deät lun

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.10.2010, 00:21

deät lun

("das land" > "helgoland"
> halunder, helgoländer friesisch)



grön is dat land
das wieder über narben wuchs
und sprengstofftrichter
nachdem lieutenant commander graves
den knopf gedrückt hatte

rot is de kant
aus der rippenstahl ragt
und ziegel sich exhumieren und brechen
und heimat erodiert
über trottellummen

und die lange anna ist längst
am arsch

witt is de sand
ja scheiße, übersät von 47er-trümmern ist er
und schleimigen braunalgen und meereszeugs
und nur die gezeiten zeichnen weich
und machen kiesel aus buntsandstein

dat sünd de farven
der neu gepinselten hummerbuden
mit kunststofffenstern
und die vogelerklärerin in der gelben
schweizert mir nach

ich ziehe ihr im hinausgehen
das höschen runter
trinke noch ein bier
und fahre ungeliebt
vun't hillige land
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Alma Marie Schneider
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Beitragvon Alma Marie Schneider » 11.10.2010, 14:48

Ich finde den Wechsel von dialekt, der für mich das schöne Heimatlied, die Heimatliebe, das Heile an sich verkörpert, den Wunsch, so soll es sein, so wird es besungen, zum hochdeutschem, dem Ist-Zustand sehr gut.
Eventuell hättest für Franken (wie mich) den Satz "dat sünd de farven" übersetzen sollen. Da steh ich jetzt daneben.
Der Rest wurde verstanden.

Für mich ein tolles Gedicht.

Liebe Grüße
Alma marie
Die Schönheit erklärt man nicht, man empfindet sie (Peter Rosegger).

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.10.2010, 16:04

Moin Alma,

freut mich, dass der Text bei dir so ankommt.

Grön, rot, witt,
dat sünd de Farven

... ist nicht verständlich?

Na, grün, rot, weiß, das sind die Farben ...

LieGrü
(von der viiiel schöneren Insel Juist)

Tom.
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 11.10.2010, 17:09

Hallo, Tom,

gut finde ich das! Sehr gelungen, die niederdeutschen Liedzeilen und die Assoziationen, die man heute dazu haben kann! Es ist ein wichtiger Aspekt zeitgemäßer Naturlyrik, diese Brüche in der Landschafts-Idylle deutlich zu machen! Wobei sich einige Brüche, die du aufzeigst, auf die Vergangenheit beziehen (Sprengstofftrichter, 47er Trümmer). Andere beziehen sich auf die heutige Landschaftszerstörung, so lese ich es jedenfalls: Dass die rote Anna "im Arsch" ist, liegt wohl an Umwelteinflüssen und auch das schleimige "meereszeugs". Dieser Sachverhalt bleibt allerdings für nicht Eingeweihte sicher etwas unklar, daher fände ich es gut, wenn diese Ursachen hier genauso direkt angesprochen würde, wie die Kriegseinflüsse.

Ausdrücke wie "Scheiße" und "am Arsch" provozieren heute keinen mehr. Differenziert ausdrücken tun sie allerdings auch nix. Daher finde ich sie meistens verzichtbar - hier auch.

Viele Grüße
fenestra (das letzte Mal auf Helgoland gewesen, als die rote Anna noch stand)

Sam

Beitragvon Sam » 11.10.2010, 17:40

Hallo Tom,

das gefällt mir ausnehmend gut. Das friesische Gedicht/Lied, dass ja einen Urzustand (und somit ein romantisch verklärtes Ideal) beschreibt, und der Kontrast zu dem, was man heute sieht. Dazu kommt, wie es für viele deiner Texte typisch ist, dass die äußerliche "Verlodderung" mit der innerlichen des Betrachters auf abstoßend-anziehende Weise korrespondiert.

Wirklich gelungen!!

Gruß

Sam

MarleneGeselle

Beitragvon MarleneGeselle » 12.10.2010, 09:12

Kurz gesagt: gut weil krass.

Und die schöne Maid denkt nicht dran, echte Gefühle rüberzubringen. Ist halt nur ein Touri, der ohnehin mit dem nächsten Reisebus wieder abhaut.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 12.10.2010, 09:17

Mir gefällt die Struktur auch ausnehmend gut, dieses Transponieren ins Heute!

Nur die allererste Strophe fällt etwas raus, klingt für mich - im Zusammenhang mit dem, was folgt, aber auch mit ihrem eigentlichen Inhalt - etwas "harmlos".

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 12.10.2010, 10:08

Moin, Ihr Landraddän :o)


@fenestera:

Keine Sorge, die rote Lange Anna steht noch, jedenfalls noch bis letzte Woche. Es steht nur zu befürchten, dass sie im unteren Drittel an einen eingelagerten Salzschicht abbricht in näherer Zukunft. Mit der Umweltzerstörung hat das aber nichts zu tun. Normale Erosion von in Brandung befindlichen Sedimentgesteinen. Deswegen hat man ja auch die Betonbuhne um Helgoland herumgebaut, um diesen Vorgang abzumildern. Wind und Regen kann man aber nicht abhalten. Scheiße und Arsch finde ich gut, das bleibt :o)

@Sam:
Ich baue darauf, dass meine Leser hinreichend "innerlich verloddert" sind (schön hast du das gesagt!) :o)

@Marlene:
Die "Schöne Maid" war ja selbst eine Zugereiste (da erwartet man Plattdütsch, und wird plötzlich angeschwizert), und die Busse von Helgoland konnten an dem Tag wegen Nordsee nicht fahren. Hab dann den Flieger genommen :o)

@Amanita:
Findest du harmlos? Nuja, war immerhin die weltweit größte nichtnukleare Sprengung ... ursprünglich war in der ersten Strophe noch gar nichts vom 'Bösen' drin, aber im Zuge der Verdichtung hab ichs dann so aufgebaut.

Danke Euch sehr für die wohlfeilen Kommentare!

Tom
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 12.10.2010, 10:14

Thomas - den Sachverhalt finde ich natürlich nicht "harmlos", sondern Deine Sprache entspricht m. E. dem Sachverhalt nicht, besonders im Vergleich mit dem, was dann so kraftvoll folgt! Dagegen scheinen mir - vielleicht ja auch nur mir - die Sprengstofftrichter irgendwie so larifarilängstvergangen. Immerhin sollte Helgoland ja vollständig "verschwinden" ...

"Den Knopf drücken" wirkt so sauber, so elegant ... passt hier nicht, finde ich.

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 12.10.2010, 10:37

@Amanita:

ich verstehe, was du meinst, allerdings finde ich nicht, dass die erste Strophe sprachlich irgendwie da rausfällt. Ich finde die selbst recht gut so, wie sie ist.

Soweit mir bekannt ist, ging es bei der Sprengung um die Zerstörung der militärischen Anlagen, und eine Komplettvernichtung wäre billigend in Kauf genommen worden. Und ich finde gerade dieses "Saubere" an einem Knopfdruck (das war wiklich einer, da gibts ein Video von), der alles in Stücke reißt, so bedrohlich. So wie eines Tages ein enter-Tastendruck die Kraftwerke hochjagen wird...
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leonie
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Beitragvon leonie » 15.10.2010, 23:48

Lieber Tom,

mir gefällt das sehr, weil Du im Grunde ja einen Gegenentwurf bietest zur Eigeninterpretation des Helgoländischen "Leitspruchs", Du hältst dem Ideal die Realität entgegen. Dem " So wollen wir sein" - das "So nehme ich Euch wahr"... Dann gibst Du dem "vun´t" einen andern Sinn. Das ist ganz schön gemein, aber gut gemacht. Gerade in der letzten Zeile machst Du die Desillusionierung komplett.
Da wagt einer, (noch dazu im Weggehen), das Höschen runterzuziehen, nicht nur der Vogelerklärerin, denke ich, sondern auch der Insel...

Dafür Liebe zu erwarten, wäre viel verlangt...

Liebe Grüße

leonie

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Beitragvon leonie » 16.10.2010, 13:53

P.S. Benutzen die Helgoländer eigentlich zwei Sorten Platt?

Das ist doch eigentlich merkwürdig, einmal "deät lun" und das andere mal dann "dat land" zu verwenden...

LG leo

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 16.10.2010, 14:32

Hab vielen lieben Dank, Leo ...

'Deät Lun' ist nach meiner Erkenntnis altertümlich (Platt), und wie die Helgoländer heute reden, weiß ich nicht; hab keinen getroffen :o).

In der antiken Sprache (Entdeckung Germaniens durch die Römer über Helgoland) hieß Helgoland 'Abalus' oder 'Basileia'.
Es ist auch nicht gesichert, ob 'Helgoland' von 'Hilliges Land' oder von 'Hallig' abstammt.
Aber wenn man die (zu Tode restaurierten) Hummerbuden am Hafen heute so sieht, passte auch 'Legoland'.

Ich will die Insel auch gar nicht schlechtreden, aber als Juister tut man sich halt schwer, es woanders schön zu finden :o)

Ahoi (nur noch eine Woche),
Tom

p.s.: Ich stelle beizeiten mal Bilder im Polyphon ein von dem Trümmerstrand im Norden der Insel ...
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