an W. – ob es noch deine Stadt ist?

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 28.11.2024, 23:23

deine Sprache war
aus dunkelfarbigem Samt
mit stählernen Spitzen –
sie krallte sich sanft
in unser Gemüt
färbte es finster

sie brachte aber auch
kleine Leuchtlampen mit
führte uns durch verschlungene Wege
unseres Gehirns
ließ uns am Ende verrätselt
mit klaren Gedanken zurück

Labyrinthe aus Worten:
wir retteten uns heraus
in die Gegenwart
und vergaßen dich –
deine Gedichte sperrte man
in die Psychiatrie

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birke
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Beitragvon birke » 28.11.2024, 23:50

das klingt rätselhaft und spannend! wer wohl "w." ist?
gefällt mir gut :)
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.12.2024, 16:57

Ja, auch hier vielen Dank, birke!

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Werner
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Beitragvon Werner » 03.12.2024, 22:14

sehr starkes gedicht, und ja, geheimnisvoll

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 04.12.2024, 20:53

Vielen Dank. Ja, geheimnisvoll eben auch W's Gedichte; wenn etwas von deren Grundstimmung rüberbringen konnte, freut es mich.

aram
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Beitragvon aram » 01.01.2025, 16:26

hallo amanita,

sich "verrätselt / mit klaren gedanken" zurückgelassen zu finden, ist - finde ich - ein besonderes, gutes bild.

("am Ende" wirkt für meinen geschmack etwas zu dramatisiert - würde eher schreiben: "ließ uns zuletzt verrätselt / mit klaren gedanken zurück")

"Labyrinthe aus Worten: / wir retteten uns heraus / in die Gegenwart / und vergaßen dich – / deine Gedichte sperrte man / in die Psychiatrie"
trägt ebenfalls starke aussage. zudem erschließt sich über sie der gesamte text.

auch hier ist die wortwahl für meinen persönlichen geschmack teils zu explizit, zugleich unbestimmt -
besonders "sperrte man": paradoxerweise wirkt der 'starke' ausdruck auf mich schwächer, als es ein 'schwächerer' vermöchte - von daher schriebe ich eher zb.:
"wir retteten uns heraus / in die gegenwart / und vergaßen dich - / deine gedichte blieben / bei dir in der klinik."

(sehr erfreulich finde ich wiederum, dass du den gedankenstrich verwendest - während ich aus reiner bequemlichkeit bindestriche als gedankenstriche missbrauche, obwohl ich das als unschön erlebe - und bloß, weil sich letztere nicht auf der tastatur finden.-)

das nur als rückmeldung - bzw. auch erklärung, warum ich selten texte von dir kommentiere: es liegt ein sprachbezogener geschmacksunterschied in unseren jeweiligen empfindsamkeiten - vor manchen 'direkten' und den meisten bildhaft überhöhten ausdrücken schrecke ich eher zurück, als du - vielleicht fühle ich mich zu sehr an die effekthaschende sprache von boulevardberichten, oder 'bahnhofskioskromanen' erinnert.

es geht letztlich also bloß um persönlichen geschmack - und da ist keiner besser oder objektiver als der andere. deshalb hätte es wenig sinn, jedesmal diesen geschmack zu kommentieren, um ihm ausgerechnet meinen eigenen gegenüberzustellen - 'darüber weglesen' kann ich aber auch nicht - besonders in lyrischen texten, die auf 'berührung' aufbauen. - soweit also meine 'entschuldigung' dafür, dass ich deine texte nur selten kommentiere.

diesen text finde ich zwar nur wenig rätselhaft oder geheimnisvoll - es wird m.e. viel unmittelbarer klar worum es geht, als etwa in der mehrzahl meiner texte.-) -

ich finde ihn aber stark, und berührend.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 01.01.2025, 17:46

Hallo aram, upps, dazu ließe sich jetzt viel sagen.

Klar, wenn es immer wieder "Geschmacksdifferenzen" gibt, muss nun wirklich kein Kommentar sein ... ich finde es allerdings durchaus hilfreich, hin und wieder alternative Formulierungen zu lesen, So überzeugt mich das "zuletzt"; vielen Dank!
Allerdings fühle ich mich – auch wenn es nur die Richtung ist und nicht direkt die "Schublade" :??: – im Zusammenhang mit "boulevardberichten oder 'bahnhofskioskromanen'" doch etwas ... hm, ja, falsch verstanden. Dass ich mit "effekthaschender sprache" arbeite, habe ich wirklich noch nie gehört, auch nicht ansatzweise. Vereinzelte Formulierungen natürlich ausgenommen! Aber durchgehend? Das wundert mich jetzt wirklich. Und es schmerzt auch fast ein bisschen – denn Pathos lehne ich in meinen Bildern, Texten und Alltagen rundweg ab.

Gleichwohl finde ich einen "anderen", mir bisher unbekannten Blickwinkel natürlich auch interessant. Versprochen: Ich werde meine Texte, die noch nicht veröffentlicht sind, nochmal auf Herz und Nieren prüfen, ob darin nicht zuviel Übertreibung herumschwirrt. Das Bildhafte aber wird natürlich bleiben ... allein, "überhöht" sollte es nicht sein. Dieser Begriff lässt mich etwas ratlos zurück.

Dass es "klar ist, worum es geht", gehört wiederum zu meinem, wenn man so will, Konzept. Ich bin praktisch und unprätentiös und würde mich nicht woandershin verrenken können und wollen.

Aber jedenfalls "muss" niemand kommentieren, wenn sich die digitale Feder dagegen sträubt. Ich finde es nur etwas schade, dass es hier deutlich weniger geworden ist. Aber okay, das war jetzt doch ein letztlich erfreulicher Anschubs, den ich zu schätzen weiß.

Neujahrsgrüße von Amanita!

aram
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Beitragvon aram » 01.01.2025, 21:34

liebe amanita,

was "effekthascherische sprache" angeht, würde ich meinen, dass die meisten literarischen texte auch auf das erzielen von effekten hin orientiert sind, oder ihre gewünschte wirkung zumindest mit im blick haben - meine nicht weniger als deine, oder eben auch massentaugliche literatur. es sind erstens nur unterschiedliche effekte, die 'erhascht' werden. und gibt zweitens sehr unterschiedliches sich-dessen-bewusstsein, was die eigene sprache und wortwahl angeht.

wenn du noch mal nachliest, was ich in meinem vorkommentar geschrieben habe, wirst du auch merken, dass ich dir die "effekthaschende sprache von boulevardberichten" gar nicht unterstellt habe. ich sprach davon, dass ich sie assoziere - stellte eine vermutung an, vielleicht aufgrund einer erinnerung an diese sprache zurückzuschrecken.

und das kommt so: z.b. nochmal zum ausdruck "am ende" - er gefiel mir an dieser stelle nicht, weil ich ihn hier dramatisierend, überhöhend fand: welches "ende" denn bitte genau? - wohl kein unmittelbar bestimmtes - sondern 'man sagt eben so'. dieses 'so sagen' ist aber mit emotionalem begleiteffekt verbunden - unterschwellig wird ein 'ende' evoziert - etwas endgültiges, dramatisches. wenn ich diesen (pathetischen) effekt nicht bewusst unterstützen / anwenden will, formuliere ich eben ein wenig anders.

natürlich ist das subtil, und fällt auch letztlich in die geschmacksdiskussions-kategorie: man könnte ja auch sagen - "zuletzt" ? welches "letzte" soll denn jetzt damit heraufbeschworen werden? das ist ja pathetisch!
- dann ließe sich schwerlich weiterdiskutieren, außer eben geschmacksbegründet: >>" das empfinde ich nicht so - mir gefällt es gerade deshalb besser, weil es es informeller, ruhiger bei mir ankommt als als ein explizit genanntes und substantivisch repräsentiertes 'ende' - um das es inhaltlich dabei gar nicht geht."

auch dir gefällt es besser - möglicherweise im einklang mit derselben kritischen einstellung, die dich sagen lässt - "denn Pathos lehne ich in meinen Bildern, Texten und Alltagen rundweg ab." (diese aussage überzeugt mich im übrigen noch nicht, aber ich glaube dir.)

doch zum einen - wo beginnt pathos? - für mich eventuell anderswo als für dich, weil ich vielleicht generell verstärktes interesse darauf richte, 'gebrauchsformulierungen' zu hinterfragen und dann oft aufzulösen, statt mich ihrer nutznießend zu bedienen für meine jeweilige erzählerische absicht - die mit solchen 'spitzfindigkeiten' vielleicht wenig am hut hat, ihnen ggf. übertrieben ausgeliefert ist, schlimmstenfalls sogar durch sie gehemmt wird - "Ich bin praktisch und unprätentiös und würde mich nicht woandershin verrenken können und wollen." - das hast du jetzt nicht darauf bezogen gemeint - und wir stimmen ja auch in unserem empfinden überein, dass "zuletzt" hier etwas besser passt - aber man könnte es auch auf derartige fälle beziehen: ein aram hält an solcher stelle irritiert inne: "welches ende denn?", ein bertram denkt sich dazu vielleicht: was hat er denn? kann er kein gebräuchliches deutsch?

und zum anderen - vieles passiert eben nicht bewusst. wir begegnen oft bildern, ohne uns klar zu machen, womit wir es zu tun haben - bei weitem nicht alle leser werden z.b. bewusst wahrnehmen, dass es sich bei "in die psychiatrie sperren" um eine gleich zweifache metapher handelt - weder "psychiatrie" noch "sperren" verstehen sich im eigentlichen wortsinn. (letzteres wäre noch annähernd möglich, so es sich um eine geschlossene abteilung für gefährder handelte, die physisch durch versperrte ausgänge am verlassen gehindert sind - aber von psychiatrischen patienten ist hier gar nicht die rede - sondern von gedichten. - fällt fast nicht auf, oder? .-) - weil man mit 'in die psychiatrie sperren' sofort menschliche opfer assoziert - in diesem fall w.. diese bedeutungsübertragung ist hier auch bewusst gewollt und vorausgesetzt, würde ich meinen - was ich gar nicht bemängle, aber aufzeigen möchte)

jeder einzelne bildbestandteil ist schon für sich genommen geeignet, dramatische assoziationen hervorzurufen. beide zusammen erst recht, und in der implizierten bedeutungsübertragung noch mal extra - und all das, in mehrfacher unterstreichung, soll gar nichts mit pathos zu tun haben?

unabhängig davon, ob das so gefällt oder nicht, ist es natürlich ok es zu schreiben, wenn es so gewollt ist - an irgendeiner stelle muss es sich für mich aber beißen, ein solches bild bewusst zu verwenden, und gleichzeitig zu sagen "pathos lehne ich in meinen bildern, texten und alltagen rundweg ab."

wenn ich dazu sage: "das glaube ich dir", meine ich: auf deine ehrliche absicht bezogen glaube ich es dir. in der praxis geht es für mich dann aber nicht auf - entweder aufgrund zwischen uns stark unterschiedlichem begriffsverständnis von 'pathos', unterschiedlich bewusster wort- und bildwahl, oder beidem.

bitte - verstehe das nicht als persönliche abwertung oder angriff - ist es überhaupt nicht. es ist nicht gegen dich als autorin oder gegen den text, sondern auf bewussten austausch und erkenntnisgewinn gerichtet - spielerisch. (in einem meiner texte -"einige fragen zu w.s besagtem ende" findet sich die verszeile: "wann ergriff das pathos der lochfraß?", und diese frage - bemüht natürlich selber eine pathetische metapher .-)

..was bewusstes schreiben angeht - vor kurzem las ich ein interview mit einer erfolgreichen autorin, das ich bemerkenswert fand - auch wenn ich keineswegs in der lage wäre, zu meiner zufriedenheit mit montagestücken, stereotypen und untiefen so gewandt umzugehen, wie sie es offenbar vergnügt praktiziert: https://www.derstandard.at/story/300000 ... wort-genau

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 02.01.2025, 11:20

Hallo aram, ich glaube, da geht es tatsächlich nicht nur um Geschmacksfragen, sondern um unterschiedliche Wahrnehmung. Das bestätigt sich für mich anhand Deines verlinkten Interviews: Dieses "sagt" mir überhaupt nichts, also berührt oder begeistert mich nicht, sondern ich finde es uninteressant. W. hingegen hätte es vermutlich goutiert :ah:

Ich danke Dir sehr herzlich für Deine detaillierte Ausführung, so etwas ist (hier und überhaupt) ja selten geworden.

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Beitragvon aram » 04.01.2025, 01:45

gern geschehen, amanita!

dass geschmacksfragen mit unterschiedlicher wahrnehmung zu tun haben, steht für mich außer zweifel.

kurios: du und ich haben beide texte über einen "w." geschrieben. in beiden texten scheitert w. an der 'normalen' realität, wird von ihr 'zurückgelassen'. in beiden wird er schon im titel genannt, und mit frage(n) in verbindung gebracht - schräg, oder? (es ist nicht derselbe w. - könnte es aber beinahe sein -, und abgesehen von diesen verblüffenden übereinstimmungen sind die texte auch sehr verschieden. - glaube auch nicht, dass dir mein text von 2006 - er steht in der 'internen textecke' des salons - bekannt war)

danke auch dir!

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 04.01.2025, 10:25

Ich gehe gern mal gucken! Danke für den Hinweis!

aram
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Beitragvon aram » 04.01.2025, 16:58

einige fragen zu w.s besagtem ende [nur für salonmitglieder]

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 05.01.2025, 10:20

Danke für den Link! (Ich hatte mir schon "'nen Wolf" gesucht ...

Ja, es gibt bei unseren "W.s" tatsächlich Gemeinsamkeiten. Oder eine gemeinsame Grundstimmung. Interessante Parallelen jedenfalls.


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