Schlafbuch

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 20.02.2011, 17:01

Schlafbuch

10.01.2011

22:45

Die Nacht entkleiden:
Ihre schwarzen Brüste
und den finsteren Schoß,
aus dem Träume fallen
wie die Tränen Ungeborener
(denn
was sind sie sonst
die Träume
als Tränen
von Un-
von Tot-
von Niegeborenen?)

berühren.


Die entkleidete Nacht

Der Tag soll zur Ruhe fahren, doch lange zappelt er noch im Abendrot. Scharfkantig wie der Tod, zielt der Wind aufs Kinn. Niemand wagt Prophezeiung noch Gebet, bis das Dunkel wie Schildpatt gekocht und geformt ist. Ein Baum, in mächtiger Erregung, stemmt sich gegen die Uhr. Eine Stunde schneit herab und schickt zu Bett.
Im Liegen geschmiedete Übereinkunft:
1. Du sollst nicht
2.
3.
(…)


Eingewiesen
in das kleine Nest
der Zirbeldrüse
fresse ich die Pest

Abgewiesen
fern dem dunklen Fest
dem lakmussüßen
fresse ich den Rest

Warum trägt mein Vater eine Augenklappe? Er ist ein stattlicher Mann, der niemals ohne Krawatte das Haus verlässt. Seine Augen waren immer unversehrt und klar und blau. Aus dem gesunden Auge schwappt Wasser über sein Gesicht. Die Augenklappe bebt, als wolle sich darunter etwas hervortun. Das Meer oder Ärger, ich weiß es nicht. Wo ich doch so tief…

A.C. Seymor schreibt über das Nacktsein im Traum:
„Wo alles sich in Bewegung, im Strudel befindet, fühlt das Ich sich ständig fortgerissen. Nicht die erlebten Ereignisse beunruhigen es, sondern die ständige Bewegung. Eine Zielgerichtetheit, die der Träumende verspürt, als wäre sie von einer Gottheit verordnet, die ja tatsächlich vorhanden der Traum selbst ist. Das Grundbedürfnis besteht darin, einen Ort zu finden, der als Anker dient. Ist dieser gefunden, dient die Nacktheit, sich diesem im selben Augenblick wieder zu entfremden. Steht man dem Bekannten gegenüber, wird man selbst durch Entkleidung und Bloßstellung zum Unbekannten, auf dass der Traum sich nicht auflöst. Während wir als bekleidetes und fest definierbares Ich durch eine unbekannte Traumwelt wandern, sehen wir als Nackter uns stets mit Bekanntem konfrontiert.“

…schlafe und das Zimmer vom Wind durchwandert wird, vom Atmen meiner Frau, vom Mondlicht, von einer Axt, die allem Leben den Kopf abschlägt. Und so denke ich eine Welle, die der Bibel noch fünfzig Psalmen und einige Prophezeiungen hinzufügt. Gott sitzt in seinem Sessel. Er hat auf mich gewartet. „Dein Vater“, sagte er, „hat was am Auge.“

Den Traum glaub ich meinem Spiegel nicht
Solange meinen Schlaf das Ich noch blendet
Die Furchen in dem Traumgesicht
Sind Lebenslinien unvollendet

Unvollkommen wie alles Sein und Werden
Wie der Schall, der im Wind verfliegt
Wie das Rohr, das im Wind sich biegt
Und bricht, aus Angst vorm Sterben

Doch gänzlich sind sie nicht verschwendet
Gänzlich ziellos nicht verwendet
Die Linie ist sich selbst das Ziel

Der Götter böses Spiel
Denen der Göttlichkeit zu viel
Die Göttlichkeit entwendet


Die Frau ist bereit zum Beischlaf. Aber sie wehrt sich, als ich ihr meinen Schwanz in den Mund schieben will.
„Was ist los?“, will ich wissen.
„Du könntest wenigstens fragen“, sagt sie und aus dem Kissen, auf dem sie liegt, wird ein Krokodil.

dasblauegründerwiesen ∙ diewolkenringsobendrüber ∙ windderanhemdknöpfenknabbert ∙ ichfliegeaufdemfahrrad ∙ ichfliegedurchdiefelder ∙ rapsrapsrpasprapsraps ∙ meinemuttermachteinziemlichernstesgesicht ∙ wiehießdiegroßbusigeausdemsechtenschuljahrnochmal ∙ ichfliegeindiewolkendurchsiehindurchundausihnenhinausinrichtungerde ∙ diedickbusigeistirgenwieverliebtundböseundichgreifeimfliegennachihrentitten ∙ dasblaugründerwiesen ∙ diewolkenobendrüberdurchdieichfliege∙ diedickbusigeumarmtmich ∙ ichhabeangst ∙ meinemutterverbindetdiehanddiemirverletztwurde ∙ diedickbusigelächeltirgendwoimhintergrund ∙ ihrefotzescheißescheißescheißescheiße ∙ einpräserrolltsichvomschlaffenschwanz ∙ meinemutter:diewaraberleicht zuhaben ∙ ich:jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa


5:30
Piep piep piep piep usw.

Die Nacht
Wickelt ein graues Tuch um ihre Brüste
Bedeckt den Schoß mit Tau
Nicht so, dass vielleicht sie’s wüsste
Nein, sie weiß es ganz genau
Dass nichts, was im Arm sie hielte
Länger währt, als ihr fahles Kleid
Und wer vom Tag zur Nacht hin schielte
Doppelt sieht.

5:39

Guten Morgen…
Zuletzt geändert von Sam am 02.03.2011, 16:58, insgesamt 2-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.02.2011, 18:42

Hi Sam,

ich möchte noch erwähnen, dass dies hier meine absolute Lieblingsstelle ist.
Sam hat geschrieben:„Was ist los?“, will ich wissen.
„Du könntest wenigstens fragen.“, sagt sie und aus dem Kissen, auf dem sie liegt, wird ein Krokodil.

Das ist so wunderbar plastisch, klasse!

Saludos
Gabriella
P.S: Punkt nach "fragen" muss weg.

Sam

Beitragvon Sam » 02.03.2011, 16:57

Hallo Gabriella,

vielen Dank fürs Bennenen deiner Lieblingsstelle!

Den Punkt nehme ich gleich raus.


Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 02.03.2011, 21:01

Hallo Sam,
die formale Vielfalt Deines Schlafbuchs beeindruckt auch mich, aber wie Sethe muss auch ich sagen: Ich schlafe und träume anders. Gewalt und Sex spielen als Drohung, als Gefahr eine Rolle, ich fürchte immer vieles, das aber nie eintritt, oder es liegen Lähmungen über mir. Mir scheint dieses auf Ziele hin zu träumen in dem Zitat ganz gut eingefangen. Den Autor A. C. Seymor (nicht Seymour?) konnte ich nicht finden. Magst Du die Fundstelle angeben?
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 03.03.2011, 07:06

Hallo Quoth,

vielen Dank, dass du hierzu auch etwas geschrieben hast. Natürlich träumt jeder irgendwie anders, auch wenn es strukturell und was gewisse Bilder betrifft, Übereinstimmungen gibt. Ich habe mit dem Text versucht, eine Traumwelt zu beschreiben, der nicht nur auf konventionelle Weise phantastische Bilder beschreibt, sondern in seinem Aufbau und in der Gestaltung auch "träumerisch" ist, und, durch Wiederholungen und Einschübe, über das Träumen im Traum nachdenkt.

Die Fundtselle für das Zitat von A.C. Seymor ist übrigens dieser Text ;-)


Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.03.2011, 09:53

Hallo, Sam,
Du schreibst:
Die Fundstelle für das Zitat von A.C. Seymor ist übrigens dieser Text.

:daumen: Das ist ein echter Anti-Guttenberg! Borges lässt grüßen. Du scheinst die Wissenschaft auch nicht sehr ernst zu nehmen! :smile:
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 03.03.2011, 10:05

Sam hat geschrieben:Die Fundstelle für das Zitat von A.C. Seymor ist übrigens dieser Text.

Das ließ mich sehr schmunzeln, Sam. Und originell ist es auch, ein Zitat einzubringen, das gar keines ist. ,-)

"Anti-Guttenberg", jou, das trifft's, Quoth. *lach*

Saludos
Gabriella

jondoy
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Beitragvon jondoy » 03.03.2011, 15:01

....hey Sam, dieser Clou bringt mich auch zum Lachen :-),

Max

Beitragvon Max » 04.03.2011, 08:38

Lieber Sam,

ich fürchte, dass ich zu wenig Zeit habe, um den Text in der Ausfürhlichkeit zu kommentieren, wie er es verdient hätte. Mir geht es aber ähnlich wie Quoth, dass ich die formale Vielschichtigkeit des Textes mag. Normalerweise bin ich jemand, dem vor der literarischen Verarbeitung von Träumen graut - sie sind mir zu spekulativ, zu gewollt allseits interpretierbar, hier habe ich aber mit Interessen weitergelesen.

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 05.03.2011, 07:24

Das ist ein echter Anti-Guttenberg


In diesem Fall ja. Es ist in dem Gedicht aber auch so einer kleiner, echter Guttenberg drin. Da der Autor aber schon lange, lange tot ist, dürfte es sich nicht um eine Urheberrechtsverletzung handeln.

Und ja, Borges - der hats vorgemacht. Ich mag das Erfinden von Zitaten als Stilmittel. In einem fiktiven Text etwas scheinbar nichtfiktives einzubauen, hält den Text, wenn es denn gut gemacht ist, in einer Art Schwebe zwischen wahr und nicht wahr. Die Grenzen verschwimmen, wie sie es im wirklichen Leben ja auch ständig tun.

Jedenfalls freut es mich, wenn das "Zitat" beim Leser ankommt.


Auch dir Max vielen Dank für deine Meinung. Mir geht es bei Traumtexten ähnlich wie dir. Ich bin meist sehr skeptisch und steige schnell aus. Da aber das Träumen an sich ein sehr spannenden Thema ist, wollte ich es mal auf eine etwas andere Art und Weise angehen.


Euch allen herzlichen Dank!


Gruß

Sam

Quoth
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Beitragvon Quoth » 05.03.2011, 18:36

Hallo Sam,
jetzt machst Du mich aber neugierig. Sag doch mal, wen Du mit welchen Worten zitiert hast!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Max

Beitragvon Max » 05.03.2011, 20:46

Ich habe keinen Guttenberg gefunden .. spannend :-)

Sam

Beitragvon Sam » 06.03.2011, 14:34

Die ersten Zeilen des Sonettartigen in der Mitte des Textes gründet sich auf Sonett 22 von Shakespeare:

Mein Alter glaub' ich meinem Spiegel nicht
Solange meine Jugend dich noch blendet
Doch zeigt mir Furchen einst auch dein Gesicht
...

danach verlieren sich die Bezüge, wie es in Träumen üblich ist.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 06.03.2011, 15:14

Hallo Sam,

vielen Dank! Hab's mit Google überprüft - die Suchmaschine findet tatsächlich was, wenn man Deine erste Zeile des "Sonettartigen" eingibt - die etwas anders lautende Übersetzung von George. Nun gut, der Autor ist über 70 Jahre tot, das durftest Du! Aber auch Dein Übersetzer???? Bei George lauten die ersten drei Zeilen:

Nicht glaub ich meinem Spiegel, ich sei alt
Solang ihr, du und Jugend, euch noch gleicht.
Doch seh ich: Zeit reisst in dich ihren Spalt

Oder bist Du selbst der Übersetzer? Dann darfst Du noch am Leben sein!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

Sam

Beitragvon Sam » 06.03.2011, 16:12

Hallo Quoth,

nein, ich bin nicht der Übersetzter (ich kann kaum [hardly] Gedichte schreiben, wie soll ich da in der Lage sein, welche zu übersetzen?)

Ich habe das Shakespeare-Sonett in einem kleinen Poetik-Band gefunden. Die Übersetzung stammt vermutlich von Martin Neubauer, wobei ich mir da nicht ganz sicher bin.

Gruß

Sam


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