Lieber Sam,
deine Texte überzeugen mich zu allermeist, auch wenn, wie hier, eine Minute der Verwirrung, Verblüffung, dem Verstehen voraus geht. Natürlich denkt man an Brecht, den Jasager und den Neinsager, den ich in beiden Fällen sehr moralisierend finde. Mit Brecht hatte ich immer Probleme, weil ich seinen päadagogischen Auftraf zu kleinbürgerlich finde.
Ließe man dem künstlerischen Drang der Menschen (ein Begriff, den ich "dem Volk" weit vorziehe) freien Lauf, es käme mehr Proust als Brecht zum Vorschein - meine ich.
Und du neigst auch in manchen deiner Texte zur Belehrung. Natürlich schaffst du es (das ist der Moment der Verblüffung) diese umzukehren, Dadurch wird der Text aus der Tradition herausgehoben und zu deinem Text. Als solcher im übrigen erkennbar und deshalb ein bemerkenswerter Text aus authentischer Schriftstellerhand.
zu den einzelnen Passagen :
Sam hat geschrieben:Die Frucht der Weisheit
Der Mönch Hu Tse Lue
betrachtete im Garten des Klosters
die reifen Äpfel an einem Baum
Und als diese nach einiger Zeit
schließlich abfielen
und am Boden verfaulten
kam ihm die Idee seinen Schülern
eine Lektion über die Vergänglichkeit
zu erteilen
eine klare EInleitung, die ein "Lehrgedicht", das könnte so in den Kalendergschichten stehen.
Sam hat geschrieben:Im folgenden Jahr
während die Äpfel wieder reif am Baum hingen
pflückte Hu Tse Lue einen besonders schönen
und legte ihn auf den
goldenen Schrein
vor der Statue des ewigen Buddha
wo ihn die Schüler jeden Tag
betrachten sollten
Eine Spannung wurde aufgebaut und weitergeführt, bei der Gelegenheit stellt sich die Frage, ob dieser einleitende Teil zu lang ist? Nein - denn der Leser braucht die Einstimmung, das Aufbauen einer besonderen Textmusik.
Sam hat geschrieben:Als nach fünf Jahren
der Apfel noch immer
reif und saftig
auf dem goldenen Schrein lag
packten die Schüler Hu Tse Lue
führten ihn auf einen Felsvorsprung
und stießen ihn hinunter
um nun ihm eine Lektion
über die Vergänglichkeit zu erteilen
Das ist "Sam". Der Lehrer wurde vom Apfel besiegt. Der Lehrer hat das Gesetz und die Macht des Apfels unterschätzt (--- das Lebendige, das Prinzip des "Lebenden" - ich glaube, dass der Paradies-Apfel nur entfernt mitschwingen soll, die Frucht ist hier in ihrer Kraft als Ergebnis, als Ernte gemeint, glaube ich. Der Lehrer hat eine Ernte gemacht, die seine Fähigkeit übersteigt. (Damit meine ich den Apfel, der intakt bleibt, das sogenannte "Apfelwunder" -- das ist sicher, hoffe ich, ironisch gemeint. Der apfel tut jedenfalls nicht, was der Lehrer von ihm erwartet. Da beginnnt die Umkehrung.
Der Widerstand des Fleischlichen
Diese gewaltige Ernte vernichtet seine Autorität und flößt den Schülern sowohl Verachtung für den Lehrer ein, als auch jene Furcht, die zu Mord- und Totschlag führt. Statt zu fragen : Warum, werden wortlos Handlungen an die Stelle der Hinterfragung gesetzt.
Von da an ist natürlich eine Neuerarbeitung des Gedichts möglich: ein Lehrer, der aus dem Verfaulen der Früchte falsche Schlüsse zieht. Er glaubt, er müsse den Schülern die Vergänglichkeit, das Faulen des Lebendigen aufzeigen. Dabei ... das ist jetzt absolute Interpretation, hätte er besser daran getan, die faulen Äpfel in sein Schreibzimmer zu tragen, den Duft der faulen Äpfel als Inspiration zu nutzen und kunstvoll kalligraphierte Texte über das Fortschreiten einer blassen Apfelstelle zu verfassen. (Schiller)
So, das wärs, ich hoffe, dich nicht irritiert zu haben, mit dieser sehr persönlichen Interpretation deines Gedichts, das ich als solches sehr mag,
lg
Renée