Ach, Jungs

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 14.06.2012, 21:31

Ach, Jungs

Die letzten Geheimnisse der Welt,
so war heute in der Zeitung zu lesen,
wolle man endlich ergründen.

Die Hoffnung ruhe
auf einem Teilchenbeschleuniger
und wir anderen, wir ganz Normalen
könnten sogar darauf spazieren gehen.

Auf der Hoffnung spazieren gehen?
fragte ich mich. Aber das mache ich doch
mein Leben lang.

Ach, Jungs, wer weiß schon,
was über den Sternen wohnt?

Über den Sternen und
jenseits der Grenzen eurer
so ehrwürdig grauen Zellen?

Baut mir lieber ein Haus aus Leben.
Baut es mir hinter den Horizont.

Ja, das wäre was.
Ein Haus, in dem ich
von ferne hören könnte
wie einer im Himmel
lauthals lacht.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 14.06.2012, 21:34

leonie, sehr schön spielerisch-kritisch!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 14.06.2012, 22:45

Hallo leonie,

gefällt mir gut. Vor allem diese Ironie, in die du alles verpackt hast. Besonders gelungen finde ich die letzte Strophe.

Liebe Grüße
Gabi

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 15.06.2012, 09:05

auch ich bin ganz angetan von dieser art, zeitungsnachrichten als anlass für ein spielerisches gedicht zu nehmen. vom teilchenbeschleuniger in ein haus hinter dem horizont geführt zu werden, in dem man einen lauthals lachen hört.

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leonie
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Beitragvon leonie » 15.06.2012, 12:30

Danke für Eure Rückmelungen, Amanita, Xanthi und Gabriella, ich freue mich!

Liebe Grüße

leonie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 16.06.2012, 20:21

Hallo Leonie,

bei mir kommt das Spielerische, wenn das so von dir intendiert war, nicht an. Ich finde aber viele Aspekte darin, die mich ärgern oder nachdenklich machen, und die mich dann auch wiederum meine Reaktion hinterfragen lassen. Auch die Frage, wie das mit diesem Gott ist, den das LIch über die "unnormalen" (wessen Sichtweise ist das?) Menschen lachen lässt, und warum LIch das hören möchte, oder warum mich die Geschlechterrollenzuweisung durch das "Jungs" so ärgert, oder das vereinnahmende "wir" der zweiten Strophe, diese Gegenüberstellung und das "eurer" in Strophe fünf ...

Im Zusammenhang mit Wissenschaft und Entwicklung weckt das "Bauen eines Hauses aus Leben" eher eine gruselige Vorstellung für mich. Ich sehe schon die Zellen wachsen. :eek:

Vielleicht ist es auch der Zeitungskontext, der mich hier zusätzlich irritiert. Würde es von einem Ausschnitt aus einem Interview erzählen, würde sich das vielleicht etwas relativieren. Wobei allerdings das Phänomen, dass sie direkt angesprochen werden und das auf eine sehr vertrauliche und übergriffige Weise, obwohl sie dem LIch nicht persönlich bekannt sind und auch keine Möglichkeit haben auf das Gesagte, oder das, was ihnen von der Zeitung oder LIch in den Mund gelegt wurde, einzugehen, auch dann noch bestehen bleibt.

Die dritte Strophe gefällt mir sehr gut, beim Rest entsteht für mich dann wie du siehst mehr Reibung, als dass ich mitgehen könnte, was ja aber nicht gegen das Gedicht sprechen muss. Soweit mal meine Eindrücke.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 16.06.2012, 20:45

Mal eine Zwischenfrage: Warum - ich habe es nicht nur von Dir "gehört", Flora - sollte ein wir immer vereinnahmend gemeint/ gelesen werden? Ich fühle mich durch dieses wir eigentlich selten mitgemeint, sehe eher eine Gruppe (in sich) "Gleichgesinnter", wie auch immer, warum auch immer, die mit mir nichts zu tun haben, außer dass ich über sie lese.
Mir ist, im Gegenteil, das ich manchmal zu sehr Einzahl. Wenn ich in einer Gruppe bin - und seien es Fußgänger an einer Ampel, also nix Weltanschauliches - und meine sie, sage aber ich, fehlen doch die restlichen sieben oder acht, die mitwarten?
Natürlich kann ich nicht voraussetzen, dass die anderen (auch alle - so wie ich z. B.) an ihr krankes Kind zu Hause denken oder es eilig haben, aber wenn es ums Warten geht, hätte ich sie - als Leser - schon gern dabei!

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 17.06.2012, 09:31

Hallo Amanita,

Mal eine Zwischenfrage: Warum - ich habe es nicht nur von Dir "gehört", Flora - sollte ein wir immer vereinnahmend gemeint/ gelesen werden? Ich fühle mich durch dieses wir eigentlich selten mitgemeint, sehe eher eine Gruppe (in sich) "Gleichgesinnter", wie auch immer, warum auch immer, die mit mir nichts zu tun haben, außer dass ich über sie lese.
Wie ich das "wir" lese ist vom jeweiligen Text abhängig. "Immer" trifft es von daher für mich sicher nicht. Ich verwende es ja selbst auch oft in meinen Texten.

Die Hoffnung ruhe
auf einem Teilchenbeschleuniger
und wir anderen, wir ganz Normalen
könnten sogar darauf spazieren gehen.
Hier wüsste ich jedoch nicht, wie ich es anders lesen sollte? Ich habe schon den Eindruck, auch durch den Tonfall des Textes, dass er genau damit arbeitet? Stünde da z.B. "und wir gingen gestern darauf spazieren" würde ich mich sicher nicht angesprochen, oder vereinnahmt fühlen. Und auch mit "und wir könnten sogar darauf spazieren gehen" hätte ich kein Problem, weil das offen wäre.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 17.06.2012, 09:33

Gut, dass es nicht immer so ist, sondern subjektiv. Denn ich sehe hier so gar nichts "Vereinnahmendes" - das ist dann wohl eine Frage des Blickwinkels.

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leonie
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Beitragvon leonie » 17.06.2012, 11:07

Liebe Flora,

eigentlich soll der Text ruhig ärgern. Es ist eine Reaktion auf ein Imponiergehabe, das im Normalfall ja eher in der maskulinen Spezies veranlagt ist. Und darauf soll es einfach ein Spott sein. Ein Lachen über Überheblichkeit oder ein Überschätzen der eigenen Fähigkeiten. Ähnlich wie bei "Des Kaisers neue Kleider", nur mit etwas anderem Schwerpunkt.

Es ist ja schön und gut, was man mit diesem Teilchenbeschleuniger so erforschen kann, aber die letzten Geheimnisse der Welt, na, da plustern sich die Wissenschaftler aber ganz schön auf. Ich finde, da darf frau sich schon mal mit einem schulterklopfenden "Ach, Jungs" lustig machen...
Und ich denke manchmal, wenn es einen Gott gibt mit einer schöpferischen Kraft, dass er das doch lustig finden müsste, wenn Menschen sich so aufspielen.

Das "wir" finde ich im Nachhinein selber gar nicht so gut. Ich denke, ich ändere das in "die", was hier aber eher noch einmal verschärfend wirkt.

Danke an Dich und auch nach einmal an Dich, Amanita.

Liebe Grüße

leonie


zum "Wir", Amanita:

Ich glaube, gerade, wenn man mit einem Text Leser gewinnen will, muss man mit dem "wir" vorsichtig umgehen, wenn man sich nicht ganz sicher ist, dass sie übereinstimmen. Denn sonst schlägt es schnell in Abgrenzung um: Mich betrifft das so nicht.
Wenn man "Ich" verwendet, kann der Leser sich identifizieren, hat es aber sozusagen selber in der Hand. "Wir" übernimmt das gewissermaßen für ihn und dagegen wehren sich viele innerlich.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 17.06.2012, 11:57

Liebe Leonie,

ich finde, dass du da einen sehr wichtigen Aspekt aufgreifst, nämlich den, dass zwischen der Wissenschaft im Blauen Turm und den normalen Menschen in ihren Häusern voller sinnlich erfahrbarem Leben eine immer größere Kluft klafft. Was da im Bereich der Quantenphysik, der Multiversen und der künstlichen Intelligenz geforscht wird, das wird unser Leben irgendwann komplett umkrempeln - und ein Großteil der Menschen ist in diese Umwälzungen nicht eingebunden. Von daher hat das Gedicht für mich noch eine größere Dimension. Dass du die "Jungs" ansprichst, geht für mich klar, denn es sind tatsächlich überwiegend Männer, die in solche Extrembereiche vordringen. Dass das lyrische Ich sie überheblich findet, weil sie behaupten, die letzten Geheimnisse der Welt zu ergründen, ist vielleicht ein bisschen unfair, denn das liegt überwiegend an der Presse, die so etwas reißerisch und mundgerecht aufbereitet, weil es sonst niemand versteht und liest.

Den letzten Teil deines Gedichts, dieses "baut mir lieber" finde ich unbefriedigend. Ein Haus aus Leben, was ist das? Und hinter dem Horizont? Da wären wir doch wieder genau dort, wohin die Forschung zielt, nämlich das Leben aus seinem Korsett des Hier und Jetzt zu befreien. So hast du es aber nicht gemeint, sondern es ist eher eine vage, romantische Formel, die für mich nicht sinnlich erfassbar ist und mit dem handfesten, bodenständigen, energiedurchpulsten Leben auf der Erde wenig zu tun hat. Ich würde den Schluss noch etwas konkreter, sinnlicher gestalten als wirkliches Gegengewicht zu dieser abgehobenen Forschung. Das ist aber auch nur meine Sichtweise, vielleicht auch deswegen, weil ich mit einem Gottesbegriff nichts anfangen kann.

Viele Grüße
fenestra

scarlett

Beitragvon scarlett » 19.06.2012, 20:39

liebe leonie,

ich mag dieses mit einem augenzwinkern geschriebene gedicht eigentlich sehr, die letzte s, das bild mit dem einem, der im himmel lacht, ist echt stark.

etwas verquer kommt es mit jetzt allerdings in der s2 vor. ohne dieses wir.
es entsteht ein etwas seltsames bild - die hoffnung ruhe auf einem teilchenbeschleuniger und die anderen, die normalen - wer? die anderen teilchenbeschleuniger? oder gar die anderen hoffnungen???
ich verstehe zwar schon, worauf du hier hinaus willst, die jungs/die forscher/erfinder usw. einerseits- die normalen, anderen menschen eben andererseits, aber es ist grammatisch nicht genau.
egal, zumindest aber solltest du die schreibung einheitlich gestalten, entweder die Anderen, die Normalen - oder aber die anderen, normalen /menschen/.

vielleicht bin ich ja aber auch gerade mal wieder etwas bedeppert? im grammatischen urwald unterwegs ...
dann vergiss das bitte.

gern gelesen!

lg
monika

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.06.2012, 22:32

Ich finde die "Wir"-Version um Längen besser! (Aber ich gehöre ja auch nicht zu den Wir-Ablehnern ...)

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.06.2012, 12:28

Ich liege gerade darnieder und kann nicht gut am PC sein. Melde mich, wenn ich wieder fit bin.

Liebe Grüße

leonie


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