Ja, bei der Personenverehrung -- ich verehre zum Beispiel Beethoven --, oder besser gesagt bei der Taten- und Werksverehrung -- ich verehre zum Beispiel Beethovens Taten und Werke; ich kenne ihn ja nicht persönlich --, gerät oft in Vergessenheit, worauf genau sich die Verehrung bezieht. Denn wie der gerne pauschalierende Betrachter beim Entdecken eines schmutzigen Einzelteils tendenziell gleich das unbekannte Gesamte als Schmutz abtut, genauso erhebt er dieses wiederum sofort zum tendenziell Schönen auch wenn er nur einen einzelnen schönen Bruchteil erblickt. Mit diesem Pauschalismus geraten schnell auch verschiedene
Arten von Taten in den selben Topf: Taten musikalischer Art, oder politischer, finanzieller, technischer, putzender, kochender, sexueller, baulicher, mathematischer, philosophischer, sozialer Art. Und so weiter. Welche dieser Tat-
Arten genau definiert den Charakter? -- Man kann nicht sagen, jegliches Tun sei charakter-irrelevant. Es ist relevant. Ein Mensch tut immer etwas, auch wenn er nur schlafen tut. Wenn nicht sein Tun, was sonst macht den Menschen aus? Ich meine, der Charakter ist die Summe alles Tuns. "Guten Tag"-Sagen ist Tun. Jedes Verb ist ein Tunwort.
(Und die Taten aller Art sind meiner Ansicht nach höchst interaktiv. Was sind
soziale Taten etwa? Einige der anderen genannten Taten haben schließlich soziale Wirkungen!)
Die altbekannten Fragen: Wenn ich ein Gedicht mag, mag ich dann damit den Autor? Er ist die Summe all seiner Taten. Also mag ich dann damit die Summe all seiner Taten? Und darf der Autor sich somit geschmeichelt fühlen? Darf er nicht, wenn ich die Taten nicht pauschaliere; ich mag in dem Fall nur diese eine Dichter-Tat, nicht alle Taten, also nicht die ganze Lebenssumme. Andererseits funktioniert diese Trennung in der Praxis nur schwer. Wenn mir ein Gedicht missfällt, missfällt mir damit auch der Autor? Also die ganze Summe seiner Taten? Man kann nicht einerseits verlangen, dass der Autor die Anerkennung seiner Gedichte gerne persönlich nehmen darf, während er abgelehnte Gedichte bitte
nicht persönlich nehmen soll. Entweder sind seine Dichter-Taten mit ihm verbunden oder nicht. Wenn ein wichtiges, autorverbundenes Gedicht missfällt, fühlt sich der Autor mehr oder weniger geschwächt. Zu Recht. Es gibt immer Verbindungen aller Taten. Man kann die Taten nur selten voneinander lösen. Sie gehören zur Identität der Person, zu ihrer Geschichte. -- Das hört sich so wichtig an. Übrigens, was spricht dagegen, die Identität alle paar Wochen zu beenden und neu zu beginnen wie eine Neugeburt, wie ein Wechsel des Avatars oder Nicknamens in einem Forum? Die Liebe zur Identität spricht dagegen. Das Missfallen der Identität spricht dafür. Soll sich jeder entscheiden, wie er will, sofern er kann.
(Das geht noch weiter: Wenn ich die Identität meiner Person ausdehne auf die Geschichte meiner Moleküle vor meiner Geburt, dann beinhaltet diese Identität auch die Hitler-Zeit, und die Dinosaurier-Zeit. Mir missfällt die Hitler-Zeit, daher beginne ich meine Identitätsliebe erst bei meiner Geburt. Manch andere dehnen ihre Identität in jene Zeit hinaus, oder auf ein größeres geografisches Gebiet, weil sie es lieben. Wie weit kann man die Liebe oder das Missfallen manipulieren?)
Die Trennung einer Tat von allen anderen persönlichen Taten ist natürlich einfach, wenn das Resultat
objektiver Natur ist. Bei einer emotionalen, musikalischen Tat hingegen ist es fast unmöglich, wobei hier jedoch die abgelaufene
Zeitspanne helfen kann; sie stellt eine Verjährungsfrist dar, ein Haltbarkeitsdatum: Der
Antisemit Richard Wagner etwa ist seit über hundert Jahren tot; nur noch wenige Juden beschweren sich heutzutage, wenn seine Opern in Tel Aviv aufgeführt werden. Das ginge nicht wenn Wagner heute tätig wäre mit derselben Einstellung. -- Bei einer mathematischen Entdeckertat (ich halte solche eher für Entdeckungen als für Kreationen, auch wenn der Weg zur Entdeckung ein steiniger, kreativer ist; das bezieht sich aber auf den Weg, nicht auf das entdeckte Ziel) fällt die Trennung von anderen persönlichen Taten wiederum völlig leicht, weil das entdeckte mathematische Gesetz objektiv für alles gilt und von jedem hätte entdeckt werden können. Wir alle identifizieren uns mit der Tatsache, dass 2+2 gleich 4 ist. -- Wir identifizieren uns auch in der allgemeinen Tatsache, dass jeder Mensch Fehler macht. Es fällt uns daher ziemlich leicht, ab und zu einem anderen Menschen seinen eingestandenen Fehler zu verzeihen.
Habe ich den Faden verloren?