Unpoetisches Gedicht

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 26.04.2014, 10:34

Es ist der Stillstand

die Bereitschaft viel Zeit zu investieren
um schließlich zu scheitern

der die Grundlage für Entwicklung ist.

Entwicklung nicht im Sinne von Fortschritt
sondern als Ausweiten von etwas Vorhandenem

Eine Art Aneignung einer Fähigkeit
von sich selbst abzusehen
Eine Offenheit die sich gegen
Vereinnahmungen verschließt.

Ein Paradox ohne Doppeldeutigkeiten
Die Erfahrung der eigenen Belanglosigkeit

wenn man das Pathos abzieht.

Niko

Beitragvon Niko » 26.04.2014, 14:27

liebe xanthi,

ein wenig schmunzeln musste ich schon doch beim lesen des gedichts. zum einen darüber, dass auch poeten gedichte schreiben, die davon handeln, kein gedicht hinzubekommen und dadurch ein gedicht schaffen. ein weiteres paradoxon des ganzen...und darüber, dass ich eben auch mal was unpoetisches geschrieben habe, was dann aber - wie bei dir hier auch - letztendlich doch "voll die poesie" ist! mir gefällt es sehr! (vielleicht, weil man das dillemma kennt...)

formal fiel mir auf, dass der bezug der dritten zeile keinen hat und keinen nimmt. "der die grundlage ist" - wer? daraus hat sich dann in meinem überlegen eine änderung herausgesponnen, über die es eventuell lohnt, nachzudenken. (ist ja dein gedicht...)
das sähe dann so aus:

Es ist der Stillstand

die Bereitschaft viel Zeit zu investieren
um schließlich zu scheitern

die Grundlage für Entwicklung

nicht im Sinne von Fortschritt
sondern als Ausweiten von etwas Vorhandenem

Eine Art Aneignung einer Fähigkeit (warum "einer" und nicht "der" fähigkeit?)
von sich selbst abzusehen
Eine Offenheit die sich gegen
Vereinnahmungen verschließt.

Paradox ohne Doppeldeutigkeiten
Erfahrung der eigenen Belanglosigkeit

wenn man das Pathos abzieht.

die artikel der vorletzten und vor-vorletzten zeile habe ich ebenfalls entfernt...-so wär's für mich einerseits runder, aber ich verstehe auch, wenn du diesen moment genau so festhalten möchtest.

schönes wochenende: niko

aram
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Beitragvon aram » 26.04.2014, 14:50

Niko hat geschrieben: "der die grundlage ist" - wer?
lieber niko, der stillstand .-)

aram
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Beitragvon aram » 26.04.2014, 15:46

liebe xanthippe,

drei freigestellte zeilen - "es ist der stillstand -- der die grundlage für entwicklung ist -- wenn man das pathos abzieht" - spannen eine klammer über feststellungen im nominalstil, die sich - wie ich es lese, gezielt - auf leicht holprige art der mühe widmen, synthesen aus widersprüchlich scheinenden elementen zu konstatieren, und diese in eine scheinbar klare aussage zu bündeln, die dann insgesamt 'verständlich aber irgendwie doch nicht so klar' rüberkommt - jedoch auch nicht ironisch; ernste aussageabsicht, 'nicht uninteressantes', möglicherweise 'wahres' scheinen durch. dieses chargieren zwischen inhaltstiefe und leichter banalität, beides bislang 'unpoetisch', erweitert die letzte zeile, bricht und relativiert die konstruktion, deren bestandteil sie dennoch bleibt; führt eine neue bedeutungsebene und 'poesie' ein und das chargieren aller bedeutungen zugleich weiter, endend mit dem etwas bilanztechnisch wirkenden verb 'abzieht' - erneut ein gedankengang, der sich faktisch-verständlich gibt und dabei bezüglich konkreter aussage unscharf bleibt - wie ließe sich pathos 'abziehen', also auftrennen und wegnehmen, subtrahieren? von welcher/wessen (erkenntnis)bilanz ist hier die rede?

ein text, der auf knappen raum reflexionszwiebelschalen um eine mentale und existentielle zustandsfrage legt und abbildet, mögliche einsicht und mögliche einbildung stehen gleichermaßen an; erst die schlusszeile öffnet auch eine ebene des humors, folgerichtig endet der text - ohne sich damit jedoch von sich und seiner gültigkeit, deren relevanz zugleich in frage gestellt bleibt, lösen zu können -- so lese ich ihn jedenfalls, als sehr schön kopfigen erkenntniskreiselvektor - 'unpoetisch', aber 'gedicht' .-)

liebe grüße!

Quoth
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Beitragvon Quoth » 27.04.2014, 14:36

Hallo Xanthippe,

bei dieser Art von Gedankenlyrik frage ich mich, warum sie überhaupt in gebrochenen Zeilen vorgetragen wird. Der Grundgedanke leuchtet mir unmittelbar ein: Dass es Entwicklung gleichsam horizontal und nicht nur vertikal, synchron und nicht nur diachron gibt. Das ließe sich doch gut auch in Prosa mitteilen! Die lyrische Formatierung scheint mir nur eine Funktion zu haben: Kritik am Inhaltlichen abzuwehren. Und das hat das Inhaltliche hier nicht nötig!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Niko

Beitragvon Niko » 27.04.2014, 15:08

Lieber quoth,
Sorry, dass ich dazwischenfunke. Aber wenn doch poesie DIE form ist, sich auszudrücken, warum sollte man bei bestimmten Themen dann auf unsichereres und fremdes Terrain wechseln?
Und aram....was den bezug an der besagten stelle angeht, so finde ich, dass der bezug zunächst mal automatisch zum letztverwendeten substantiv steht.
Beste grüße-niko

aram
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Beitragvon aram » 27.04.2014, 15:37

Niko hat geschrieben:Und aram....was den bezug an der besagten stelle angeht, so finde ich, dass der bezug zunächst mal automatisch zum letztverwendeten substantiv steht
lieber niko,
das letztverwendete substantiv, bei dem auch der deklinationsbezug passt, ist in diesem fall "stillstand".
im deutschen muss ja auch das geschlecht (genauer gesagt die deklinationsform) übereinstimmen - bei "der mantel der frau, der an der garderobe hing" beziehst du "der an der garderobe hing" wohl nicht auf "frau".-)
- dass der bezug hier sehr weit entfernt ist, ist eine andere sache - aber das führst du ja nicht ins treffen.
liebe grüße!

Niko

Beitragvon Niko » 27.04.2014, 18:32

lieber aram,
würden die zeilen zwei und drei von kommata eingefasst, wäre der bezug klarer. bei lyrik muss man je nach stil halt ohne kommaberücksichtigung lesen. allerdings sollte dann vom autor so geschrieben werden, dass die bezüge klar(er) sind.
aber lassen wir das, ich will hier nichts verteidigen oder schlechtreden. mir fiel es auf, ich erwähnte es. mehr nicht.
mal sehen, wie xanthi darüber denkt.

beste grüße: niko

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 27.04.2014, 18:58

Mir kommt das Gedicht wie die Aussage eines stoischen Philosophen, Senecas, zum Beispiel, vor.

Es hält eine schwierige, riskante Balance zwischen Weisheit und Resignation.

Zieht man das Pathos ab ist jedes Leben belanglos.

"Staub zu Staub..."

Und trotzdem offen bleiben.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 28.04.2014, 12:50

Liebe Kommentatoren,
ich bin ehrlich erstaunt über so viel (zum Teil sehr ausführliche) Resonanz zu diesem Machwerk. Denn ich persönlich finde diese Zeilen einfach misslungen. Egal ob als (unpoetisches) Gedicht oder ohne Zeilenumbruch. Um so erstaunter war ich, dass Aram mit viel Wohlwollen dann doch so viel Sinn in die Zeilen interpretieren konnte und Niko sich die Mühe machte, nach einer geeigneteren Form zu suchen.
Jetzt fragt ihr euch vielleicht (und das zu Recht) warum ich dann diesen Text überhaupt eingestellt habe. Und ich glaube, ich wollte ihn einfach loswerden, das Gejammer rauslassen in die Welt, wo es gelesen werden kann, und mit einem Kopfschütteln versehen.
Denn mehr hat es meiner Meinung nach nicht verdient.
Ich mag philosopophische oder Gedankenlyrik total gerne, also durchaus auch "unpoetische" Gedichte, die einfach durch die Brillianz und Klarheit der Gedanken bestechen, aber genau das passiert hier ja gerade nicht, hier schreibt sich bloß eine das Pathos vom Leib, damit, vielleicht später einmal, wieder etwas Lesenswertes entstehen kann.
In diesem Sinne nochmals herzlichen Dank für eure Bemühungen und verzeiht, dass ich euch dazu verführt habe, euch mit Überflüssigem zu beschäftigen.
Xanthi

Niko

Beitragvon Niko » 28.04.2014, 13:26

Was ist überflüssig? Wer legt das fest, xanthi?
Ich finde die zeilen durchaus vorzeigewürdig. Denn es beschreibt diesen prozess des sich annäherns an schon fast verloren geglaubtes. Und es ist hier das schöne, dass die annäherung an sich schon im prozess findet, ohne es selbst zu bemerken..
Es ist ein dokument, ein gar nicht soooo unpoetisches gefühlsbild. Für mich hat es volle berechtigung zu sein.

Beste grüße-niko


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