubringen. Natürlich könnte auch ein Senior durch Verbraucherverhalten, durch Wählerverhalten, Meinungsbildung uvm. sich konsequent für Änderungen einsetzen. Aber er sieht (selbstkritisch oder selbstmitleidig?) nur "Arbeit für den [erhobenen] Zeigefinger".

So ist dieser Text für mich nicht nur doppelbödig, sondern dreistöckig. Erst will mancher vielleicht sogar zu den Beschimpfungen nicken, dann zu der "kritischen" Selbstbetrachtung. Der Leser, der dann noch weiterdenkt, entlarvt vielleicht auch die Unhaltbarkeit der vorgebrachten "Entschuldigung".

Aber wird das wirklich klar? Oder hab ich deine Intention am Ende falsch verstanden?

Grüne Grüße :mrgreen:
fenestra

Sam

Beitragvon Sam » 15.09.2010, 19:10

Hallo fenestra,

vielen Dank für deinen Kommentar!

Deine Einschätzung des Textes ist sehr interessant. Das mit den fauligen Knochen würde ich allerdings nicht buchstäblich sehen, sondern eher im übertragenen Sinn.


Dem, was du hier schreibst...

So ist dieser Text für mich nicht nur doppelbödig, sondern dreistöckig. Erst will mancher vielleicht sogar zu den Beschimpfungen nicken, dann zu der "kritischen" Selbstbetrachtung. Der Leser, der dann noch weiterdenkt, entlarvt vielleicht auch die Unhaltbarkeit der vorgebrachten "Entschuldigung".


...kann ich nur zustimmen. Zudem wird die Ironie wird potenziert, bis hin zum bitteren Ernst.


Gruß


Sam

Klara
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Beitragvon Klara » 16.09.2010, 10:01

Hallo Sam,

das drückt ziemlich gut die Hilflosigkeit aus, die lähmend in den Knochen der Habenden steckt, die keine Eier (mehr?) haben überhaupt noch rauszukriegen, wogegen man sich wehren könnte (geschweige denn WIE).

Pistolen? Gedankenwaffen? Humor? Gemeinschaft, wenn jeder doch sich selbst der nächste zu sein gezwungen ist, sich zwingt, gezwungen wird? Nicht mal das wagt man zu differenzieren (der Passiv verkleidet sich als Aktiv, der wiederum im Passiv verschwimmt - wer tut hier wem etwas an??), zu komplex scheint die Welt, ist sie auch, zu simpel die Schlussfolgerung, dass man ohnehin stirbt, gut oder schlecht.

Wenn mal vor dem Fressen die Moral käme, wäre vielleicht wenigstens dem Zukunftshund das billige Maul gestopft. Ein Pessimismus als Handlungsverweigerungsrechtfertigung, der es sich im Unbequemen besserwisserisch bequem macht, war mir immer schon zutiefst widerlich. Aber. Scheiß-Aber.

Es ist eine Haltungsfrage - nicht nur eine "Sachfrage". Da diese Haltung nur noch eine fragmentarische sein kann, *heutzutage*, lese ich einen gelungenen Text: Ausdruck dessen, was spürbar ist. Leider.

(Unnötig finde ich das Sternchen - willst du damit den Zeigefinger demonstrieren, über den der Text sich erbittert?)

Grüß dich
klara
Zuletzt geändert von Klara am 18.09.2010, 19:39, insgesamt 1-mal geändert.

Sam

Beitragvon Sam » 17.09.2010, 18:38

Hallo Klara,

vielen Dank für deine Gedanken zu diesem Text!

Einen Pessimismus als Handlungsverweigerungsrechtfertigung, der es sich im Unbequemen besserwisserisch bequem macht,


Das ist wunderbar ausgedrückt und bringt vieles von dem, was ich mir so gedacht habe beim Schreiben auf den Punkt.

Wie soll man sich wehren, wenn man innerlich den Akt des Wehrens schon in Zweifel zieht? Weil sich wehren ja auch immer heißt, einen Teil seiner Privilegien preis zu geben. Auch darum schmeckt jedes Wort, das man dafür findet, am Ende schal und der schönen Empörung gebührt letztlich nur der (durch die Brechungen in dem Text dargestellten) Meuchelmord.

(Unnötig finde ich das Sternchen - willst du damit den Zeigefinger demonstrieren, über den der Text sich erbittert?)


Nein, er ist nur Teil der Destruktion. Versteht man das anfängliche Gedicht als Haltung, wird diese durch Reflektion torpediert. Auch das Kopfschütteln ist nur eine Geste. Die Erkenntnis, das angesichts der Tatsachen Worte nicht ausreichen, wird als ebenso unzureichend dargestellt.


Gruß

Sam

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 17.09.2010, 23:09

Hallo Sam,

Gleich zu Beginn: dieser Text von dir hat mich befremdet, beim ersten Lesen jedenfalls. Dann habe ich offensichtlich den Begriff "hindurchlaufenderhitzt" überinterpretiert, denn ich las von Anfang an: end-erhitzt, also -hindurch Lauf- end- erhitzt. wobei das Ende mit der Hitze auf eine Endkatastrophe hinzudeuten schien.

Mir scheint, dass solche Missverständnisse -wenn ich von meiner eigenen Unzulänglichkeit etwas absehen darf- vor allem auf einem Mangel an Kontext-Verständnis beruhen, möglicherweise auch auf fehlender Kenntnis bestimmter Debatten, die man nicht zeitgleich nachvollziehen kann, wenn man zwischen zwei Zivlisationskonzepten lebt.

Jedes Mal, wenn ich in deinem Gedicht eine individuelle Aussage ausfindig machte, berührte es mich unmittelbarer: gesundgebildete tote Kinder (weil du noch zu den potentiellen Vätern gehörst)
machweiterso Sam (die Wahl des Namens)
hindurchlaufENDerhitzt (das Ende in Sichtweite)
verfault, verwest
schauendenkenfühlen im Gegensatz zu:
hören? hören!
und natürlich Pluto - "Böse bellt der Zukunftshund.

Alle diese Auszüge verbinde ich stark mit deiner UNbehaglichen Inneneinrichtung.

Was als Selbst- und Fremdreflektion (x?) vorausgeht, bleibt mir fremd, da ich zu sehr den moralischen Appell verspüre, den Aufruf, aus dieser Schorfwanderung heraus zu gelangen. Das "Machweiterso Sam" ist eine Kritik, die nicht adäquat scheint, denn was tun, als dieses unendlich wiederkehrende: Play ist again. (ich meine den Gegensatz zwischen der Drohung -- mach nur weiter so, du wirst ja sehen, wohin das führt!! und einer Ermunterung, dasselbe nochmal zu wiederholen, weil es so schön war, aöso ein Spiel mit dem Casablanca Zitat)


Inhaltlich fehlt mir die Möglichkeit, mich von der Erlösung der Welt ablösen zu können, ohne dadurch zum Mittäter eines Untergangs zu werden. Zwar deutet die Zeile "viel Arbeit für den Zeigefinger" auf eine splche Distanz, aber der Zeigefinger, er bleibt erhoben, die Distanz ist nicht ausreichend, und man möchte gern noch etwas nochmal ausholendes lesen, einen dritten Bereich, in dem sich Tätigkeit und Untätigleit der an Knochen verfaulenden begegnen und der Bitterkeit über Ohnmacht eine Stimme verleihen, die dann auch vom Ohr vernommen wird:

Was mich immer beeindruckt ist dein Umgang mit Sprache, die Färbung der Worte zeugt von der dir eigenen Kreqtivität. Die von dir kreierten Neologismen verbinden sich ganz und gar mit deinen Gedankengängen, stehen notwendig an dem ihnen zugeordneten Platz, nichts ist aufgesetzt oder fremd.

Den Schluss mag ich immer mehr, seit ich nun den gesamten Text häufiger gelesen habe. Das "Hören" öffnet eine Unzahl von Assoziationsketten, von denen aufhören, gehorchen nicht die unwichtigsten sind. Endlich auf den Alarm hören, den die Erde schlägt, Gehorchen, auf die Aufforderungen der Welt eingehen, der Notwendigkeit gehorchen. Sich mit den Notwendigkeiten auseinander setzen:

Letztendlich bleibt bei diesem Gedicht die Endposition diejenige eines Lesers, der sich auf das Anhören der Wahrnehmungen eines HindurchlaufEnderhitzten Ich einlässt und einen Dialog mit diesem herstellt:

Zwei Instanzen, - das sich selbst beobachtende lyr. Ich, der angesprochene Leser, der mit dem lyr. Ich zusammenschmilzt.

Dazwischen ein Spannungsfeld, das Zustimmung findet, aber auch heischt, das sich selbst zugleich beunruhigt und beruhigt, in einer Welt, die ich als ENDerhitzt empfinde: (obwohl ich ziemlich sicher bin, dass ich das falsch verstanden habe, gefällt mir diese Lesart. Es entspricht dem Bild, das ich von dieser klimaerwärmten Welt habe: eine mit steigendem Fieber ausgestattete Welt, die sich nicht mehr auf die Zukunft verlassen kann. Auf sie wartet Pluto, der Zerberus. -

pazifistische Pistoleros sind wir alle, sehendenkenfüuhlen, und hören tun wir nicht ...

Ich glaube, dass mir solche Appelle zwar noch "eingehen", dass ich aber doch lieber über solche Berge der Vernunft hinweg gehe, denn mir ist beim Gedanken nicht wohl, man wisse, wohin es geht, oder gehen müsste.

Etwas konfus, aber doch eine Auseinandersetzung mit deinem Gedicht und deiner Sprache

liebe Grüße
Renée

Sam

Beitragvon Sam » 19.09.2010, 10:05

Hallo Renée,

vielen Dank für deine sehr interessanten Bemerkungen zu dem Text. Dein "Missverständnis" bezüglich dem End-erhitzt gefällt mir (es ist ja eigentlich kein Missverständnis, sondern dein Verständnis des Wortes), weil es, wie dein Kommentar ja beweist, einen Korridor eröffnet, der einen auf eine ganz bestimmte, und wie ich meine sehr aufschlussreiche und auch passende, Weise durch den Text führt. Denn nichts liegt näher, als, bei nüchterner Betrachtung all dessen, was in der Welt so passiert, sich ein Ende zu denken. Ende in dem Sinne, dass es irgendwann nicht mehr so weiter gehen kann. Ob der Zukunftshund nun der Höllenhund ist, oder aber einfach nur Symbol für das Gebell eines unverbesserlichen Pessimismus sei dahingestellt. Es klingt jedenfalls böse.

Inhaltlich fehlt mir die Möglichkeit, mich von der Erlösung der Welt ablösen zu können, ohne dadurch zum Mittäter eines Untergangs zu werden. Zwar deutet die Zeile "viel Arbeit für den Zeigefinger" auf eine solche Distanz, aber der Zeigefinger, er bleibt erhoben, die Distanz ist nicht ausreichend, und man möchte gern noch etwas nochmal ausholendes lesen, einen dritten Bereich, in dem sich Tätigkeit und Untätigleit der an Knochen verfaulenden begegnen und der Bitterkeit über Ohnmacht eine Stimme verleihen, die dann auch vom Ohr vernommen wird


Ich glaube dich zu verstehen. Aber auch ein dritter Bereich würde am Ende nur ein Scheitern darstellen, wie du sagst, die Ohnmacht darüber, nichts tun zu können, selbst wenn man wollte. Vielleicht könnte man aber dahingehend argumentieren, dass dieser dritte Bereich in der Tatsache angelegt ist, dass dieser Text überhaupt geschrieben wurde (für mich ein wesentlicher Aspekt des Textes). Denn das Schreiben ist ein (wenn auch leichtes und sehr schwaches) Tun, ein Aufbegehren, das über das "schauendenkenfühlen" hinausgeht. Aber es scheitert auf seinem Weg. Der Autor (also Sam, den ich hier ganz abgekoppelt von meiner Person sehe) ergeht sich anfänglich in wortschöpferischer Empörung und könnte auch so weiter machen. Muss dann aber feststellen, dass er es eben nicht kann. Dass das Schreiben eben auch knochenlos ist, wie das schauendenkenfühlen. Nun könnte er noch weise schweigend resignieren oder sein Scheitern in banale Bilder packen, um ihm Ausdruck zu verleihen - was er ja irgendwie auch getan hat.


Ich glaube, dass mir solche Appelle zwar noch "eingehen", dass ich aber doch lieber über solche Berge der Vernunft hinweg gehe, denn mir ist beim Gedanken nicht wohl, man wisse, wohin es geht, oder gehen müsste.


Als Appell verstehe ich den Text nicht, bzw. lag mir nichts ferner, als hier irgendwie eine Botschaft oder Aufforderung an den Leser zu verpacken. Ich sehe es eher als Beschreibung. Die Beschreibung der Inneneinrichtung eines ICH (dem Avatar Sam) angesichts der Krise(n).

Nochmals herzlichen Dank für deine eingehende Beschäftigung!

Gruß

Sam

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 19.09.2010, 20:53

Hi Sam,

endlich ist mir - nach zigfachem Lesen - die passende Beschreibung eingefallen:

Pubertär.
Pubertäres Rausgerotze im bestmöglichen Sinn. Hasstext, Kraftbilder, laufen lassen, Selbstbezug, weiterkotzen.
Pubertär auch im Sinne von 'reflektiert', aber dennoch 'unverarbeitet'.

Als solches verstanden für mich sehr kraftvoll und spannend und atemlos/aufgeregt, und vom Wissen her alles andere als pubertär.
Man darf und sollte sowas ab und zu machen. Auf Einzelheiten einzugehen verbietet sich hier für mich.

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)


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