Das Zelt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 02.04.2011, 11:34

Das Zelt deiner Träume:
Wie du es verklinkert hast,
verputzt und angestrichen.

Wie es den Häusern gleicht,
in denen du
niemals wohnen wolltest.

Der Rasen sorgsam frisiert
und aller Wildwuchs
in den Gärten gezähmt.

Die Akrobaten
sind still geworden
ihre Auftritte selten

in der gesicherten Manege
mit vielfachem Netz und
zappelnden Phantasien.

Das Loch im Dach,
durch das Regen fiel,
hast du zugestopft

und das Licht der Sterne
berührt dich nicht
wenn du dir sagst:

Das ist das Leben.
So muss es sein.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 02.04.2011, 21:02

Hallo Leonie,

ein Text, der für mich als lyrische Prosa wunderbar funktioniert. In der Lyrikfassung fehlt mir persönlich etwas in der sprachlichen Umsetzung, und es ist mir inhaltlich zu sehr ausgeführt und explizit benannt.
Das liegt vermutlich auch mit an meiner unterschiedlichen Erwartungshaltung was Lyrik und Prosa betrifft.
Mal zum anschauen:

Das Zelt deiner Träume, wie du es verklinkert hast, verputzt und angestrichen.
Wie es den Häusern gleicht, in denen du niemals wohnen wolltest.
Der Rasen sorgsam frisiert und aller Wildwuchs in den Gärten gezähmt.

Die Akrobaten sind still geworden.
Ihre Auftritte selten in der gesicherten Manege mit vielfachem Netz und zappelnden Phantasien.

Das Loch im Dach, durch das Regen fiel, hast du zugestopft und das Licht der Sterne berührt dich nicht wenn du dir sagst:
Das ist das Leben. So muss es sein.


Die letzten beiden Zeilen, oder im Gedicht die letzten drei Strophen, gefallen mir am besten.
Ein bisschen Schade finde ich den frisierten Rasen gegen den Wildwuchs, weil das ein so oft verwendetes Bild ist. Im Zusammenhang mit dem Zirkuszelt könnte ich mir vorstellen, dass du etwas finden könntest, was das auf neue Weise zeigen kann und zugleich von beiden Welten sprechen kann? Nur als Beispiel: Der Teppich sorgsam vom Sand befreit und alle Tiere gezähmt/dressiert.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 02.04.2011, 21:24

Hallo Leonie,

ich mag es auch in Versform leiden, weil ich wahrscheinlich anders lese als Flora. Aber es gibt ein Bild, was sich mir nicht erschließt. Hier haben wir immer den Kontrast zwischen dem Ist und dem Traum, dem was hätte sein können. Positiv gegen Negativ. Das geht hier für mich nicht auf:
in der gesicherten Manege
mit vielfachem Netz und
zappelnden Phantasien.

Die Manege mit den vielfachen Sicherungen und Netzen ist mir klar. Kein Risiko. Aber was sollen die zappelnden Phantasien? Phantasien sehe ich positiv besetzt. Zappend kann lebhaft bedeuten, wäre dann auch positiv. Dann aber passt es nicht. Dachtest Du an eingesperrte Phantasie? Die wilden Gedanken im Tigerkäfig?

Gruß
Henkki

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 02.04.2011, 21:57

Liebe leonie!
Mit dieser Stelle habe ich auch meine Probleme, da ich sie sprachlich nicht schön finde. Die Fantasien deute ich hier eingesperrt/ im (eigentlich sichernden) Netz zappelnd wie Fische.

Allerdings sehe ich - für mein eigenes Lesen - weitere Problemstellen: Vor allem den Übergang von der ersten zur zweiten Zeile, das - nach meinem Empfinden - zu abrupte Verklinkern des Zeltes. Das Textile und die Klinker gehen für mich nicht zusammen. Sollen sie zwar auch nicht, aber dann fehlt mir das Anliegen, der Standpunkt dazu, ein Vertiefen dieses Gegensatzes. Ich "sehe" da nur Stoff, der zwischen Klinker gequetscht wird und zerreißt, sinnlos, durch einen blöden (architektonischen) Irrtum oder so was. Wenn dann eine Art "Auflösung" käme, dann käme ich damit wohl zurecht. Aber es folgt: verputzt und angestrichen. DAS macht man nach Verklinkern ja eigentlich nicht. Und so geht es für mich mit einem ziemlichen "Materialgewusel" weiter, ohne dass es zum Bild für etwas wird, zumal der Rasen, der dann erwähnt wird, ja eher harmlos daher kommt und der Regen durch das Loch im Dach dem Leser (jedenfalls mir) gleichsam auf den Kopf tropft und ich mich frage, warum man es offenlassen sollte. Auch im Zelt würde das ja keinen Sinn machen.

Die Idee und die Struktur gefallen mir gut, aber die Bildfolge finde ich nicht so glücklich.

Ich verstehe allerdings nicht, warum man diesen Text zur lyrischen Prosa ummodeln sollte, Flora.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 02.04.2011, 22:14

Ich gebe zu, dass ich an der Stelle mit dem Regen auch hängengeblieben bin. Da sehe ich auch bei einem Zelt keine Qualität drin. Denke aber, dass es eine Metapher auf romantische Armut sein könnte.

H

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 02.04.2011, 22:24

Ja, die romantische Armut liegt nahe, aber nach dem Wort Rasen ist sie für mich nicht mehr glaubwürdig ...

Rasen hat immer mit kleinbürgerlichem Besitztum zu tun (das samstägliche Zelebrieren des Rasenschneidens mag da für sich sprechen) und ist ja hier wohl auch so gemeint. Und dann ist das Loch im Dach keine Romantik mehr, sondern ein Versicherungsfall.

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 02.04.2011, 22:47

Stimmt. Der gemähte Rasen ist bei mir auch auf der Negativseite. Das Loch im Zeltdach positiv, dass es geflickt ist und duch ein Hausdach ersetzt negativ. Aber Du hast recht, es geht ein wenig durcheinander.

Grüße
Henkki

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 03.04.2011, 10:54

Hallo Amanita,

Ich verstehe allerdings nicht, warum man diesen Text zur lyrischen Prosa ummodeln sollte, Flora
Weil für mich zumindest allein Zeilenumbrüche, die Optik aus einem Prosatext kein Gedicht machen und ich hier nicht erkennen kann, was sie für eine Funktion erfüllen sollen, welche textimmanente Gründe es für sie gibt.

Inhaltlich habe ich hingegen keine Schwierigkeiten. Ich denke es zeigt kein eindeutiges schwarz/weiß hier, es ist eben nicht immer alles so einfach in negativ und positiv zu trennen und das ist LIch bewusst. Mir würde ohne diese menschliche "Verwirrung", die Unauflösbarkeit das Berührende und etwas Vom-Leben-Erzählenkönnen des Textes verloren gehen. Eine stringente Linie würde LIch für mich auf ganz andere Weise zeigen und auch den inneren Konflikt verschwinden lassen, der für mich Beweggrund des Gedichtes ist. Ja, das Loch im Dach wäre auch beim Zelt schon nicht sinnvoll gewesen, es ist auch gut, dass es gestopft wurde und trotzdem! Gerade deshalb ist mir das das liebste Bild im Text.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon Zakkinen » 03.04.2011, 12:31

Ich glaube auch nicht, dass es unbedingt so klar aufgeteilt sein muss. Das passiert eher reflexartig, weil es mir unklar erscheint, nicht ganz stimmig. Dann versuche ich die Konstruktion so zu verstehen, um zu sehen, ob ich doch einen Zugang finde. Wie gesagt, gestolpert bin ich auch nur über die zappelnden Phantasien.
Natürlich wird kein Gedicht daraus nur durch Zeilenumbruch. Lyrische Prosa passt ganz gut als Bezeichnung, ob mit oder ohne Umbruch. Aber ich finde es dann auch egal, ob es so oder so gesetzt wird.
Gruß
Henkki

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.04.2011, 13:09

Hallo, Ihr Lieben,

danke Euch für die vielen Rückmeldungen.

Flora, ich glaube, die Setzung hat für mich einfach mit dem Tempo zu tun, in dem man es liest, ich kann mich da mit der Prosa-Setzung überhaupt nicht anfreunden.

Ansonsten geht es mir damit, wie Du in Deinem letzten Posting schreibst. Es ist wirklich ganz viel nicht stimmig, das ist es ja gerade. Es ist ja auch ein Haus der Träume. Es ist absurd, es zu verklinkern und noch absurder, es dann noch zu verputzen und anzustreichen. Es wird ja immer hässlicher dadurch, immer weniger vom Eigentlichen bleibt.

Das Dach wäre für mich auch aufs Zelt beziehbar. Man sagt doch auch "Zeltdach", oder? Im Traumzelt macht der Regen nichts aus, er kann gegen die Sterne nicht an. Das Zustopfen sperrt in erster Linie das aus, was einen an das Zelt noch erinnert: Die Frage, die natürlich nicht so klar beantwortet ist, wie der Schluss es suggeriert.

In diesem Fall habe ich den Eindruck, dass der Text durch Änderungen in einer Richtung, die stimmiger wäre, eher verliert. Über die Phantasien muss ich allerdings nochmal nachdenken...Ich hatte erst "Herz", aber das kam mir zu platt vor.

Danke Euch und liebe Grüße

leonie

Ich merke, dass vieles für Euch nicht so lesbar ist, wie ich es für mich lese. Aber ich merke auch, dass es für mich im Moment noch stimmig ist.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.04.2011, 13:16

Hallo leonie, bei mir ist es das zappelnd, das nicht aufgeht, egal ob mit Fantasie oder Herz oder Ähnlichem.

Ansonsten sind mir die Gegensätze/ Ungereimtheiten nicht explizit genug.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.04.2011, 14:04

Hallo leonie,

ich würde an diesem Gedicht überhaupt nichts ändern. Für mich ist es so sehr stimmig. Gerade die Ungereimtheiten/Widersprüche zeigen doch - nach meiner Lesart - sehr gut auf, dass LI sich hier bewusst ist/darüber sinniert, dass es sich selbst so viel verbaut hat und das Wilde einsperrt, statt es rauszulassen. Dieser Zwiespalt kommt hier gut zum Ausdruck, finde ich. Da ist so viel Wildes, Riskantes, das LI eigentlich gerne tun möchte. Die letzten beiden Zeilen lese ich deshalb leise und resignierend.

Saludos
Gabriella

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leonie
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Beitragvon leonie » 03.04.2011, 17:33

Liebe Amanita,

seufz, für mich passt es, deshalb ist es schwierig, da jetzt zu ändern. Ich denke aber, es wird wohl eher ein Text für meine Privatsammlung. (Auslöser war übrigens der Begriff "Traumklinker" auf einem Werbeprospekt).

Liebe Gabriella,

ich freu mich, dass Du es auch stimmig findest.

Danke Euch beiden.

Liebe Grüße

leonie


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