unvergessen

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Niko

Beitragvon Niko » 20.10.2010, 16:04




unvergessen



gestern war
fernsehabend
und anschließend skat
gerade eben
mit der mutter telefoniert
und eine halbe stunde internet
später am abend theatergruppe

morgen dann
geht´s in die stadt
freigang
für einen tag

irgendwo
auf einem friedhof
ein grab
Vanessa
1986 - 1999
Zuletzt geändert von Niko am 20.10.2010, 17:01, insgesamt 1-mal geändert.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 20.10.2010, 16:23

hallo, niko!


dein text hat diesen "letzte-strophen-aha-effekt". da liest man sozusagen erst im "richtigen zusammenhang" und macht als leser einen prozess des "erschüttert-werdens" so ein wenig mit, wenn da plötzlich die zahnräder im kopf zu rattern beginnen und alles an seinen platz rückt, um das bild in die richtige perspektive zu rücken, unter der man es eben noch gar nicht sehen konnte.

das gefällt mir an sich sehr gut.
dennoch wirkt mir hier einiges zu konstruiert, um mehr daraus werden zu lassen.
vielleicht interpretiere ich auch als "konstruiert", was bewusst sehr "distanziert" formuliert ist.

"irgendwo
auf einem friedhof
ein grab"

und dann die erkenntnis, dass da ein mädchen nur dreizehn jahre alt wurde und gerade erst (in diesem jahr) aus dem leben gerissen wurde. die lücke, die dadurch im lyrIch gerissen wurde, lässt es sehr "mechanisch" sein leben weiterführen. insofern ist der notizartige, tagebuchhafte charakter des tonfalls hier sehr stimmig für mich.

dennoch: ein erst so kürzlich erlittener verlust bewirkt m.E. entweder, dass das lyrIch dann auch den namen der person und die daten (im sinne von fakten) nicht nennen mag und einfach "weitermacht" - also alles von sich schiebt und verdrängt. oder es führt dazu, dass es dann nicht "irgendwo auf einem friedhof ein grab" ist, sondern vanessa, die dort liegt. nicht irgendwo - sondern mitten in den gedanken des lyrIch.

für mich funktioniert dieses "mittelding", das dein text mit seinem schluss erzeugt, nicht so recht überzeugend.
theatergruppe, internet (nur eine halbe stunde?), telefonat mit mutter... und dann der geplante ausflug in die stadt. um rauszukommen. bis dahin macht es für mich sinn. es würde diesen sinn auch machen, wenn vanessa dann gar nicht namentlich und mit geburts- und sterbejahr ins spiel käme. also völlig verdrängt einstweilen auf "irgendeinem friedhof in irgendeinem grab" läge. weil das lyrIch noch nicht bereit ist, sich der wahrheit zu stellen.

denn als lyrICH nennt er sie ja in der letzten strophe. erinnert.
wo er doch sonst einfach nur versucht, sein "ich" als funktionierende rolle im alltag weiterzuspielen. nicht denken, nicht fühlen, nur tagespläne abspulen. tun, was man eben so tut, wenn man "lebt".

entweder man vergisst zu leben - in erinnerung an sein eben erst verstorbenes kind. oder man lebt - und kann nur leben, indem man verdrängt. in einer art trance. ferngesteuert. aber dann versucht man, NICHT zu erinnern. dein text aber will doch eigentlich das gegenteil sagen... und genau da "spießt" es für mich....


lieber gruß,

keinsilbig

Niko

Beitragvon Niko » 20.10.2010, 16:51

hallo keinsilbig!

eigentlich - ich gebe zu, es ist nicht leicht, das heraus zu lesen - geht es um das leben des mörders in einer haftanstalt. was sich dann in der letzten strofe erschließen sollte (der mord) und durch "für einen tag" in die stadt. kommt aber scheinbar nicht so doll rüber. irgendwo im text hatte ich das wort "freigang" eingebaut. was ich aber rausnahm, weil mir das zu dick aufgetragen schien...

der text ist schon ein paar donnerstage alt. er fiel mir kürzlich aus der word-datei vor´s auge. und mir war danach, ihn zu zeigen (und natürlich bekritisieren zu lassen)

liebe grüße: niko

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.10.2010, 16:57

Hallo Niko,

dass es sich um das Leben eines Mörders handelt, geht wirklich nicht aus dem Text hervor.
Das Wort "Freigang" würde ich da tatsächlich noch einbauen. Und ob dann der Name des Opfers passt. Hm, ich weiß nicht.
Bekommt ein Mörder überhaupt Freigang?

Saludos
Gabriella

Niko

Beitragvon Niko » 20.10.2010, 17:03

ja, ich denke auch, gabriella. hab "freigang" wieder eingesetzt. und auch die jahreszahl verändert (es handelt sich um fiktive daten). ich denke, dass mörder freigang bekommen. zumindest nach einer weile knast und guter führung.

liebe grüße: niko

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 20.10.2010, 19:01

hallo, niko,


auf den mörder (und die beschreibung seines knast-wochenprogramm-alltags) wäre ich beim besten willen nie gekommen! das mag - ähnlich wie die "atelier-sache" von amanita, bei der ich auch nicht darauf gekommen wäre, dass hier jemand das atelier der verstorbenen maler-freundin sichtet - daran liegen, wenn szenarios so "spezielle" ausnahmesituationen zum thema haben wie eben auch hier. dann bräuchte man doch vom autor ein wenig orientierungs- oder starthilfe, was man hier eigentlich "betrachtet".

manchmal ist schwer "auszublenden", was man selbst als urheber "weiß" und sich in die perpektive des unvorbereiteten lesers hineinzuversetzen. denn was man weiß, kann man nicht bewusst ausblenden... ist dann nie leicht abzuwägen, wo man schon zuviel "erzählt" und somit spannung nimmt und wo viel zu wenig.


liebe grüße,

keinsilbig

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 20.10.2010, 23:04

Hallo Ihr! Ich weiß natürlich nicht, wie der Text ohne "Freigang" genau aussah, aber mit hatte ich überhaupt keine Verständnisschwierigkeiten.

Ich habe nur ein kleines Problem mit der Überschrift - die wirkt auf mich konstruiert. Und eben nicht so ganz passend, weil mir die Perspektive für dieses Wörtchen überhaupt nicht klar wird.

Max

Beitragvon Max » 21.10.2010, 15:45

Hallo Niko,

ich stimmte Amanita zu: Mit dem "Freigang" ist der Text gut verständlich. Umgekehrt scheint mir das Wort aber auch unabdingbar für das Verständnis.
Meine Frage ist eher (kritisch): Schildert das wikrlich das Leben eines Mörders oder eher eine Art uniformer Vorstellung, wie dieses Leben sein könnte - und: was sagt der Text dann über diesen Mörder? hat er eine Stoßrichtung?

Liebe Grüße
Max

Niko

Beitragvon Niko » 21.10.2010, 20:58

genau so, keinsilbig, wie von dir beschrieben, ist es mir ergangen. man ist oft als verfasser dem eigenen text am blindesten gegenüber.

mit dem titel hast du völlig recht, amanita! vorher hieß es "freigang" aber das war mir ja dann zu dicke.....ich überleg mir was gehaltvolleres.

vielleicht, max, soll es weniger etwas über den mörder sagen, sondern vielmehr eine diskrepanz zeigen. die man im strafvollzug suchen und finden kann. man kann erkennen, dass das leben für den, der ein leben beendete, weitergeht. was zunächst für sich völlig wertneutral ist. ein wenig sollte der text auch zb die frage aufwerfen, ob ein mord und der daraus resultierende strafvollzug, respektive die art des strafvollzugs, in einem ausgewogenen verhältnis stehen.

ich weiß, dass das jetzt wieder endlosdiskussionen aufwerfen kann. aber alleine das darüber nachdenken und diskutieren kann ja auch sehr fruchtbar sein.
vielen dank für euer kommentieren!

liebe grüße: niko

Gerda

Beitragvon Gerda » 21.10.2010, 23:21

Guten Abend Niko,

bereits der Titel lässt bei mir sofort Bilder entsehen und zwar das eines Mahnmales für gefallenen Sodaten
oder auch das einer Grabstätte.
In der letzten Strophe finde ich die Bestätigung für dafür.
Der "Abspann" in den Strophen dazwischen soll den Gefängnisalltag des Mörders zeigen, zumindest soll beim Leser eine Vorstellung davon erzeugt werden.
Das erst Mal zum Inhalt, den ich ohne Erläuterungen so verstanden habe.

Für mich mangelt es dem Text an Glaubwürdigkeit.
Mich beschleicht ein merkwürdiges Gefühl, dass der Gefängnisalltag und die Bemerkung über das Opfer aus derselben Perspektive im lapidaren Ton einer Schilderung skizziert werden.
Die Schilderung des Gefängnisalltags nimmt hierbei zudem einen größeren Raum ein, als die Bemerkung zum Grab, was ich in Anbetracht des Titels ziemlich irritierend finde.
Hier werden Klischees ohne jede Differenzierung, ja ohne einen Bruch, der ihre Benutzung rechtfertigen könnte verwendet, was meiner Meinung einem Text, der sich zumindest ansatzweise mit der Problematik Opfer/Täterrolle auseinanderzusetzen soll, nicht bekommt.
Mir ist auch nicht klar worauf das hinauslaufen könnte.

Auch wenn ich deine Stellungnahme, in der u. a. zu lesen ist:

ein wenig sollte der text auch zb die frage aufwerfen, ob ein mord und der daraus resultierende strafvollzug, respektive die art des strafvollzugs, in einem ausgewogenen verhältnis stehen.


zu Hilfe nehme, steigert sich das ungute Gefühl, dass hier zwar eine gute und hehre Absicht dem Autor die Hand geführt hat, im Text jedoch sich von dieser Hintergrundproblematik nichts finden lässt.
Vielleicht wäre es eine Möglichkeit mit Dialogen zu experimentieren, also verschiedene Stimmen sprechen zu lassen.

Liebe Grüße
Gerda


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