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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Estragon

Beitragvon Estragon » 07.10.2017, 12:33

regen
spazierende dächer
zwei rauchen
zwei denken
dass sie rauchen könnten
zwei die spazieren gingen
denken
das ist die nacht und
dort der dichter
der vergräbt
was er schreiben möchte
es duftet nach
ich weiß nicht was
es vergehen kaum sekunden
da vergessen sie ihre namen
ihre namen die sie vergessen
liegen in der nacht
sie liegen zwischen den stellen
zwei die rauchen
die rauchen und denken
das kann passieren
es kann passieren das zwei
die nichts voneinander wussten
plötzlich einen namen rufen
regen und
spazierende die vergessen
was vergessen werden kann
morgen wenn sie erwachen
denken sie nicht
was ist
sie liegen einfach nur herum
schweigend
ohne sich anzusehen
beinah mutlos
ohne gesten
denken sie
es wird zeit

Quoth
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Beitragvon Quoth » 07.10.2017, 14:27

"Regen, spazierende Dächer, zwei rauchen, zwei denken, dass sie rauchen könnten, zwei, die spazieren gingen, denken, das ist die Nacht, und dort der Dichter, der vergräbt, was er schreiben möchte. Es duftet nach ich weiß nicht was, es vergehen kaum Sekunden, da vergessen sie ihre Namen, ihre Namen, die sie vergessen, liegen in der Nacht, sie liegen zwischen den Stellen. Zwei, die rauchen, die rauchen und denken, das kann passieren, es kann passieren das[s] zwei, die nichts voneinander wussten, plötzlich einen Namen rufen. Regen und Spazierende, die vergessen, was vergessen werden kann. Morgen, wenn sie erwachen, denken sie nicht, was ist, sie liegen einfach nur herum, schweigend, ohne sich anzusehen, beinah mutlos, ohne Gesten denken sie: Es wird Zeit."

So ist das doch viel schöner! Was für ein Vorteil liegt in den gebrochenen Zeilen, in der Kleinschreibung, im Weglassen der Zeichen? Das ist nichts als ein lyrischer Firnis, der über durchaus gut lesbare Prosa, die sehr empathisch eine Geschichte erzählt, gezogen wird und dieselbe in einen prätenziösen Zwitter verwandelt. Ich läse gern mehr von dieser Prosa von Dir (die mich an die „Nachtwachen des Bonaventura“ erinnert). Es ist natürlich Dein gutes Recht, mit pseudolyrischem Firnis zu arbeiten, das tun schließlich viele im Netz, die meinen, ihre Sprache würde dadurch gewinnen.

Die beiden, die morgens wie ausgespuckt erwachen, sehen sie „sich“ nicht an oder „einander“? Herzlicher Gruß Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Estragon

Beitragvon Estragon » 08.10.2017, 19:45

Ich weiß nichts, du weißt es, du bist doch der, der alles weiß

Niko

Beitragvon Niko » 09.10.2017, 02:21

Ich finde, hier irrst du, lieber Quoth!
Die Zeilensetzung ist ja kein lyrischer Automatismus! Durch Zeilenbrűche erstellt man neue Sinnzusammenhänge!
Ich finde das hier teilweise zumindest außerordentlich gut gelungen.

Herzlichst - Niko

Quoth
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Beitragvon Quoth » 09.10.2017, 08:28

Estragon hat geschrieben:Ich weiß nichts, du weißt es, du bist doch der, der alles weiß

Habe ich den Eindruck erweckt, hier ginge es um (Mehr)Wissen? Dann habe ich mich sehr schlecht ausgedrückt. Mir geht es um Beurteilung: Welche Form wähle ich für welche Mitteilung? Ich wollte Dir Mut zur Prosa machen, da Du offenbar was zu erzählen hast, und das Erzählen drängt in die Prosa oder in den epischen Langvers, im lyrischen Kurzvers ist es meiner unmaßgeblichen Meinung nach nicht gut aufgehoben. Deine Erzählung von den zwei Männern und dem Dichter, "der vergräbt, was er schreiben möchte", gefällt mir sehr gut und sie könnte sich in Prosa vielleicht noch ganz anders entfalten. Gruß Quoth

Hallo Niko,
ja, mag sein, dass ich mich irre, aber seit Lisa ihr wunderbares "Schwein mit Kraft" in die Prosa einordnete, würde ich am liebsten allen Kurzzeilenfans empfehlen, doch mal zu prüfen, ob Prosa nicht angemessener wäre. Herzlich Quoth
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Beitragvon Ylvi » 14.10.2017, 13:31

Quoth hat geschrieben:So ist das doch viel schöner!
Sehe ich auch nicht so, für mich verliert dieser Text als Fließtext mit Zeichensetzung an Rhythmus, Pausen, Betonung, Mehrdeutigkeit, Offenheit, Atmosphäre und wirkt auch schon optisch ganz anders.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Beitragvon Quoth » 14.10.2017, 16:05

Natürlich verliert er Rhythmus, Pausen und Betonungen, Ylvi - aber sind die notwendig? Hier wird eine Geschichte erzählt, Lyrik aber erzählt keine Geschichten, dafür ist Prosa da. Auch namhafte Dichter haben Geschichten in lyrische Form gepackt - aber das wurde immer schwach. Wozu braucht es einen Zeilenbruch hinter "regen"? Ein Komma leistet das ebenso gut. Gruß Quoth
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Beitragvon Pjotr » 14.10.2017, 16:34

Warum gegenseitig ausschließen? Beide Genres haben ihre guten Wirkungen.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 14.10.2017, 18:04

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Quoth hat geschrieben:Natürlich verliert er Rhythmus, Pausen und Betonungen, Ylvi - aber sind die notwendig?
Ja :ah:

Quoth hat geschrieben:Hier wird eine Geschichte erzählt, Lyrik aber erzählt keine Geschichten, dafür ist Prosa da.
Aha. Sehe ich nicht so und ich wüsste auch nicht, warum man sich da in die eine oder andere Richtung einschränken sollte.

Quoth hat geschrieben:Wozu braucht es einen Zeilenbruch hinter "regen"? Ein Komma leistet das ebenso gut.
Nein. Ein Punkt würde schon eher in die Richtung gehen, aber ein Komma zieht etwas nach sich, will weiter, da bleibt keine Zeit für ein Innehalten. Natürlich könnte man den Text auch anders setzen, aber dann würde er eben auch anders wirken. Für mich in diesem Fall deutlich schwächer. Bei anderen Texten kann das natürlich anders sein.
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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birke
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Beitragvon birke » 14.10.2017, 20:00

sehr gelungen finde ich das, und zwar genau so!
stimme ylvi vollkommen zu.
mag sein, dass das, was du schreibst, lieber quoth, für andere texte sehr wohl zutrifft (ich probiere mich da durchaus aus), aber für manche gedichte braucht es diese form unbedingt, weil sie einfach andere wirkungen erzielt.
also, nochmal, lieber estragon: tolles gedicht!
lg, birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Quoth
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Beitragvon Quoth » 15.10.2017, 12:58

Sehr gelungen, liebe Birke, ist der Text, weil man sich über ihn streiten kann. Für mich ist es eine als Lyrik getarnte Erzählung, die in Prosa besser zum Zuge käme. Das Netz ist der gebrochenen Kurzzeile Celans verfallen auch dort, wo Celans Sprachgewalt auch nicht in Ansätzen vorhanden ist, auch beim Geschichtenerzählen schwingt man sich auf den Kothurn der Kurzzeile und meint, geholpert und gestolpert würde mehr draus. Gruß Quoth
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