Ebbe abends

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 07.11.2006, 11:47

Erstfassung

Ebbe abends

Das Meer ebbt langsam ab und immer leiser
klingt wie von fern der dumpfe Wellenschlag.
Und wie der Ozean senkt sich der Tag;
nur Möwen in den Marschen schrei'n sich heiser.

So dunkel neigt sich auch in mich die Nacht.
Der Sterne funkeln in der Ferne viele,
doch was mir greifbar ist: die seichten Priele
sind nur aus Sediment und Schlick gemacht.

Und Ihr, die ihr die Küste überflogt!
Schreit laut hinaus, was sich euch angestaut!
Der Ozean am Horizont verblutet

und flach der sieche Meeresbusen wogt,
bis er sich neuer Sehnsucht anvertraut
und sich im Sog des Mondes wieder flutet.



aktuelle Fassung:

Ebbe abends

Das Meer ebbt langsam ab und immer leiser
klingt wie von Ferne dumpfer Wellenschlag.
Und gleich dem Ozean senkt sich der Tag;
nur Möwen in den Marschen schreien heiser.

So dunkel neigt sich auch in mich die Nacht.
Der Sterne funkeln in der Ferne viele,
nur was mir greifbar ist: die seichten Priele
sind bloß aus Sediment und Schlick gemacht.

Doch Ihr, die hoch die Küste überflogt!
Schreit laut hinaus, was in euch angestaut!
Der Ozean am Horizont verblutet

und flach der sieche Meeresbusen wogt,
bis er sich neuer Sehnsucht anvertraut,
die ihn im Sog des Mondes wieder flutet.
Zuletzt geändert von ZaunköniG am 14.11.2006, 22:40, insgesamt 3-mal geändert.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

scarlett

Beitragvon scarlett » 07.11.2006, 11:57

Das ist einfach nur genial!!!

Ich will gar nichts weiter dazu sagen, mich nicht an einzelnen Wörtern aufhalten - oder kritisieren.

Einfach nur genießen!

Gruß,

scarlett

Mucki
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Beitragvon Mucki » 07.11.2006, 12:57

Hallo ZaunköniG,

großartig geschrieben!
Du schreibst nicht nur wie Shakespeare, du siehst auf deinem Avatar auch so aus wie Joseph Fiennes, der ihn in 'Shakespeare in Love' darstellte.
Saludos
Gabriella

carl
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Beitragvon carl » 07.11.2006, 15:45

Hallo Zaunkönig,

ich schließe mich meinen Vorrednerinnen an: wirklich ein großartiges Gedicht!
Ich werde es für die Anthologie vorschlagen...

Allerdings möchte ich Dir doch einige Gedanken vorlegen, auch wenn Du sie vielleicht selbst schon gehabt und wieder verworfen hast:

Es gibt sehr viele reflexive "sich"s:
Die 1. Strophe würde ich ganz der Betrachtung überlassen ohne Deutung, wie sie mit der 2. Strophe anfängt:
"nur Möwen in den Marschen schreinen heiser."
Die Möwen haben in der 3. Strophe ihren Auftritt:
"Schreit laut hinaus, was in euch angestaut!"
Auch hier würde das sich in "was sich euch angestaut!" m.E. eher die letzten beiden sich der 4. Strophe abschwächen, wo sie eine wirkliche Aussage tragen:
"bis er sich neuer Sehnsucht anvertraut
und sich im Sog des Mondes wieder flutet."
Toll!
Ggf. könntest Du nochmal überlegen, ob Du die expressive Wende am Anfang der 3. Strophe einleitest mit
"Doch Ihr, die ihr die Küste überflogt!"
Andernfalls sind beide Terzinen mit "und" eingeleitet und dem 2. Quartett parallelisiert, was inhaltlich nicht stimmt.

Liebe Grüße und meine Reverenz! Carl

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 07.11.2006, 16:16

Hallo Carl,

Vielen Dank für deine Kritik. Ich hatte dieses Sonett, abgetippt, da war es auf dem Papier noch nicht ganz trocken, selbst hatte ich als noch nicht den Abstand lange darüber zu reflektieren. Deine Anmerkungen sind allesamt schlüßig, und nehme deine Vorschlge dankend an.

@Scarlet und Magic:
Vielen Dank, Wenn es auch eher Kritik ist die einen weiterrbringt, seht ihr mich doch schwach im Geiste, auch ich kann mich Komplimenten nur schwer entziehen. So bleibt mir nur der Vorsatz euer Lob nicht als Siegerkranz, sondern als Bestätigung des eingeschlagenen Weges zu lesen.
Shakespeare gehört nicht zu meinen größten Helden, aber ich weiß ja, wie es gemeint ist.
Danke nochmal, das geht runter wie Oel.

ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Max

Beitragvon Max » 07.11.2006, 18:32

Lieber Zaunkönig,

das ist ein großartiges gedicht. Ich habe auch ein Gedicht zum Abend am Meer - aber nun trau ihc mich nicht es einzustellen ... sehr sehr schön.

Liebe Grüße
max

Herby

Beitragvon Herby » 07.11.2006, 19:20

Hallo Zaunkönig,

da ziehe ich nur bewundernd und neidlos meinen imaginären Hut! :hut0039:

Bei aller gebotenen Vorsicht im Umgang mit dem Begriff "Kleinod", aber Dein Text ist ein solches!

Danke für diesen Lesegenuss!
Herby

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leonie
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Beitragvon leonie » 09.11.2006, 12:04

Lieber Zaunkönig,

mir ist rätselhaft, wie jemand solche (formal für mein Empfinden strengen Kriterien unterworfenen) Gedichte schreiben kann und man an keiner Stelle das Gefühl hat, hier ist etwas holperig oder gewollt oder um der Form willen konstruiert. Abgesehen davon, dass es auch inhaltlich so gelungen ist!!!

Liebe Grüße
leonie

Eine kleine Idee. Wie wäre "gleich dem Ozean"? (Würde Wiederholungen vermeiden)

Gast

Beitragvon Gast » 09.11.2006, 12:39

Sehr schön, :hand0051: lieber Zaunkönig,

das spornt mich an, auch mal wieder - demnächst - ;-) eines meiner noch nicht so ganz runden Sonette vorzunehmen.

Das wichtige beim Sonett, nämlich das tänzerisch Leichte hast du wunderbar getroffen.
(Das heißt nicht, dass der Textinhalt nicht dennoch in die Tiefe gehen kann).

Liebe Grüße
Gerda

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 09.11.2006, 17:17

Hallo Max, hallo Herby

auch euch vielen Dank für Euer Lob, es freut mich, daß ich offenbar so viele Menschen mit diesem Text erreichen kann.

@Leonie: Die Metrik ist ja kein Selbstzweck, keine linguistische Logelei, sondern hat ihen tieferen Sinn gerade darin den Sprachfluß flüssiger und harmonischer zu gestalten. Wenn man das "Tänzerische " erst verinnerlicht hat ist es schwer dem Rythmus entgegen zu arbeiten. Es würde mir schwer fallen, beispielsweise Rengas zu schreiben, weil ich immer wieder in den Jammbus zurückfallen würde...

Deine Idee "gleich dem Ozean übernehme ich gerne.
außerdem habe ich inzwischen die Schlußzeile modifiziert:

bis er sich neuer Sehnsucht anvertraut
und sich im Sog des Mondes wieder flutet.


@Gerda: Da bin ich mal gespannt. Und kleinere Formfehler lassen sich bestimmt noch korrigieren.:lupe:

Liebe Grüße, an euch alle
ZaunköniG
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moshe.c

Beitragvon moshe.c » 10.11.2006, 17:15

Lieber Zaunkönig!

Die Bilder und die Anreihung finde ich auch sehr gelungen.
Das geht mir richtig rein.

Aber: Auf Anhieb finde ich zu viele 'der', die mir als konstruierende Hilfsmittel erscheinen.
Insgesamt würde ich einen Weg suchen, die bestmmten Artikel drastisch zu reduzieren.

Mit liebem Gruß

Moshe

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Beitragvon ZaunköniG » 13.11.2006, 07:26

Grüß dich moshe,

Das erste "der habe ich wegbekommen, mit den anderen tue ich mich schwer.
Ich habe allerdings noch andere kleinere Justierungen vorgenommen::lesen0005:


Ebbe abends

Das Meer ebbt langsam ab und immer leiser
klingt wie von Ferne dumpfer Wellenschlag.
Und gleich dem Ozean senkt sich der Tag;
nur Möwen in den Marschen schreien heiser.

So dunkel neigt sich auch in mich die Nacht.
Der Sterne funkeln in der Ferne viele,
nur was mir greifbar ist: die seichten Priele
sind blos aus Sediment und Schlick gemacht.

Doch Ihr, die hoch die Küste überflogt!
Schreit laut hinaus, was in euch angestaut!
Der Ozean am Horizont verblutet

und flach der sieche Meeresbusen wogt,
bis er sich neuer Sehnsucht anvertraut,
die ihn im Sog des Mondes wieder flutet.

LG: ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 13.11.2006, 09:16

Hallo Zaunkönig

Soll ich Deine Änderungen in die Anthologie übernehmen oder warten, bis Du dir sicher bist?

MfG

Jürgen

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 13.11.2006, 11:47

Hallo Gurke,

Wann ist man sich je völlig sicher?
Ich denke aber daß es jetzt fertig ist.

LG: ZaunköniG
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck


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