Haus Halt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Jürgen

Beitragvon Jürgen » 16.05.2006, 08:37

Sie bersten und knacken
die weiß getünchten Wände
des Neubaus
und blähen sich auf.
Bröckelt Putz?

Niemand sonst
scheint es
zu bemerken.
Ich zweifle
an meinen Sinnen
und schweige.

Unruhig
blicke ich
hinauf
zum Dach.


Ursprüngliche Fassung:

Sie bersten und knacken
die weiß getünchten Wände
des Neubaus
und Blähen sich auf.
Bröckelt Putz?

Niemand sonst
scheint es
zu bemerken.
Ich zweifle
an meinen Sinnen
und schweige.

Unruhig
blicke ich
zum Dach
hinauf.


Änderungen siehe Kommentare von Last und carl
Zuletzt geändert von Jürgen am 17.05.2006, 23:03, insgesamt 2-mal geändert.

Last

Beitragvon Last » 16.05.2006, 10:07

Hallo Gurke,

das gefällt mir sehr :grin:

Schon der Titel macht neugierig und das gedicht wird dem auf jeden Fall gerecht. Mit neuen Dingen hat man häufig das Gefühl, dass nicht alles in Ordnung sei, dann hält man sein Maul um nicht, wie ein Spinner dazustehen. Aber das mulmige Gefühl bleibt.
Wenn man mal überlegt, wie sich wohl die ersten Wissenschaftler gefühlt haben, die vor 50 Jahren als erste den Treibhauseffekt angekündigt haben, dann sieht man, wie bedeutend dieses Verhalten in die menschliche Psyche mit einspielt.

des Neubaus
und Blähen sich auf

An der Stelle reibe ich mich ein wenig, warum großgeschrieben (Tippfehler?), ich persönlich hätte auch die und's der ersten Strophe als sie formuliert, der Parallelismus hat für mich den selben häufenden Effekt und klingt unheilsvoller, bedeutender:
Sie bersten, sie knacken
die weiß getünchten Wände
des Neubaus,
sie Blähen sich auf.
Bröckelt Putz?

Aber das ist eigentlich ziemlich unbedeutend...

carl
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Beitragvon carl » 16.05.2006, 10:07

Hallo Gurke,

das Gedicht find ich wirklich gut!
Wie üblich zwei Fragen:

"Blähen" großgeschrieben?

"Unruhig
blicke ich hinauf
zum Dach."

oder

"Unruhig
blicke ich
hinauf
zum Dach."

Wie wärs damit? Scheint mir als Schluss pointierter...

Gruß, Carl

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leonie
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Beitragvon leonie » 16.05.2006, 10:16

Lieber Jürgen,

sehr schön. Ich habe mich wiedergefunden, vor allem im Zweifeln an den eigenen Sinnen!
Liebe Grüße

leonie

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 16.05.2006, 19:56

Hallo Last, carl und leonie

Vielen Dank für Eure zustimmenden Kommentare.

Das Blähen habe ich groß geschrieben, um den größer machenden Inhalt des Wortes zu unterschreichen. Ich werde es aber nach euren Kommentaren ändern. Es betont wohl wirklich unnötig, ist etwas primitiv und setzt zuviel Aktent an der falschen Stelle.

Über Eure anderen Anregungen denke ich nach.

Schönen Abend

Jürgen

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 17.05.2006, 00:23

Hi Jürgen.

Schöne Sache, Dein Text. Ich musste sehr schmunzeln. Und wenn sich Wände aufblähen, kann man sicher sein, dass Putz bröckelt, wenn nicht gar großflächig abplatzt. :grin:
Bist Du auch aus dem Bauhauptgewerbe oder gar Bauleiter? :cool:

Schmunzeln auch deswegen, weil ich genau dazu einen alten Zweizeiler auswendig kann - eine Ode an abbröckelnde Anstriche:

Was Menschenhand einst nicht verstand,
fällt mir jetzt von der Wand.


Der furchtvolle Blick zum Dach ist ein Volltreffer am Schluss, obgleich ich auch Carls Pointierungsvorschlag mit dem Wort 'Dach' am Ende des Satzes bevorzugen würde. Dann spannte sich der Bogen wirklich bis zum letzten Wort.

Aber sonst: Echt gut,
Tom.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 17.05.2006, 12:10

Hallo,
also für mich ist der Text (der übrigens sehr reizvoll ist) gar nicht so leicht zu durchschauen wie mir die bisherige Diskussion vermitteln will.

Wer sind denn sie? ACHSO!´Wirklich in diesem Augenblick habe ich verstanden, dass sich das sie auf die Wände bezieht. Ich habe immer gelesen, dass etwas (Mäuse, Gedanken, Gedankenmäuse :grin: ) die Wände knacken, aber bersten kann niemand etwas.

Trotzdem schlummern meiner Meinung nach geheimnisse in diesem Bild, es ist nicht klar ausgemacht, wofür das Haus überhaupt steht und wer alles in ihm wohnt.

Gurke, das gefällt mir und erinnert mich stark vom Typ her an deine Seelenkommode.

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 17.05.2006, 16:11

Hallo Gurke,

dieses Gedicht gefällt mir sehr gut.

Ich würde nur "knacken und bersten"
schreiben, wenn "knacken" im Sinne von Knistern gemeint ist.
Wenn "Knacken" im Sinne von "Aufbrechen" gemeint ist bin ich mir nicht sicher, welches Wort stärker/kräftiger/mächtiger von beiden ist - in jedem Fall würde ich aber das stärkere Wort als zweites nehmen.
Nur eine Anregung.

Gruß
Frank

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 17.05.2006, 23:20

Hallo nochmal und danke für die Kommentare

Es hat sich was getan, wie ihr seht. Das Dach steht jetzt am Schluss und betont die Intention stärker. Danke für Eure Hilfe.

@Tom
Nein, ich bin nicht im Bauhauptgewerbe tätig. Der Gedanke hat mich sehr amüsiert. Danke für Deinen Kommentar.

@ Lisa
Es ist weitläufig interpretierbar gehalten. Man ist an irgendetwas Neuem beteiligt, die Anderen sind zufrieden, aber man selbst ist vom Konzept nicht überzeugt und fürchtet den Reinfall. Aber es gibt noch mehr Möglichkeiten den Text zu interpretieren. Da hast Du recht.

@Frank
Schön Dich zu lesen. Das Knacken ist als beunruhigendes Geräusch in der Wand gemeint. Ein Aufbrechen wäre für dieses Gedicht der Unruhe und Skepsis wohl schon zu viel. Schließlich sollen es die Anderen ja nicht bemerken.

Nächtliche Grüße

Jürgen

Gast

Beitragvon Gast » 18.05.2006, 07:02

Guten Morgen Jürgen,

auch wenn ich jetzt erst "was sage", ich habe dein Gedicht schon bemrkt, als es ganz frisch gepostet war und fand es spontan richtig gut.
Also:
Kein Wort zu viel, eine beängstigende Stimmung erzeugt, das Bild übertragbar, der Text trägt... mit der kleinen Änderung am Schluss noch besser.

Liebe Grüße in den Tag
Gerda


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