Misteln

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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leonie
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Beitragvon leonie » 27.04.2006, 22:37

Misteln

Wund liegst du da.
Andere blühen.

Zu fest
umarmten die feisten Kugeln dich.
Bedienten sich, sogen dich aus.

Trieben milchige Früchte.
Zermürbten,
was dich hätte leben lassen.

Bis dein Herz pumpte
anstatt zu klopfen.

Deine Zweige
fühlten kein Amselnest.
Die Nachtigall sang
in anderen Kronen.

Zwischen den Fingern
zerkrümelt dein Mark.
Silberrauschen verweht.

Man sollte
das Küssen verbieten.


(Erstfassung:

Wund liegst du da.
Andere blühen.

Zu fest
umarmten die fetten Kugeln dich.
Bedienten sich, sogen dich aus,
trieben milchige Früchte.

Zermürbten,
was dich hätte leben lassen.
Bis dein Herz pumpte
anstatt zu klopfen.

Die Nachtigall sang
in anderen Kronen.
Amselnester fanden
kein Zuhause bei dir.

Da liegst du
in Einzelteilen zu Boden gegangen.
Deine Silberblätter
rauschen nicht mehr.

Man sollte
das Küssen verbieten.)
Zuletzt geändert von leonie am 28.04.2006, 23:07, insgesamt 5-mal geändert.

Gast

Beitragvon Gast » 27.04.2006, 23:48

Nur noch ganz schnell vor Mitternacht, liebe leonie,

tolles Bild hast du gezaubert, an den Details muss noch ein wenig geschliffen werden... son bisschen Brilliantschliff fehlt - weg vom allgemeinen Formulierungen, wie z. B: ..
Amselnester fanden
kein zuhausebei dir

Da liegst du
in Einzelteilen zu Boden gegangen.
Deine Silberblätter
rauschen nicht mehr.


Du könntest vom "silberrauschen" schreiben, Blätter kann entfallen, da ja klar ist, dass es sich um einen baum handelt.

Man sollte
das Küssen verbieten


... besonders der letzte vers, wenn du dieses "Man sollte" noch ersetzen kannst...wunderschöne Idee...




Liebe Grüße /Gute Nacht und inzwischen auch Guten Morgen
Gerda

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leonie
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Beitragvon leonie » 28.04.2006, 12:09

Liebe Gerda,

silberrauschen - das ist genial! Danke für Deine Anregungen!!!

Ich habe mich an einer zweiten Fassung versucht und habe die Erstfassung, weil das schon mehrfach angeregt wurde darunter gesetzt.

Liebe Grüße

leonie

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 28.04.2006, 13:27

Hallo Leonie

Ein stimmiges, atmosphärisches Bild hast Du mit diesem Gedicht erschaffen, da gebe ich Gerda recht. Ich finde den Text sehr schön.

"Amseln bedauten dich nicht" finde ich nicht unbedingt besser. Wie findest Du "Amseln erwählten Dich nicht für ihre Nester"?

Gruß

Jürgen

Gast

Beitragvon Gast » 28.04.2006, 13:31

ein Vorschlag mehr:

du sahst kein
Amselnest

Die Nachtigall sang
in anderen Kronen.

Vielleicht klingt das authentischer...
...nicht so geschraubt... verzeih, lieber Jürgen, aber eine Amsel wählt zwar ganz sicher... allerdings bespricht sie das nicht mit dem "Erwählten" oder mit dem Hausherrn... ;-)

L. G. G.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.04.2006, 18:53

Hallo leonie,

wow! Sehr gelungen (wobei die neue Fassung auch noch sehr gewonnen llt hat). Mir gefällt das Bild, die Aussage...der ´durchaus märchenhafte Ton)

Wie wäre denn:

Die Nachtigall besang
andere Kronen.

Oder:

Die Nachtigall sang
in fremden Kronen.

Obwohl, vielleicht ist deine Version an dieser Stelle auch besser, ich bin unschlüssig :grin:


Diese Stelle hier ist die einzige, die mich wirklich stört:

In Einzelteilen
liegst du.


Erstens ist sie mir zu deutlich im Vergleich zur Bildersprache des Restes. Zweitens wiederholst du das liegen. Drittens verwirrt es mich, da ich dachte, der Baum sei unter der Last seiner Früchte gebrochen. Die Einzelteile klingen nach einem gefällten Baum.
Ich finde du könntest die Zeilen entweder ganz streichen (da die ersten Zeilen das Sterben des Baumes, das "nie gelebt haben" (in diesem Jahr oder immer) stärker und stark genug ausdrücken. Oder du arbeitest vielleicht mit
gebrochen
oder so etwas?

Entgegen Gerda fand ich übrigens das "Man sollte das Küssen" als Resümeeform gelungener als die jetzige Version. Die jetzige wird durch das und ihrer Wirkung beraubt und das "man" klingt "faustischer".

Zum Schluss noch...wund dazu liegen während andere Blühen ist ein sehr hartes gelungenes Bild!

woitek

Beitragvon woitek » 28.04.2006, 19:33

Liebe leonie,

auch mich spricht dein Text an. Vieles wurde schon gesagt.

Ich denke dein Text würde noch gewinnen, wenn du ihn insgesamt ins Präsens heben würdest.
Es wirkt dann, denke ich, irgendwie erfrischender.
Schau mal selbst:


Wund liegst du da.
Andere blühen.

Zu fest
umarmen die feisten Kugeln dich.
Bedienen sich, saugen dich aus.

Treiben milchige Früchte.
Zermürben,
was dich leben lassen könnte.

Bis dein Herz pumpt
anstatt zu klopfen.

Deine Zweige fühlen
kein Amselnest.
Die Nachtigall singt
in anderen Kronen.

In Einzelteilen
liegst du.
Ich vermisse dein
Silberrauschen

und werde das
Küssen verbieten.


Kannst ja mal darüber nachdenken. O:)

Liebe Grüße
Woitek

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Beitragvon Lisa » 28.04.2006, 19:44

Hallo woitek,
auch wenn ich am heutigen abend schon das zweite Mal gegen deinen Präsensvorschlag sein muss (verzeih mir das :razz: )*, so würde das Präsens die Logik des Gedichts zerstören, denn die Misteln, die dem Baum alle Kraft geraubt haben, und die Amseln und all das...das hat ja zu dem Sterben des Baumes geführt...

* ein Versehen, das war carl! (Nachmerkung)

woitek

Beitragvon woitek » 28.04.2006, 19:53

Liebe Lisa,

Dann eben Futur im ersten Vers und im ersten Vers des vorletzten Textblockes. Dann müsste es logisch wieder stimmen.

LG Woitek

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Beitragvon leonie » 28.04.2006, 21:47

Hallo und danke erstmal für alle Kritiken!

Ich habe versucht, manches umzusetzen. Bei dieser Fassung bin ich doch wieder beim "man sollte" gelandet. Woitek, mit dem Präsens/Futur, das habe ich probiert, kam aber nicht damit zurecht.
Ich hatte beim Schreiben das Thema "Missbrauch" (nicht nur aber auch sexuell) im Hinterkopf, wird das eigentlich deutlich. Oder ist es so klar, dass ich die Frage gar nicht zu stellen brauche?

Euch grüßt
die grübelnde leonie

woitek

Beitragvon woitek » 28.04.2006, 22:04

Liebe leonie,

also wenn ich ehrlich bin, habe ich das Thema "sexueller Missbrauch" in keinster Weise mit deinem Gedicht verbunden und glaube, dass es den anderen auch so ging. Wir haben es eher im Wortsinn verstanden, oder unsere eigenen Assoziationen damit verbunden. Aber, so sollte es doch sein(schau mal meine Signatur).

Ich habe auch das Gefühl, dass du mit den ganzen Änderungen an deinem Gedicht nicht so recht zufrieden bist. Manchmal ist es so, je mehr man ändert, umso mehr bekommt man das Gefühl, dass einem der Text entgleitet.(geht mir immer so) :???:

Darum: Ändere nur so viel wie du magst. Du kannst auch "Nein" sagen. Du bist der Autor und der Text wird so, wie du es willst. O:)

Herzlichst
Woitek

Gast

Beitragvon Gast » 28.04.2006, 23:03

Liebe leonie, den Gedanken an die andere Ebene des Gedichts hatte ich schon...
Ich finde es in Ordnung, dass diese Deutung für den Leser möglich ist aber offen bleibt...

Gute Nacht
Gerda

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 28.04.2006, 23:14

Hallo Leonie

An Missbrauch habe ich beim Lesen ehrlich gesagt höchstens in einem sehr weiten Sinne gedacht. Ich hatte im Bild die Beschreibung einer unglücklichen Beziehung gesehen (wegen der Küsse, die verboten werden sollten), hatte aber eher vermutet, dass ein Partner den Anderen parasitär benutzt, wegen der Misteln, z. B. als Vorzeigeobjekt im gesellschaftlichen Leben ohne auf die Empfindungen Rücksicht zu nehmen.

Und...das ist die Interpretation eines einzelnen Lesers. Das heißt nicht, dass aufmerksamere Leser Deine Intention besser erkannt hätten.

Je mehr ich nach Deinem Hinweis darüber nachdenke, fällt mir auf, wie passend der Vergleich mit den Misteln ist.

Gruß

Jürgen

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Beitragvon leonie » 29.04.2006, 21:44

Lieber woitek, liebe Gerda, lieber Jürgen,

danke für die Antworten.
Woitek, es ist schon so, dass ich nur das ändere, was ich will. Bei diesem recht frischen Text war ich an manchen Punkten selbst sehr unsicher. Was Du beschreibst, kenne ich aber auch gut. Manchmal tut es gut, den Text einfach ein Weilchen ruhen zu lassen und mit Abstand noch mal drauf zu schauen...

Viele Grüße

leonie


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