Ich halte mich neuerdings

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Klara
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Beitragvon Klara » 19.10.2007, 12:25

Ich halte mich neuerdings
lieber bedeckt
und träume
von fliegenden Federn

Zerstochene Kissen, ein Laken
legt sich über Augen und Mund
und ich höre andere Sprachen
und freunde mich an
mit der Fremde

Als Kind war ich nicht so
naiv, da traute ich niemandem
über den Weg –
Jetzt bin ich bekleidet. Jetzt mag ich mein Land.
Jetzt lieb ich die Welt nicht nur trotzdem.
Jetzt lob ich die Kraft in den Armen von Männern.
Jetzt hab ich mein Leben zum Pfand.

Als Kind war die Angst groß
das Haus zu verlassen (aus nahe liegenden Gründen) –
Jetzt geh ich und bleibe

denn keiner kennt, niemals, mein Lied.
Zuletzt geändert von Klara am 20.10.2007, 21:27, insgesamt 2-mal geändert.

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 21.10.2007, 18:27

Hallo Klara,

"Ich" halte mich bedeckt (neuerdings: also: jetzt!), bin JETZT bekleidet, bin jetzt kein Kind mehr, nicht mehr ausgeliefert, weil niemand "mein" Lied kennt, niemand meine Geschichte weiß, meine Motive entschlüsselt, niemand auch seine dusslige Moral auf "mich" anwenden kann, weil er ja gar nicht weiß, welches meine Motive sind oder worin meine ganz persönliche Anständigkeit besteht, und weil dieses Sich-Kennen (auch: das grundsätzliche Alleinsein) der Preis ist, den in letzter Instanz jeder zahlen muss.
Das mit dem Laken: "Ich" muss nicht alles wissen und alles sagen. "Ich" bin keine Rechenschaft schuldig, muss nicht mal Gründe angeben. Und die fliegenden Federn... aus dem zerstochenen Kissen... wirbeln wie Schnee, befreit - oder sind es Schreibfedern?

Auch wenn ich diesen Aussagen selbst auch nicht folgen kann, wo finde ich das alles denn im Gedicht?
Da steht doch gar nichts von Moral, ausgeliefert sein, Rechenschaft...über was und gegenüber wem denn?

Sehe ich das richtig, dass du den Schlußsatz positiv liest? Es ist gut, wenn man von niemandem verstanden wird, weil man dann nicht mehr angreifbar ist???

verwunderte Grüße smile

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annette
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Beitragvon annette » 21.10.2007, 18:56

Hallo Klara,

mir gefällt der Ton, sehr nüchtern, abgeklärt, aber nicht verbittert, sondern eher im Gegenteil sehr kraftvoll. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Text nicht auch Ironie beinhaltet (davon weiter unten).

Besonders gefällt mir die Umkehrung des üblichen Bildes von einem Menschen, der als Kind naiv ist und mit der Erfahrung seine Unvoreingenommenheit verliert. Hier scheint es umgekehrt zu sein: Das Ich war als Kind misstrauisch, wird mit der Zeit naiv. Dazu passen die Aussagen
Jetzt mag ich mein Land.
Jetzt lieb ich die Welt nicht nur trotzdem.
Jetzt lob ich die Kraft in den Armen von Männern.


Für mich klingt das so, als hätte das Ich seine prinzipiell kritische Haltung und seine Vorbehalte gegen bestimmte klischeeverdächtige Dinge verloren. Die Vorbehalte haben vermutlich zu seinem Schutz gedient – den das Ich nun – bedeckt und bekleidet – nicht mehr benötigt.

Aber mir scheint der Text auch widersprüchlich. Auf der einen Seite ist das Ich nun offener: weniger misstrauisch, mutig (Jetzt geh ich und bleibe) und aufgeschlossen (und ich höre andere Sprachen und freunde mich an mit der Fremde).
Dazu passen für mich die ersten Zeilen des Jetzt-Ich nicht: Bedeckt hält man sich eher aus Misstrauen und Angst – die beide eigentlich dem Kind-Ich zugeordnet werden. Und wenn sich ein Laken über Mund und Augen legt, wird der Kontakt zur Außenwelt eher schwierig.

Ich hab auch überlegt, ob der Text ironisch gemeint sein kann, und ob dem Ich vielleicht vorgeworfen wird, dass es mit den Jahren seine kritische Grundhaltung verloren hat. Dann lese ich „bekleidet“ als „verkleidet“ und die drei Zeilen „Jetzt mag ich ... Jetzt lieb ich ... Jetzt lob ich ... “ als bequemen Quietismus, als Einstimmen in den Chor der leichtgläubigen Masse. Gerade diese Stelle hat schon was Hymnisches, das wiederum mein Misstrauen weckt. ;)

Ich denke, man kann beides aus dem Text lesen. So oder so – mir gefällt er.

Gruß - annette

Klara
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Beitragvon Klara » 21.10.2007, 21:36

Hallo,

es ist erstaunlich, wie verschieden ein Text gelesen wird. Manchmal will man etwas lesen, das da nicht steht und ärgert sich dann (ich kenne das selbst). Umso erstaunlicher ist es für mich bei diesem Text, der für mich so sehr - momentan - stimmig ist (sprachlich, inhaltlich, situativ, emotional, rational etc.), dass ich gar nicht verstehe, wie man das nicht so lesen kann. Ich bin egozentrisch, das Gedicht ist es auch.

Annette, Ironie habe ich nicht reingepackt (nicht mehr als üblich, ganz ohne geht es wohl nicht bei mir). Ein Quietismus war nicht intendiert, eher eine echte Ruhe, eine gefühlte, tiefe, wohltuende Liebe zu allem ausdrücklich lobend Hervogehobenen. (Land etc.)

Smile, ich schreibe da nichts "positiv" oder "negativ" oder so, dass jemand das genauso sehen soll. Es ist nicht psychologisch gemeint (also: Man muss ja heutzutage alles AUFARBEITEN, nciht wahr, und wer das nicht tut, gerät in den Verdacht zumindest des Seichten/Oberflächlichen, wenn nicht des Unfertigen, Faulen, auf jeden Fall Nichternstzunehmenden - all das interessiert das Gedicht aber nicht), aber - ja: Der Schlusssatz ist jedenfalls nicht "negativ" gemeint, sondern mit einer Ruhe gesagt, die die Aufregung darüber in dem Moment nicht nötig hat (sozusagen).

Gerda, ich fürchte, du unterstellst mir oder dem Gedicht Dinge, die ich/es nicht sagen will. Deshalb werde ich/das Gedicht wird dich niemals befriedigen, tut mir Leid.

Dank euch fürs Lesen
Lieber Gruß
Klara

Gast

Beitragvon Gast » 21.10.2007, 22:33

Liebe Klara,

warum meinst du, dass ich darauf abzielen könnte, dass dein Gedicht mich zufrieden stellen solle? Hm, das finde ich irgendwie bedrückend für mich.
Darum geht es doch nicht. :confused:
(Auf eine solche Formulierung, reagiere ich derzeit allergisch, was zugegben ausschließlich mit der Wortwahl und nichts mit dir zu tun hat. da wird etwas unterstellt, worum es mir nicht geht. Ich lese fremde Texte nicht, weil ich meine sie müssten so sein, oder so arrangiert werden, dass sie mich zufrieden stellen)
Wenn du mal nachliest, so habe ich doch auf seite eins geschrieben, dass ich den Text nach einem erstem Lesen spontan toll finde.
Nun habe ich genauer gelesen und finde manches nicht wirklich schlüssig und stimmig.
Schade zwar, dass du zu den konkret benannten Dingen nichts sagen magst, aber es ist in Ordnung. :smile:

Liebe Abendgrüße
Gerda

Klara
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Beitragvon Klara » 21.10.2007, 23:01

Hallo Gerda,

bedrücken wollte ich dich nicht!

Auf Konkretes einzugehen, fällt mir schwer, weil ich den Eindruck habe, du missverstehst das Gedicht.

Intendierst du, dass Lyrich sich aus konkreten Dingen heraushält?
No way!
Man kann sich nämlich nicht grundsätzlich bedeckt halten, als Lebenseinstellung ist das eher untauglich und führt über kurz oder lang dazu, dass man sich im Vagen verliert und letztlich verloren ist.

Es geht nicht um eine Lebenseinstellung oder Lebenshilfe oder so etwas, sondern darum, dass "Ich" sich "neuerdings" bedeckt hält. (Außerdem hält es sich!)

Du möchtest eher einen "Fortschritt" beschreiben, wenn ich es richtig lese.

Nein, eher ein Gehen UND Bleiben (steht ja da). Kein Fortschreiten von hier nach da. Eher ein Akzeptieren von Unabänderlichkeiten (und Freude an Bestimmtem).
Lyrich soll sich in gewisser Weise befreien von dem Zwang sich äußern zu müssen, sondern auf die innere Stimme hören.

Nein! Keine innere Stimme! Bitte keine innere Stimme! Auch kein "Zwang"!
Abgesehen davon, dass ich nach wie vor glaube zwei Gedichte zu einem Thema zu lesen.
Für mich ist der erste Teil bis "Fremde" verzichtb
r ...

Ist mir unbegreiflich :blink2:
Aber eindeutig ist die Trennung nicht möglich, weil in beiden Teilen ein wenig von "allem" (Der Gedichtidee) steckt. ... ich denke fast hier müsste die innere Konsistenz dessen, was du intendierst besser gestützt werden.

Aber du sagst es doch selbst: Die Trennung ist nicht möglich. Viel mehr ist da gar nicht zu verstehen: Es gibt keine Trennung zwischen früher und heute. Aber es gibt heute und es gibt früher und es gibt die Möglichkeit, sich bedeckt zu halten, wenn es nötig ist. Wenn es sich gut anfühlt. Es ist kein Allgemeingültigkeit behauptender Lebenshilfe-Text! Da ist ja ein "Ich", das spricht, das sehr persönlich spricht, und nicht ein "man". Wenn niemand (zu)hört - für dieses Gedicht ist es okay ,-)

Lieber Gruß
Klara

Gast

Beitragvon Gast » 22.10.2007, 17:03

Liebe Klara,

vielen Dank für die Mühe, die du dir gemacht hast.
ich dachte, dass du erkennen könntest dass meine Zweifel (an der inneren logik), schon beim "sich bedeckt halten" auftreten.

Nun gut, vielleicht verstehe ich wirklich nichts oder alles falsch und fand beim ersten Lesen den Gesamteindruck gut. (ohne Ironie)
Jetzt hält es meiner Erwartungshaltung nicht stand, was aber nicht dein Fehler ist, oder gar eine Aufforderung etwas zu ändern. ;-)

Um Lebenshilfe gings mir nicht.
Klara hat geschrieben:Da ist ja ein "Ich", das spricht, das sehr persönlich spricht, und nicht ein "man".


Möglich, ja so wirst du es meinen: Entweder ich lese es auf der Ebene des Lyrich, lasse mich darauf ein, oder ich verstehe nichts.

Gehen und bleiben kann doch auch "Fortschritt" im geistigen Sinn bedeuten.

Okay, kein Zwang keine innere Stimme, das habe ich verquer interpretiert.

danke noch mal :smile:
Liebe Grüße
Gerda


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