nachtfahrt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Herby

Beitragvon Herby » 26.04.2006, 12:02

nachtfahrt*

ermüdender dreierkonvoi
endlose kilometer
durch die regennacht

voraus fährt
hoffnungslosigkeit
bestimmt das tempo

in der mitte am Steuer
ohnmacht
wenig abstand
ich auf dem rücksitz

im letzten wagen
angst
dicht dran

allmählich
schemenhaft
im dunkel
rechts und links der straße
bewohnte häuser
vertraute wohnungen
warme zimmer
lebensmöbel

dann
schlagartig
im gleißenden lichtkegel
auf nassem asphalt
wunschsplitter
traumtrümmer
sehnsuchtsfetzen
lebensscherben

plötzlich
beschleunigt
der erste wagen
vollgas
wir holen auf
höchstgeschwindigkeit
der wagen hinter mir
schließt auf
drängt –

und ich
komme nicht
an die bremse


* Änderungen auf Anregungen von Lisa, leonie und Trixie ( vgl. Kommentare )
Zuletzt geändert von Herby am 01.05.2006, 22:59, insgesamt 4-mal geändert.

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 26.04.2006, 21:42

Hallo Herby,

zunächst einmal muss ich sagen, dass ich dieses Gedicht sehr gelungen finde. Die prosaische Sprache, der düstere Ton...

Beim Lesen geriet ich am Schluss etwas durcheinander. Ich scrollte wieder nach oben, um zu sehen, wer jetzt in welchem Auto sitzt.

Was ich mich auch beim zweiten Lesen verwirrte, war mein Eindruck, dass die Ohnmacht erst beschleunigt, als die Hoffnungslosigkeit Gas gibt. Bei mir führt oft die Erfahrung der Ohnmacht zum Verlust der Hoffnung...

Wie auch immer. Mir gefallen Gedichte, die vom Inhalt und der Bezugswelt her modern sind.

Grüße

Paul Ost

Herby

Beitragvon Herby » 26.04.2006, 22:41

Hi Paul,

danke dir herzlich für deine Rückmeldung und dein Mit - Lesen! Du schreibst:

Beim Lesen geriet ich am Schluss etwas durcheinander. Ich scrollte wieder nach oben, um zu sehen, wer jetzt in welchem Auto sitzt.

Was ich mich auch beim zweiten Lesen verwirrte, war mein Eindruck, dass die Ohnmacht erst beschleunigt, als die Hoffnungslosigkeit Gas gibt. Bei mir führt oft die Erfahrung der Ohnmacht zum Verlust der Hoffnung...


Was den ersten Punkt angeht ... zu verwirrend, zu lang? Hätte ich in der letzten Strophe deutlicher werden sollen? Ich wollte Wiederholungen vermeiden. Hm ...

Zu deinem zweiten Punkt: hier möchte ich die Reihenfolge eigentlich gerne so belassen. Vielleicht hat da jeder Leser ja auch seine ganz eigene Abfolge.

Aber ich hab eben gesehen, dass ich in der dritten Strophe zwei Verse vertauscht habe, das ändere ich noch.

LG Herby

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.04.2006, 10:23

Hallo Herby,

ich habe Deinen Text jetzt schon mehrmals gelesen und finde ihn faszinierend in seiner konsequent umgesetzten Düsterkeit. Zurückscrollen musste ich auch, aber das finde ich nicht schlimm. Die Begriffe zu wiederholen, fände ich keine gute Lösung.
Sprachlich ist mir nur aufgefallen, dass es meiner Meinung nach das zweite "nass" nicht braucht.

Gern gelesen!

Liebe Grüße

leonie

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.04.2006, 11:45

Lieber Herby,
interessante Komposition, am besten gefällt mir, dass du auf dem Rücksitz der Ohmacht sitzt :!:

Ein paar kleine Anmerkungen:

grellen spiegellicht


Das grell ist mir zu oft gebraucht, vorallem in Kombination mit Licht und Spiegel. Vielleicht gibt es noch ein anderes Wort, das die Situation beschreibt?

Zweimal bildest du Komposita mit leben (lebensmöbel und lebensscherben). Ich würde das nur einmal verwenden. Die beiden Strophen, in denen sie auftauchen sind zwar ähnlich arrangiert (8x8 Verse), aber nicht genau entsprechend. Falls du in beiden Fällen mit den beiden Lebens-Worten die jeweilige Strophe noch einmal zusammenfassen willst, ist es vielleicht Absicht, aber ich lese es trotzdem als Wiederholung.

Ich fände es übrigens (auch) interessant, wenn die Hoffnungslosigkeit langsam immer mehr bewschleunigte, ein stilles Mut verlassen, und die Angst gleichzeitig immer dichter auffährt, sodass der Mensch immer mehr in Bedrängnis gerät und nicht ganz plötzlich. Denn Hoffnungslosigkeit empfinde ich eher als schleichend (daher so gefährtlich) als unmittelbar über einen hereinbrechend. Aber du wolltest vielleicht den Wendepunkt, den entgültigen Umschlag beschreiben. Das Ich fährt ja vorher, wenn auch gefährdet, noch in einer funktionstüchtigen Kolonne. Das ändert sich dann abrupt.

Trixie

Beitragvon Trixie » 28.04.2006, 11:02

Servus Herby!

Ich wollte mich eigentlich schon früher zu deinem Gedicht äußern, aber ich musste es erst einmal verdauen. Erstens vom Verständnis her und dann inhaltlich. Das ist eine starke Idee,wirklich beeindruckend. Nur die Umsetzung finde ich noch ein wenig...schwierig. Ich glaube, du könntest noch einiges verdichten, enger machen, weglassen. Also, nicht einiges, aber ein paar Dinge. Zum Beispiel die erste Strophe, die nur als kurze Einführung dienen soll. Ich finde, drei Zeilen genügen, du könntest einfach

ermüdender dreierkonvoi
endlose kilometer
durch regnerische Nacht


schreiben. Oder "nächtlichen Regen". Oder "Nachtregen". Jedenfalls finde ich zu viel Aufmerksamkeit auf die erste Strophe gelenkt.
Als nächstes kommt eine Aufzählung, wer wo fährt. Da entdecke ich eine Gleichmäßigkeit von "WO-WER-WIE". Nur das "Ich auf dem Rücksitz" passt nicht und ich glaube, man könnte es auch weglassen. Du schreibst ja in der nächsten Zeile schon "hinter mir im letzten Wagen" da ist es nur logisch, dass du im mittleren Wagen sitzt.
Die nächsten beiden Strophen wirken auf mich wie eine unzusammenhängende Aufzählung. Erst ein Spalier aus vertrauten Häusern, dann plötzlich ein Slalom? Da fehlt mir irgendwie die Verbindung. Vielleicht gerät der Wagen bei Anblick des Vertrauten und Bekannten und des "nicht-erreichen-könnens" ins schleudern? Schwanken? Schlittern? Und muss dann einen Slalom fahren? Hm, das sind jetzt nicht allzu konkrete Vorschläge, aber ich will dir auch nichts vorneweg nehmen. Und das war's auch eigentlich schon! Die Idee finde ich hervorragend und ich hätte es wohl auch nie so gut umsetzen können! Also, Respekt für die Kreativität! Ich bin gespannt auf deine Rückmeldung, hoffe, das war jetzt nicht zu viel Änderungsversuche :???: !

lg Trixie

Gast

Beitragvon Gast » 28.04.2006, 11:17

Lieber Herby, ich freue mich über "Ungereimtes" von dir.
Auch, oder gerade, weil es ein düsterer Text ist.
Ich glaube, wenn du ein wenig über die kritischen Anmerkungen meiner "VorschreiberInnen" nachsinnst, dann wird er ein wirklich gutes Gedicht mit unheimlicher Note...
Liebe Grüße
Gerda

Herby

Beitragvon Herby » 28.04.2006, 11:34

Hallo in die Runde O:) !

Zunächst einmal ganz herzlichen Dank für eure Auseinandersetzung mit meinem Text und eure ausführlichen und konstruktiven Kommentare §blumen§ Ich werde sie mir später am Tag nochmal in aller Ruhe und Sorgfalt durchlesen und dann sehen, was ich an meiner Nachtfahrt ändern kann und möchte. Im Moment hab ich noch wenig Zeit und Muße dafür.
Also bis später und nochmals Danke für eure Anstöße!

Liebe Grüße
Herby

pandora

Beitragvon pandora » 28.04.2006, 20:18

hallo herby, das ist sie also, deine "nachtfahrt". ein sehr schöner text, wie ich finde.
mir gefällt vor allem die ihm innewohnende dynamik; die nachempfindbare bewegung. das ist handwerklich sehr geschickt gelöst.
"lebensmöbel" - ein treffender begriff, "lebensscherben" würde ich allerdings an deiner stelle nicht verwenden. (wobei mir natürlich klar ist, was du meinst)
die letzten zwei verse ("und ich komme nicht an die bremse") haben für mich etwas von einer traumsequenz. man sieht nicht, wo man hinmuss, man eilt zum zug und verpasst ihn ständig, man will bremsen und bestimmte dinge aufhalten, aber ist nicht in der lage dazu.

lg

p.

Herby

Beitragvon Herby » 01.05.2006, 20:35

Hallo ihr Lieben,

mit mehr Verspätung als mir lieb ist hab ich mich jetzt mit Hilfe eurer Kommentare an die Überarbeitung meines Gedichts gemacht. Habe lange darüber gesessen und gefeilt. Einige eurer Vorschläge konnte ich verwerten, andere nicht. Ich werde versuchen, der Reihe nach auf eure Kommentare einzugehen.

@leonie
Du schreibst

Sprachlich ist mir nur aufgefallen, dass es meiner Meinung nach das zweite "nass" nicht braucht.

Du hattest mit der Wiederholung Recht, nur hab hab ich das erste „nass“ raus genommen und nicht das zweite, weil es zum einen schon durch die Regennacht in der ersten Strophe angedeutet wurde und mir zum anderen das Bild des nassen Asphalts wegen des Licht- und Spiegeleffekts wichtig war.

@ Lisa
Ohne deinen Hinweis auf das grelle Spiegellicht wäre es mir gar nicht aufgefallen, dass diese Kombination so verbraucht ist, aber es ist schon richtig. Ich habe es umformuliert. Ist es jetzt besser so?
Dann gehst du auf die Lebensmöbel und Lebensscherben ein. Du hast einerseits Recht, was die Wiederholung betrifft, andererseits sind mir diese beiden Wörter wichtig als eine Art Zusammenfassung der jeweiligen Strophen, wie du schon vermutet hast. Aus diesem Grunde habe ich sie belassen.
Was das Tempo der Beschleunigung angeht, so wollte ich tatsächlich den Wendepunkt einer Entwicklung darstellen.

@ Trixie
Deine erste Anregung habe ich gerne übernommen, während ich dir, was das Ich auf dem Rücksitz betrifft, nicht folgen kann. Es ging mir dabei nicht darum zu verdeutlichen, in welchem Wagen das lyrIch sitzt, sondern gerade der Rücksitz unterstreicht nach meinem Empfinden seine Machtlosigkeit, seine Abhängigkeit von der Ohnmacht, die am Steuer sitzt und den Wagen lenkt. Außerdem ist es als Vorbereitung für die letzten drei Verse gedacht und von daher für mich unverzichtbar.
Dann sprichst du die fehlende Verbindung zwischen den beiden Strophen an. Dies war mir beim Schreiben gar nicht klar, aber ich glaube, es stimmt, dass es für den Leser besser nachvollziehbar ist mit einer solchen Brücke. Ist es jetzt in der neuen Version klarer geworden?

@ pandora
Du schreibst:

ein sehr schöner text, wie ich finde.

Ich freue mich sehr über dein Lob, nur frage ich mich, ob ein solch eher düsterer Text tatsächlich schön sein kann.
Was die Lebensscherben angeht, so hätte mich der Grund interessiert, warum du dieses Wort nicht verwendet sehen möchtest. Mir kam es – gerade auch als Gegensatz zu den Lebensmöbeln – sehr treffend vor.

@Gerda
Habe mich über deine Rückmeldung gefreut! Ja, das Ungereimte ist noch immer ungewohnt für mich, aber diesen Text hätte ich seltsamerweise nicht in gereimter Form schreiben können. Vielleicht liegt's an der Thematik, ich weiß es nicht.

So, jetzt hoffe ich, dass ihr mit meiner Antwort etwas anfangen könnt und dass die neue Nachtfahrt stimmiger ist als die ursprüngliche. Auch wenn ich nicht alle eure Anregungen umsetzen konnte oder wollte, sie waren mir auf jeden Fall eine Hilfe und Gedankenanstoß, wofür ich euch von Herzen danke! §blumen§

Liebe Grüße und eine gute Woche euch allen!
Herby

Trixie

Beitragvon Trixie » 01.05.2006, 22:46

Servus Herby!

Ja, auch wenn mir die erste Version schon gefallen hat, ist diese nun doch noch einmal um einiges gestiegen!! Es freut mich sehr, dass du mit meinen Vorschlägen etwas anfangen konntest. Jetzt, wo du es sagst, verstehe ich deine Intention mit dem Rücksitz auch besser... (Manchmal schaut man halt einfach gradeaus, statt links und rechts :mrgreen: , verzeih mir!) Super Gedicht!!!

lg Trixie

Louisa

Beitragvon Louisa » 01.05.2006, 22:49

Das ist sehr schön schauerlich spannend !

Besonders die Personifizierungen der allzu abstrakten Gefühlsbegriffe weckt immer meine Begeisterung !

Wunderbar, Herby !

LG, louisa

Herby

Beitragvon Herby » 02.05.2006, 19:53

Liebe Trixie, liebe Louisa,

ich habe mich über eure lobenden Worte wirklich gefreut! Schön, dass euch meine überarbeitete Version gefällt.

Herzlichen Dank! O:)

Liebe Grüße
Herby

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 02.05.2006, 20:27

Ich mußte sehr sehr lange überlegen, ob ich etwas zu diesem Gedicht schreibe.

Zunächst mal: großes Kompliment.
Intention und Ausführung gefallen mir sehr gut.

Bis auf das Ende...

Ich weiß, daß die vorletzte Strophe wichtig ist und auch eine eigene Dramatik zum Ausdruck bringen soll - sie tut es auch, nur sprachlich ist sie mir zu "schwächelnd" im Vergleich zu den sehr starken Stophen davor.

Vielleicht ist es ein unlösbares Problem, aber die die Strophe davor hat ein "schlagartig" - die vorletzte ein "plötzlich" als Einstieg z.B., dann heißt es: "...holt auf" und kurz darauf "...schließt auf".

Die letzte Strophe mit der Bremse ist an sich klasse - doch auch hier habe ich ein Problem: wenn du in dem Moment auf die Bremse treten könntest, würde der Hintermann voll in euren Wagen rauschen. Ich hoffe, du verstehst, worauf ich hinaus will - du willst der möglichen Gefahr begegnen und würdest (hättest du die Möglichkeit) eine andere heraufbeschwören. In diesem Sinn meinst du es aber wahrscheinlich nicht (oder ich bin zu blöd und interpretiere mal wieder falsch).
Allerdings wüßte ich leider auch nicht, was man da anders machen könnte, um diesen Widerspruch in sich aufzulösen, vielleicht muß er ja auch gar nicht aufgelöst werden... - es ist schließlich auch eine emotionale Situation, die wohl ad hoc nach Beendigung des Zustands schreit (egal zu welchem Preis).

Das sind so meine Gedanken dazu. Aber auf die Schnelle würde ich nix ändern, lasse es sacken. Vielleicht helfen meine Anmerkungen noch, um diese Strophe zu bearbeiten, ich denke, es würde noch einen Tick gewinnen können.

Gruß
Frank


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