Herbst

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.09.2010, 12:47

Herbst


Ins rissige Blattwerk
fährt Seelensturm.
Verblühtes knistert
auf saftloser Haut.

Herbstfrüchte,
klaffend und weich,
verbreiten faulig
ein süßes Adieu.

Tintlinge tropfen die Zeit,
während Blattadern
so fein verwesen
wie Saitenmusik.

Blutleeres Glas
vor schilfernden Lippen,
die nicht mehr
küssen.

Im Spiegel
der Frühling,
das letzte Kind,
geht lächelnd hinaus.




Da ich eine kleine Sammlung an Herbstgedichten habe, traue ich mich nochmal, was einzustellen - die Herbstgedichtehasser :book3: gucken einfach nicht hin, ja?

Niko

Beitragvon Niko » 19.09.2010, 12:57

hallo amanita!
die zweite strophe wäre mir gedicht genug. dazu kommt, dass zeittropfende tintlinge, seelensturm, schilfernde lippen und blutleeres glas mir keine bilder vermitteln. zudem ist mir unklar, ob der frühling himself das letzte kind ist oder ob es als aufzählung gedacht ist. ergo: auch hier für mich kein schlüssiges bild.
die zweite strophe jedoch finde ich sehr stark!

liebe grüße: niko

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.09.2010, 13:02

Das ist ja interessant ... die zweite Strophe finde ich am schwächsten.

Das letzte Kind ist der Frühling ... weil ich den Lebensherbst mit drin habe. Ich weiß, das ist wahrscheinlich abgenudelt, aber ich habe das schon immer verbunden, auch als ich mich selbst noch nicht im Herbst des Lebens befunden habe. :pfeifen:
Daher konnte ich den Herbst auch noch nie leiden, ich bin keine Herbstgedichtehasserin, sondern eine Herbsthasserin.

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 19.09.2010, 13:13

Hallo Amanita,

Auch für mich ist die zweite Strophe die einzig stimmige.
In der ersten stört mich der Seelensturm. Da liegt mir einfach zu viel Pathos drin.

Die tropfenden Tintlinge sind schon ein starkes Bild, drücken aber selbst so viel Vergänglichkeit aus, daß es dem Hinweis auf die Zeit hier gar nicht mehr bedarf. und wie verwest eigentlich Saitenmusik?
Ich vermute du meinst es verwest zu etwas, das so fein ist wie Saitenmusik.

wenn ich Leere betone, drückt das ein Vermissen aus. Warum aber soll ein Glas Blut enthalten?
Das klingt mir irgendwie gewollt originell.

Die letzte Strophe lese ich als Aufzählung. Der Spiegel fungiert hier als melancholische Rückblende.
Aber wer ist das letzte Kind? Und siehst du es im Spiegel oder ist das schon wieder Gegenwart? Die letzte Strophe ist mir zu diffus.

LG ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.09.2010, 15:13

Liebe Amanita,

zur gänzlichen Verwirrung :-): Mir geht es so, dass ich die letzte Strophe am stärksten finde. Sie könnte für mich allein stehen unter der Überschrift: "Herbst" und ein ganzer Film würde in mir ablaufen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es vor allem Frauen ähnlich geht.
Im Spiegel: Da lächelt einem vielleicht jemand zu, der einem ähnlich sieht, vielleicht wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber eben in Frühlingsform, während man selbst an sich den Herbst erlebt: Das langsame Erlöschen der Fruchtbarkeit, das Überschreiten der Halbzeit, das "!Auf-den-Tod zugehen.
Das Lächeln ist vielleicht freundlich gemeint, aber es trägt auch eine Härte in sich, denn es ist ein Abschiedslächeln, das Kind geht hinaus in die Welt. Es verlässt Mutter und Vater, man bleibt so einsam zurück wie der abgeerntetet Baum.

Ich mag die andern Bilder auch, in den Strophen 2, 3 un4 finde ich die Bilder eher statisch, wie gemalt. Die erste und letzte hingegen sind sehr dynamisch, enthalten Bewegung.

Wenn ich weiter überlege, könnte ich mir den Text auch gut vorstellen als Einzelbilder zum Herbst, die dann ein Gesamtkunstwerk ergeben. Ich glaube, das würde den Assoziationsraum für die Leser erweitern.

Liebe Grüße

leonie

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Eule
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Beitragvon Eule » 20.09.2010, 17:35

Tja, und jetzt noch ein begeistertes Lob ! Ich mag Natur- und Landschaftslyrik sehr und Dein Text ist für mich ein gelungenes Beispiel. Durchaus zwar mit "klassischen" Bildern und Parallelen wie "Seelensturm - Herbssturm" und dem Frühlingskind, aber meistens in origineller, individueller Ausgestaltung. Dein lyrI läßt uns hier an einer vielfältigen und sinnlichen Wahrnehmung des Naturherbstes mit seinen vielen eindrucksvollen Erscheinungen teilnehmen. In mir klingen die Bilder auf eine schöne poetische und stimmige Weise wieder. Erstaunt bin ich nur über den Hinweis, dass Du als Autorin mit dem Text"objekt" eher negative Stimmungen verbindest. Umso besser, dass dadurch trotzdem ein interessantes und schönes Gedicht entstehen kann. Viele Grüße !
Zuletzt geändert von Eule am 20.09.2010, 22:16, insgesamt 2-mal geändert.
Ein Klang zum Sprachspiel.

Max

Beitragvon Max » 20.09.2010, 18:03

Liebe Amanita,

ich glaube das, was mir an Deinem Texte gefällt, trifft auch gleichzeitig seinen (bzw. meinen) Hauptkritikpunkt.

Mir gefällt, das in deinem Text "herbst" nicht nur die Jahreszeit ist, in denen das Laubrauscht und raschelt und sich die Blätter rot, gelb und braun färben. Damit widerspreche wohl auch deutlich meinem Vorredner. Herbst hat auch eine persönliche Bedeutung, die in Deinen Zeilen deutlich wird. Leider (mein Eindruck) weist Du darauf teilweise aber auch überdeutlich hin. So ist der "Seelensturm" mir eine zu deutliche Metapher, die den Bezug des lyr. Ich zum Herbst herstellen und vor allem auch herzeigen soll. Ein einfacher "Sturm" hätte mir an der Stelle genügt, zumal ja die nächsten beiden Zeilen deuitlich machen, dass nicht nur einfach der metereologische Herbst gemeint ist.

Ich will allerdings auch sagen, dass es für mich außerordentlich gelungene Passagen gibt - Strophe 3 ist ein wirklich überzeuigendes und sehr schönes Beispiel.

Liebe grüße
Max

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 05.05.2016, 15:19

Leonies Kommentar erinnert mich an das Stichwort: "Frauen lesen anders":

Leonie Schreibt: "Mir geht es so, dass ich die letzte Strophe am stärksten finde. Sie könnte für mich allein stehen unter der Überschrift HERBST und ein ganzer Film würde in mir ablaufen. Ich kann mir gut vorstellen, dass es vor allem Frauen ähnlich geht."

Ich persönlich finde das Gedicht sehr gut.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 05.05.2016, 21:58

Danke, Klimperer, dass Du das nochmal aus dem Keller geholt hast! Ich hatte es schon vergessen (mein Archiv ist leider mal ab- oder zusammengestürzt ;) .


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