Kindheit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 30.10.2010, 19:10

Und höre doch keinen Ton.

Sehe Kupfermünzen langsam fallen
auf Kopfsteinpflaster.

Ein Kanal gurgelt, Abwasser rauscht.

Hinter mir ein Laden mit alten Stoffresten.

Steile Treppen, dünnes Moos an den Rändern.
Häuser ducken sich schäbig in den Rinnstein.
Dämmrige Gassen wie in Schmerzen gekrümmt.

Plötzlich prasselt schwerer Regen.
Eine dicke schwarze Katze presst sich in einen Steinbogen.


Endlich Weite, der große Hof,
das trübe Haus darin treibt im Regen
Das Haus meiner Kindheit, es riecht wie ein fauler Zahn.


Und höre doch keinen Ton
in die Stille der stockenden Zeit
fällt der Staub.


Eine Frau, schwarz gekleidet dreht sich im Hof wie ein Kreisel.
Ein wirres Flimmern zieht mich auf sie zu.

Doch lautlos schmilzt sie dahin, verblasst.

Nur Regen, graue Mauern, nur Regen, graue Mauern.
Höre keinen Ton.

african queen

Beitragvon african queen » 31.10.2010, 11:35

Hallo Wüstenfuchs,
der Staub der Zeit fällt in diese Kindheit. Bewundere deine treffende,
faszinierende Wortwahl, als Leser sehe ich die Szene direkt vor mir,
kann den Geruch wahrnehmen, den Regen hören. Den Lauten, Tönen, Melodien
der Kindheit folgen. Für mich eine ausgezeichnete Form, eine oder vielleicht Teile
deiner Kindheit mir zugänglich zu machen. Könnte doch ein Kapitel eines gern
gelesenen Buches sein. Gefällt mir mir ausgezeichnet. Kompliment!!!!
Glaube nämlich, daß es sehr sehr schwer ist, die eigenen Empfindungen, bzw. dessen
was in uns gespeichert ist, dem Leser so interessant zu übermitteln.
lg
african queen

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 31.10.2010, 12:45

mir gefällt das spielt mit den geräuschen. von anfang an malt das gedicht töne, spielt mit der melodie der erinnerung, darauf wird man als leser eingestimmt mit dem ersten satz. auch die bilder mag ich, finde sie stimmig, obwohl es beinahe ein klischee ist, dass es in leicht traurigen szenen immerzu regnet. aber gut, irgendwie passt es hier. die kupfermünzen, der kanal, die alten stoffreste, das lässt so ein sepiafarbenes bild entstehen, was sehr gut zum inhalt passt.
ganz besonders mag ich die kreiselnde frau, da kommt so etwas surreales in die geschichte.
wüstenfuchs hat geschrieben: Häuser ducken sich schäbig in den Rinnstein.

das ist die einzige stelle, die ich unstimmig finde. weil sich die häuser schäbig ducken, gut, wenn schäbige häuser sich ducken, aber warum ducken sie sich schäbig? wie duckt man sich schäbig. und außerdem kommen dann die dämmrigen gassen wie in schmerzen gekrümmt. das ist mir persönlich ein wenig viel des gebückten auf einmal.
aber auf jeden fall ein gedicht mit stimmigen bildern und einer guten melodie.

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 31.10.2010, 15:55

Liebe African Queen, vielen Dank für dein Lesen.

Liebe Xanthi, da hast du mich erwischt, die Zeile lief erst anders, dann habe ich das spontan so geändert, aber es ist nix,
werde das Alte wieder hervorkramen,

Best Sunday,

Ben

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 31.10.2010, 17:26

Mir gehts genauso - das Gedicht gefällt mir sehr, bis auf diese eine Zeile, da ducken sich die Häuser für mich zu tief.

Mir hat es besonders der Laden mit den Stoffresten angetan, der in diesem Kontext fast schaurig wirkt (obwohl Stoffreste doch erstmal gar nichts Schlimmes sind).

Ich finde, Du hast sehr gut Vergangenheit eingefangen ...

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 31.10.2010, 18:04

Ja, diese Zeile muss ich ändern, danke Amanita.

Plane einzelne Texte aus der Kindheit zu schreiben, weil eine lange Prosa irgendwie bei mir nicht so auf den Punkt kommt. Da fehlt dann Dichte und es wird zu beschreibend...

Viele Grüße
Fux

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.11.2010, 10:30

Vielleicht wäre es am besten, das schäbig ganz zu streichen. Ich hatte es anfangs als Adjektiv, damit hatte ich dann drei Zeilen mit Adjektiven und gleichem Satzbau.
Das gab einen monotonen Gleichklang.

Viele Grüße
Fux

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.11.2010, 10:33

Für mich braucht es das "schäbig" nicht; das Bild, das der Text insgesamt weckt, trägt das Adjektiv ohnehin mit sich.

Sehr stimmiges, stimmungsvolles Gedicht, gefällt mir!

Liebe Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 01.11.2010, 13:09

Liebe Zefira,

freut mich sehr, danke.

Fux

scarlett

Beitragvon scarlett » 02.11.2010, 14:26

Hi Ben,

schön, wieder was von dir zu lesen.

beinah schon unnötig zu sagen, dass du mich mit diesen gedicht sofort hast- da ist zum einen das thema, das mich besonders angeht und berührt, zum anderen die ausführung, dieses hin und her schwingen zwischen den bildern, scheinbar sind sie anneinandergereiht, in wahrheit aber aufeinander bezogen.

allerdings: das nicht hören ist ja hier programm, ich verstehe auch sehr gut, wie das gemeint ist. es ist wie mit traumsequenzen oder stummfilmen ... ok.
allerdings passt mir "ein kanal gurgelt, abwasser rauscht" dennoch hier nicht herein. warum? weil es dafür keine visualisierungsmöglichkeit gibt. zumindest nicht für mich.

mit dem ducken sich schäbig hab ich dafür überhaupt kein problem, aber da ich die einzige bin, sollte dich das nicht weiter irritieren. ich lese dieses schäbig als verschämt, vielleicht sogar als kleinlich, und es lässt somit für mich einen ganz bestimmten rückschluss zu auf die menschen, die in diesen häusern wohnen.

sehr gern gelesen und hoffentlich bald noch mehr davon!

lg
monika

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 02.11.2010, 16:02

Liebe Scarlett,

habe ehrlich gesagt auf genau diesen Einwand mit der Stille und dem nachfolgenden Rauschen gewartet, mich fast gewundert, dass noch niemand ihn gebracht hat. Ging mir nämlich selbst ein wenig wie dir, genau an dem Punkt mit dem Kanal.

Freue mich, dass du es gerne gelesen hast und werde mich bemühen, mal kontinuierlicher dran zu bleiben am Schreiben,

Viele Grüße
Fux

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 02.11.2010, 16:30

ein sehr feinsinniger und wunderbar unprätentiös auftretender text, der diesen teppich aus erinnerungen, verklärung, zauber und kindheitsfantasien webt, der einem einen einblick wie hinter einen vorhang aus zeit gewährt und hineinzieht in die szenerie und das gefühlte erinnern.

sehr gelungen gemacht finde ich das.
auch, wenn für mein empfinden einige wenige sätze im kontrast zum großen sprachlich dichten und dennoch erzählenden rest zu "sperrig" wirken... aber das sind peanuts im vergleich zur intensiven wirkung, die der text zu entfalten vermag.


gern gelesen!


lieber gruß,

keinsilbig

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 02.11.2010, 22:16

Freut mich sehr kleinsilbig,



lieben Gruß
Fux


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