passierbar

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Klara
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Beitragvon Klara » 17.01.2007, 23:53

wenn wir vorher wüssten
was passiert, täten wir nichts
oder trotzdem das falsche

doch wenn wir die bretter
ins blaue legen,
leben wir fort
Zuletzt geändert von Klara am 11.02.2007, 14:35, insgesamt 1-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.04.2016, 13:01

Sehr wahr finde ich diese Zeilen, Klara, fein geschrieben. Kann dem nur zustimmen.

pjesma, dein Kommentar gibt mir allerdings Rätsel auf. Wie meinst du das konkret? :12:

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2016, 16:24

Irgendwie, ja , Pjesma, so richtig habe ich dich zwar nicht verstanden. Aber bei mir ist dies „ins Blaue“ eben auch sehr zweifelhaft. Die Befürworter haben wahrscheinlich alle die Grundschule übersprungen, denn in der hat man mir beigebracht, dass Schritte in die Zukunft auf Voraussagen sich stützen, und nicht einfach ins Blaue geschehen. Sind vielleicht eher Wahrscheinlichkeiten.

LG Kurt
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.04.2016, 16:42

Kurt hat geschrieben:Die Befürworter haben wahrscheinlich alle die Grundschule übersprungen, denn in der hat man mir beigebracht, dass Schritte in die Zukunft auf Voraussagen sich stützen, und nicht einfach ins Blaue geschehen. Sind vielleicht eher Wahrscheinlichkeiten.

Also in meiner Grundschulzeit wurde nichts über Wahrscheinlichkeitstheorien über Schritte in die Zukunft gelehrt. Da ging es um Lesen, Rechnen, Schreiben, Malen und dergleichen.

Was für Voraussagen sollen das denn sein, auf die sich die Schritte in die Zukunft stützen, Kurt?

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.04.2016, 17:03

Ich verstehe die Kommentare auch nicht so ganz.

Aber es regt zum Mitsprechen an; meine Gedanken dazu:

Das Wort "passiert" in den ersten beiden Zeilen kann nicht irgendeine Zukunft meinen, sondernd explizit eine schlechte, sonst wäre die Aussage unlogisch. "Passieren" tun im Deutschen sowieso eher Unglücke als Glücke. Pass auf, dass nichts passiert. -- Pass auf, dass nichts geschieht; ebenfalls wohl negativ gemeint. Obwohl Wunder geschehen. Passieren aber tun Wunder eher selten. Jedenfalls kann das Wort "passiert" nur negativ gemeint sein, denn wäre es positiv, würden wir sehr wohl etwas tun, um zum Positiven zu gelangen. Also meint der Text: Wir führen unseren Plan nicht aus, weil wir vor dessen Schiefgang Angst haben. Selbst wenn für den Fall, dass der Plan schiefgeht, einen Plan B haben, führen wir den auch nicht aus, weil auch der fehlschlagen kann; nein, fehlschlagen wird. Alles Tun ist falsch. Das teilen mir die ersten drei Zeilen mit.

Alles Tun ist geradezu tödlich, sagt der Text. Fortleben können wir nur, wenn wir keine Pläne machen.

Je nach Perspektive, ist diese Erkenntnis genial, existenzialistisch-konstruktiv ... bis destruktiv, weil er ein In-den-Tag-hineinleben empfiehlt. "Was ist der Mensch, dass er Pläne macht?" (Hofmannsthal).

Letztendlich ist auch der Blick ins Blaue eine Vorfreude.

Wenn es keine Pläne gibt, kann es dann Vorfreuden geben?

Oder gibt es nur Überraschungsfreuden?

Warten auf Überraschungsfreuden?

Ist das nicht auch ein Plan?

Dann ist da noch der Aspekt des Lebens nach dem Tod. Das "Fortleben". Wen wir den Tod blau anmalen, ist er nicht mehr schwarz. Wir bestempeln den Tod mit "Leben". Dann gibt es ihn nicht mehr.
Zuletzt geändert von Pjotr am 11.04.2016, 17:12, insgesamt 1-mal geändert.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2016, 17:11

Liebe Mucki,

wir leben nicht ins Blaue hinein. Darüber gibt es keinen Zweifel.

Lustig wäre mal ein Gedicht, in dem man darlegt, mit welcher Wahrscheinlichkeit man sich in den Tod begibt, wenn man die Autobahn von A nach B befährt, anhand der bestehenden Statistik.

Also ungefähr so:

heute fahre ich nicht ins Blaue
auf dem Streckenabschnitt X
geht es mit 5 % Sicherheit in den Tod

LG Kurt
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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 11.04.2016, 17:12

Wenn wir vorher wüssten, was passiert, hieße das, das die Zukunft vorbestimmt ist. Dann nutzt es eh nichts irgendetwas zu tun.
Vielleicht ist dem tatsächlich so, aber nur die Illusion einer Entscheidungsfreiheit kann uns zum Tun motivieren.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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birke
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Beitragvon birke » 11.04.2016, 17:14

passierbar finde ich hier schön vieldeutig.
für mich in erster linie auf die zweite strophe bezogen: der weg ist frei - wenn wir zum einen keine pläne machen, oder zum anderen könnte das blau ja auch auf den himmel hindeuten - also, den weg zum tod nicht einfach ausblenden und negieren, sondern miteinbeziehen. dass das "passiert" hier eben auch noch eine andere bedeutung hat, auf die die erste strophe anspricht, macht diesen text so besonders.
sehr fein philosophisch und gedanken-anstoßend.

danke carlos, mal wieder, für´s "ausgraben"!

(und pjesma, deinen kommentar verstehe ich auch nicht...?)

lg
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

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ZaunköniG
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Beitragvon ZaunköniG » 11.04.2016, 17:16

@Kurt:

Kann man eine 5%ige Wahrscheinlichkeit schon Sicherheit nennen?
und
Wie errechnet man den Prozentsatz?

Wahrscheinlichkeiten geben wir an, wenn wir nicht alle Einflussgrößen genau bestimmen können. Bei einstelligen Wahrscheinlichkeiten würde ich immer noch sagen, dass ich ins Ungewisse / ins Blau fahre.
Der Anspruch ihn auszudrücken, schärft auch den Eindruck

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.04.2016, 17:26

Eins ist 100% sicher: Der Verlauf der Geschichte ist nicht 100% vorbestimmt.

Es passieren viele Ereignisse ohne Ursachen. Zum Beispiel die Entstehung des Universums, oder dessen Schon-immer-da-sein, hat keine Ursache. Theisten können diese Tatsache auch auf ihren Gott anwenden, anstelle des Universums.

Oder zum Beispiel im Rauschen. Der Großteil des Rauschens -- sei es Wasser, Luft, Radio -- besteht aus vielen winzigen, spontanen, ursachenfreien Veränderungen.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 11.04.2016, 17:34

Klar, Kurt, in der Grundschule (oder auch schon vorher) haben wir dieses Wenn -> Dann beigebracht gekriegt. Irrationale Ängste, märchenhafte Zauberei-Vorstellungen usw. wurden systematisch getilgt, damit wir vernünftig dem Alltag begegnen können. (Wenn wir nicht aufpassten, platschten wir halt in den Weiher und holten uns vielleicht eine Lungenentzündung. Das mussten wir lernen, und soweit wars ja auch in Ordnung).
Aber: Auch wenn sich das Meiste prinzipiell planen lässt, kommt eben doch manchmal etwas dazwischen. Das muss den Plan ja gar nicht zunichte machen, nur modifizieren - und auch das ist doch anders als ursprünglich gedacht.
Gerade fällt mir der Begriff "Familienplanung" ein. Wenn man eine Fehlgeburt erleidet, klingt dieses Wort plötzlich ziemlich fragwürdig.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 11.04.2016, 17:40

Warum fragwürdig? Ein Plan ist nur ein Plan, keine Garantie.

Kurt
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Beitragvon Kurt » 11.04.2016, 17:42

Liebe Amanita,

hier werden ja Bretter ins Blaue gelegt. Und das ist eben falsch. Wenn du Familienplanung betreibst, ist es ja zunächst keine Planung ins Blaue. Wenn dann eine Fehlgeburt geschieht, hast du die Bretter dazu nicht gelegt.

LG Kurt
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Beitragvon birke » 11.04.2016, 18:17

bretter ins blaue zu legen, ist ja im grunde auch ein plan... oder eine art mit dem leben umzugehen. planbar ist ja erstmal alles... nur gibt es eben diesen faktor x (schicksal, zufall, leben???), der auf einmal einen plan zunichte machen kann.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 11.04.2016, 18:26

Bretter ins Blaue zu legen, ist für mich eher eine Lebenseinstellung, mit den Dingen umzugehen. Eben nicht zu planen, sondern arg/sorglos zu leben, sich nicht den Kopf zu zerbrechen über die Zukunft und was alles passieren kann. Man befreit sich dadurch von diesen Blockaden, die "wenn das, dann das-Gedanken".


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