Im KZ

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
moshe.c

Beitragvon moshe.c » 12.09.2007, 20:37

Im KZ

Kein Grund mehr, keine wirklichen Füße
und die Augen und mein Magen
wollen es immer noch nicht glauben

diese Bodenlosigkeit, die mal ein Schwanken ist,
mal ein Hoffen im Vergilben und Zerblättern
in allen Gesichtern hier um mich

diesen Gestank und die Schwaden einer Kultur
sind so verfliegend jeden Moment in jeder
Person, mit oder ohne Uniform bleibt nur noch
eine Nacktheit der Knochen die brechen

zur Erde, zum Braun einer Verwesung allirdisch
in jeder Toilette zu finden gespült erbrochen
aus den Gängen dessen, was Seele ward
und nun zu Tage tritt als Herrenrasse, als Heil.

Ihre Kinder werden diesen Brei fressen mit Honig
und leiden, leiden an ihrer Zeugung drei Finger lang
und ich will jetzt nur noch Gas sein. Verweht
ohne Zeugnis dessen Wesen geben zu müssen.
Zuletzt geändert von moshe.c am 15.09.2007, 18:33, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 16.09.2007, 19:08

Lieber moshe,

ich muss sagen, dass es auch mir hier an Glaubwürdigkeit mangelt - aber es, wie ich meine bei solch großen, intensiven und auch solch konsumierten Themen sowohl für unmittelbar Betroffene als auch nicht unmittelbar Betroffene gleichermaßen (aus verschiedenen Gründen) schwierig, sie literarisch zu bearbeiten - wobei die Erlaubnis oder das Verbot darüber zu schreiben dafür nicht prinzipiell vergeben/erteilt werden kann und sollte überhaupt nicht erteilt/vergeben werden sollte, so auch meine Meinung, Sam hat das sehr fein unterschieden:

Im Grunde ist das Gedicht anmaßend. Was aber nicht unbedingt schlecht ist. Schreiben hat immer etwas mit Anmaßung zu tun. Diese verzeiht man sofort, wenn sie mit Glaubwürdigkeit einhergeht, wenn sie hinter sprachlicher Virtuosität und der perfekt inszenierten Illusion nicht mehr zu erkennen ist.


Ja - denn (siehe meine Signatur ,-)), die Illusion ist bei gelungener Literatur eben keine Illusion mehr zu nennen, sie wird dann zu etwas anderem im Sinne ihrer Wirkung. Die Wirkung eines literarischen Textes ist das, woran gemessen wird.

Die Wirkung, nach der ich hier verlange, vermisse ich allerdings bei diesem Text und in diesem Sinne muss eine Spiegelung durch den Leser erlaubt sein, der Autor sollte sie sogar wollen: Ich werde nicht berührt und weil ich nicht berührt werde mangelt es an Glaubwürdigkeit und/oder umgekehrt: weil der Text nicht glaubwürdig rüberkommt, werde ich nicht berührt. (das ist wie mit dem Huhn und dem Ei).

Das ist in meinen Augen hier kein moralisches Problem, sondern ein rein sprachliches/ästhetisches (wobei das ineinander spielt, siehe Wirkung, aber das ist nicht aufzudröseln): Jedenfalls - die Sprache erreicht mich nicht, für mich schlägt damit die Intention des Textes fehl.


Das liegt vor allem daran, dass mich einige plakative Motive, Bilder und Worte abschrecken:

Da ist als erstes der Titel: Im KZ - hmm..ja, was soll der Leser da noch alleine leisten - der Titel befiehlt: Sei betroffen, sei historisch, sei ernst und schafft schon so einen Widerstand in mir, der zwischen den Text und Empfinden eine Mauer hochzieht. (so wie in der Schule ich es absurd fand, dass für einen Wandertag aus dem nichts heraus (als führe man in den Freizeitpark, als wäre es eine gleichwertige Alternative) beschlossen wurde, wir fahren nach Bergen-Belsen und fühlen uns betroffen - es war keine eigene, natürliche Hinbewegung für den Einzelnen vorgesehen und es gab keine Vorberietung/Bereitung des Raumes für solch eine Empfindung, so kam es auch kaum zu einer Berührung - trotz aller tatsächlichen Grausamkeiten. Der Titel züchtet Widerwillen. Natürlich kann genau das auch stilistischer Wille sein, sogar ein sinnvoller - die starke, direkte Benennung ohne Zusatz, in der Wirkung: ein direkter Blick in das Gesicht des Gegenübers, "sagen wie es ist", aber auch in der Tendenz unversöhnlich/trotzig (was sich ja lohnt als Perspektive einzunehmen, wenn es um eine Schau geht), aber dann verlange ich auf eine Ausführung dieses Satzes, ein solcher Titel muss vom text aufgefangen werden - den Leser hineinwerfen und mit seiner eingenommenen Haltung spielen - davon geschieht in meinen Augen hier nichts.

Aber auch viele Bilder empfinde ich als plakativ oder zu standardmäßig/erstassoziiert - unterstrichen:

Im KZ

Kein Grund mehr, keine wirklichen Füße
und die Augen und mein Magen
wollen es immer noch nicht glauben

diese Bodenlosigkeit, die mal ein Schwanken ist,
mal ein Hoffen im Vergilben und Zerblättern
in allen Gesichtern hier um mich

diesen Gestank und die Schwaden einer Kultur
sind so verfliegend jeden Moment in jeder
Person, mit oder ohne Uniform bleibt nur noch
eine Nacktheit der Knochen die brechen

zur Erde, zum Braun einer Verwesung allirdisch
in jeder Toilette zu finden gespült erbrochen
aus den Gängen dessen, was Seele ward
und nun zu Tage tritt als Herrenrasse, als Heil.

Ihre Kinder werden diesen Brei fressen mit Honig
und leiden, leiden an ihrer Zeugung drei Finger lang
und ich will jetzt nur noch Gas sein. Verweht
ohne Zeugnis dessen Wesen geben zu müssen.


Das meine ich nicht so, wie es klingt. Ich kann mir gut vorstellen, dass bei sehr tiefer Auseinandersetzung mit diesem Thema man am Ende wieder bei genau bei diesen Bildern ankommt: Hunger, Knochen, Gas, dass es nichts weiter zu sagen gibt als eben dieses - keine andere Sprache zu finden ist etc., aber ich finde nicht, dass die Bilder in diesem Text so wirken, als sei diesbezüglich genau hingeschaut worden, als sei ein Prozess durchlaufen worden, sondern als seien die ersten Assoziationen als lyrische Bausteine für die Gestaltung herangezogen worden - es fehlt nach meinem Gefühl die Aneignung der Bilder, erst dann könnte der Text für mich wirken. Das kann aus verschiedenen Gründen geschehen - aus eigener Überwältigung, aus bewussten Gründen, um breites Publikum zu erreichen oder weil man nicht merkt, dass der eigene Fokus eigentlich zu weit entfernt ist, um authentisch zu wirken (keiner dieser Punkte muss auf dich zutreffen, das sind nur die ersten Gründe, die mir einfallen).(ähnliches habe ich hier im Forum schon öfter kritisiert, wenn Texte zu Personen der Öffentlichkeit geschrieben wurden, auch dort ist die Bilderwahl häufig mir zu weit weg von wirklicher Treffsicherheit dessen, was getroffen werden soll, weiß du, was ich meine? (ich meine nicht, dass man kein Gedicht über Grönemeyer schreiben kann, nur sollte einem klar sein, was man unter dem, was man grönemeyer nennt, versteht (Öffentlichkeitsphänomen Grönemeyer, Privatperson Grönemeyer etc., man darf nicht (durch falsches Vermischen) etwas anderes wollen, als man tut). Nicht falsch verstehen, man kann die Bilder Hunger und Knochen etc. alle sicher verwenden, nur in diesem Text wirken sie eben nicht authentisch und nicht nah, sie erzeugen für mich nur eine Scheinnähe (das anders zu schaffen ist natürlich auch sehr sehr schwer, das will ich gar nicht infragestellen..trotzdem...) und diese Scheinnähe lehne ich ab - letztlich sogar moralisch (als Gefühl).

Ich werde dadurch zu direkt gefüttert (würde gerne mehr selber essen) und eigentlich auch nur mit einem Bild von einem Brot (Literatur bietet einem ja immer nur Bilder von Broten, aber sie kann es trotzdem schaffen den Hunger zu stillen - nur wenn sie das nicht schafft, zerfällt diese Wirklichkeit.

Ich finde in manchen Texten oder Textpassagen ist dir die Gratwanderung durchaus gelungen - da gibt es poetische Momente, die durchaus berühren (hier am ehesten noch die erste Strophe), aber insgesamt betrachte ich diesen Text als gescheitert (Texte solcher Art haben es aber auch schwer, weil sie sehr präzise scheitern oder nicht, da gibt es kaum ein Dazwischen).

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 20.09.2007, 20:31

Hallo!

Ich bedanke mich für die Betrachtung und Diskussion meines Textes bei allen, die da dazu geschrieben haben.

Einige Anmerkungen noch:

Lieber Pjotr:

Neulich erhielt ich zu deiner Frage bezüglich der drei Finger folgendes, das ich selbst nicht besser hätte schreiben können:


'leiden an ihrer zeugung drei finger lang ist mir eine metapher für leiden bis ins letzte glied: auch der letzte in der ahnenreihe trägt alle diese leiden. obwohl nicht ganz genau klar wird, wessen kinder da so verflucht sind, wird mir klar, daß es sowohl die kinder der täter als auch die der opfer sind, die das tragen müssen. die identifikation schließlich als die innerste liebe, die mit den opfern gehen will, ein in seiner kraft und gewalttätigkeit fast schon magischer schrei aus schmerz. und die unmöglichkeit zu diesem liebesdienst. und die verurteilung stattdessen zur zeugenschaft, die ein bleiben erzwingt. '

Liebe Sethe!

Dir danke ich besonders für dieses Zitat von Adorno!

Andere sahen es auch so und haben in diesem Sinne geschreiben.


Liebe Klara!

Deine Überlegungen gefallen mir sehr gut. Die habe ich in mich gepflanzt. Mal sehen was wird.
Eine Sonnenblume oder etwas Ähnliches wird wohl nicht erscheinen.


Liebe Lisa!

Es ist interessant deinen persönlichen Zugang zu diesem Thema zu lesen und deine subjektive Haltung dazu.

Ganz wirkungslos ist mein Text wohl nicht.

Ich schreibe nunmal aus einer genuinen Perspektive, die ich mir selbst nun auch nicht ausgesucht habe, und die dann in ihrer Art nicht als eine allgemeine Sicht gesehen werden will, und somit einen Platz behaupten soll, den sie nicht hat.

Es ist also meine Sicht, die ich hier subjektiv vertrete, und keine andere. Wie jeder Literat, kann ich auch nur mich vertreten, so wie du in deiner Kritik dich auch nur als deiner Meinung folgend äussern kannst.

Ich erhebe den Anspruch ganz subjektiv zu schreiben.
Selbst Authobiographien werden darüber nicht hinaus können, und wissenschaftliche Werke auch nicht.

Insofern danke ich dir sehr, daß du deine Gedanken und Gefühle zu diesem Thema geäussert hast. Es ist eine sehr ausführliche und fundierte Antwort.

Mit bestem Gruß

Moshe


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