kreuztragung

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 08.10.2012, 21:51

Kreuztragung

Sehen ist eine große Last.
Schön gezeichnete Räder. Der Wolke
dunkles Pochen am Horizont. Sogar
das Pferd, das doch vier Beine hat

bricht ein im Gras wie in Eis, dem Spiegel
den das harmlose Wasser macht,
jeden Strahl bricht und zurückwirft: hier
hast du ihn, nun sieh du zu!

Es geht nicht weiter.
Die klugen Pferde stehen, warten,
die Herren kreuzen ihre Lanzen.

Einst war ich schlau. Was hab ich alles
gepredigt im Tempel. Jetzt bin ich dumm,
und meine Füße sind nass.

Zu Piet Breughels 'Kreuztragung', 1564
Zuletzt geändert von RäuberKneißl am 10.10.2012, 20:18, insgesamt 1-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 13.10.2012, 09:46

Hallo Franz,

Der sokratische "schlau und dumm" liegt dem 'Brian'-Humor für mein Empfinden sehr fern, ich hoffte nicht, dass es irgendwie slapstick-haft oder humoristisch wirkt, oder doch? Die Perspektive hatte ich nicht wechseln wollen, Flora, es sollte dieselbe Innenperspektive sein von Anfang bis Ende. Vielleicht ist der Zoom auf die direkte Rede verwirrend?
Für mich hängt es vermutlich hauptsächlich am "Tempel" und dem "predigen". Das ist denke ich einfach zu stark mit Jesus verknüpft. Vielleicht würde da schon ein "auch" helfen ... also "was hab auch ich alles", oder den Tempel ersetzen, oder zumindest schreiben "in meinem Tempel"? Der Anklang an den Brian-Humor kommt für mich in dem Moment ins Spiel, wenn ich in deinem Gedicht tatsächlich Jesus in diesem Augenblick sagen höre: und meine Füße sind nass.
Aus der Innenbetrachterperspektive wäre das natürlich etwas völlig anderes.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

carl
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Beitragvon carl » 15.10.2012, 19:33

Hallo Räuber,

mich hat das Gedicht beim ersten Lesen auch berührt, obwohl ich keine Ahnung hatte, worum es geht.
Liegt ,wie schon gesagt, an der genauen Beobachtung und lebendigen Beschreibung einiger Details, die vorsichtig eine Leerstelle umfahren. Und dieser "blinde Fleck" ist es!

Als Bildbeschreibung finde ich das Gedicht treffend:
Auch Breughel versteckt die namengebende Szene (Jesus unter dem Kreuz) in einem Volksfest.
Das eigentliche Thema ist die Mutter Maria im Vordergrund, die nicht hinschauen kann.
In diesem Sinne könntest du die erste Zeile präzisieren:
Hinschauen müssen ist eine Last.

Das alles fehlt, wenn das Bild fehlt.
Trotzdem könntest du das Gedicht allein stehen lassen, wenn du die erste Zeile beim Wort nimmst (wie ich es getan habe, als ich den Zusammenhang mit dem Bild nicht hatte):
Sehen ist eine Last.
Also nicht: zuschauen müssen und nichts tun können, sondern: das Sehen selbst.
Wieso?
Man kann unsere Sinne in zwei Kategorien teilen:
Sehen und Hören
Fühlen und Schmecken/Riechen.
Als der Hirnforscher Singer auf einem Atlantikflug einen Hummer durch die Kabine krabbeln sah, konnte er es erst glauben, als er das Tier berührt hatte. (Der Hummer war aus der Kombüse ausgebüchst, als Hirnforscher fliegt man 1. Klasse).
Diese kurze Geschichte beleuchtet das Problem:
Sehen und Hören stellt uns in Raum und Zeit. Aber sie sind nur eine Art Hobby.
Elementar sind Fühlen und Riechen, wie in den Armen des Geliebten oder an der Brust der Mutter.
Damit bleibt die Frage, auf was man im Letzten geworfen ist, und der Titel Kreuztragung ist gerechtfertigt.
Das Licht wirft uns die Bilder hin und sagt nur (wie die Hohenpriester zu Judas): da siehe du zu.
Hören und Sehen verdammen uns per se zum Außenstehenden, zum Beobachter, der nicht existentiell teilnimmt.
Da stehen wir dann und unsere Füße werden nass...

Allerdings ist der Verweis auf Jesu Predigten im Tempel für mein Empfinden irreführend.
Wenn du das Gedicht auch alleine stehen lassen willst, wäre es vielleicht besser, im "Bild" zu bleiben ;-)
Dann bräuchten z.B. die schönen Räder außer ihrer Ästhetik auch ihre haptische Qualität als Folterinstrument.
Liebe Grüße, Carl

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 16.10.2012, 22:55

Hallo Carl,
danke für den ausführlichen Kommentar, der mich auch deshalb beschäftigt, weil es noch einige andere Texte 'zu' Bildern, die den Gegenständen der Bilder noch viel ferner sind, als es bei dem hier der Fall ist.
Ist es wirklich irreführend, die von dir geschilderte Skepsis gegenüber dem Sehen auf das Einsehen auszuweiten? 'Elementar' sind kluge Predigten im dunklen Tempel in dem angedeuteten Sinn nicht mehr.

Nur nebenbei: ob das Frontteil des Bildes mit Maria das eigentliche Thema ist? Mir erscheint es wie ein Zitat aus einer anderen, abgehoben sakralen Mal-Welt, dem hier der eigentlich Breughelschen Ansatz im Hintergrund gegenübergestellt wird. Aber das scheint immer noch ein beliebtes Interpretationsfeld bei Kunsthistorikern zu sein.

Grüße
Franz

carl
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Beitragvon carl » 17.10.2012, 07:58

Hallo Räuber,

ob Maria das Thema ist oder ein Vorwand, kann ich nicht entscheiden. Es passt halt zu deiner Deutung des "nicht hinsehen können".
Jetzt hab dich dich so verstanden, dass du noch weiter gehen willst, vom Sehen selbst zum Einsehen.
"Irreführend" ist nicht richtig ausgedrückt, das nehme ich zurück.
Aber ohne Bild bleibt die letzte Strophe in der Luft hängen. "Reise ins Nirgendwo" oder so ähnlich sagte Ferdi dazu.
Auch wenn die letzte Strophe super formuliert ist, braucht sie (ohne Bild) mehr Unterfutter vorher, dass ich sie nachvollziehen kann.

LG, Carl


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