Anna und ich

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 04.07.2009, 14:07

Anna und ich

Ist es denn Annas Schuld dass nichts so ist
wie es sein könnte?
Keine anliegenden Ohren
keine elfenbeinfarbene Haut
nur Mann und Kind
und ein Ballon der platzt
obwohl ihn niemand in die Luft geworfen hat
Als dürfte man nur Menschen lieben
die nach Kleingeld riechen

Mamatschi schenk mir ein Pferdchen
mit dem ich durch die Felder sprengen kann
Alraunen und Akazien
Zartbitterschokolade
für den Schlaf der Vögel
scharf wie gebrochene Versprechen

Die Bettler verkaufen Knoten
auf denen man Akkordeon spielen kann
zum Gelächter im Dorf
weil der silberne Löffel endlich laufen lernt

Wie schön sich Annas feine Stimme
in den Teppich webt
als wäre Schönheit eine Entschuldigung
als gäbe Liebe einem das Recht
auf mehr
auf mehr als schiefertafelig angekreidete Unschuldsbrüche
und Stolz wäre mehr als ein Fleck
auf der Landkarte eines nicht ganz so reinen Gewissens
wie weiße Bettwäsche
mit hässlichen Rändern
und Pantoffeln
die verloren in der Ecke stehen
und vergebens versuchen die Vorwürfe zu überhören

Als ich Anna traf
war ihr die Saumseligkeit längst aus den Augen gefallen
Sie war zwei Männern begegnet
Einer versuchte sich für sie umzubringen
Der andere ihr zu vergeben

Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch
er vertrocknet als Anna zum Bahnhof geht
und jemand sagt
man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
wer sagt das denn
und was fangen wir an
mit so einem Satz
Anna und ich

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 27.02.2010, 11:27

gestern habe ich diesen wunderbaren kommentar entdeckt, der mich eine weile lang sprachlos gemacht hat. es ist ja so, dass man immer wieder an punkte kommt, an denen man denkt, herrje, was soll das ganze, es gibt so viel gute literatur, gute lyrik, eigentlich sollte man aufhören nach den sternen zu greifen, und nur noch für sich selbst schreiben und dann (aber das passiert eben nicht immer wieder) liest man so einen kommentar, aus dem man herausliest, da ist etwas angekommen beim leser, vielleicht mehr als ich selbst bewusst hereinlegen konnte und dann kann man nur danke sagen und dass man sich mehr gefreut hat, als man einfach so ausdrücken kann.

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 28.02.2010, 08:44

Xanthippe hat geschrieben:...und dann kann man nur danke sagen und dass man sich mehr gefreut hat, als man einfach so ausdrücken kann.


ich als leser habe zu danken.
und es waren mir eine freude und ein anliegen, Xanthippe. :smile:


herzlicher gruß,


keinsilbig

Niko

Beitragvon Niko » 28.02.2010, 13:21

hallo xanthippe!
es ist ja schwer, nach sovielen zt. wirklich gehaltvollen kommentaren noch etwas zu einem noch gehaltvolleren gedicht zu schreiben, was nicht schon beleuchtet wurde durch den ein oder anderen kommentator.
was mich fasziniert an deinem gedicht ist diese prosa-form, die ich dennoch niemals der prosa zuordnen würde. wohl ob der immensen dichte, die es für mich hat. und auch, weil es mir als leser unendlich viel freiräume lässt, was ich darin für mich finden kann. das alleine schon ist etwas, was dieses gedicht im besonderen auszeichnet.
man kann im titel "anna und ich" eine menge lesen, wenn man dem titel den text zugrunde legt. das lyrich und eine weitere person oder das lyrich mit einem vielleicht abgespaltenen teil seiner selbst.
ich kann es gar nicht wirklich begründen und der text sagt (natürlich!) nichts konkret in diese richtung. aber mir kommt beim lesen, beim wiederholten lesen immer wieder anna bachmeier in den sinn. es ist, so glaube ich durchgängig von der mutter bachmeier die rede. ein kind lebt immer in einem weiter. und die namensnähe von marianne (maria anna) und anna ist geradezu eine steilvorlage, das zu verdeutlichen. und manchmal vermischt sich für mich anna und marianne. ich versuche, meine vermutung, meinen "verdacht", wenn man so will, anhand des textes für mich schlüssig zu machen:

Anna und ich

Ist es denn Annas Schuld dass nichts so ist
wie es sein könnte?
Keine anliegenden Ohren
keine elfenbeinfarbene Haut
nur Mann und Kind
und ein Ballon der platzt
obwohl ihn niemand in die Luft geworfen hat
Als dürfte man nur Menschen lieben
die nach Kleingeld riechen


diese strofe ist die marianne. ein leben in finanziell nicht besonders guten verhältnissen (aufgewachsen und) lebend.
der platzende ballon ist für mich das scheitern der beziehung mit dem vater der anna-tochter oder aber auch der tod der tochter, das das weitere leben zerstört. etwas, was sich wiederholte, weil auch sie kind einer geschiedenen ehe war. sie, marianne bachmeier fragt sich, wie ein kind und auch, wie sie denn nur schuld haben könnte. denn auch marianne bachmeier wurde in ihrer jugend sexuell missbraucht. so wie es wohl bei ihrer tochter war, auch wenn es gerichtlich nie bewiesen werden konnte. - wie kann man schuld sein, das nichts so ist, wie es sein könnte. - dass die welt frei von solchen verbrechen ist, dass unschuldige kinder sterben müssen, weil krankhafte triebtäter ihr unwesen treiben können wo doch "keine anliegenden ohren, keine elfenbeifarbene haut" vermeindlich keinen äußeren anreiz böten.

Mamatschi schenk mir ein Pferdchen
mit dem ich durch die Felder sprengen kann
Alraunen und Akazien
Zartbitterschokolade
für den Schlaf der Vögel
scharf wie gebrochene Versprechen


zartbitterschokolade war auch hier für mich ein festigendes indiz zu anna bachmeier. zartbitter ist ein begriff, der - neben schockolade - ein bekannter begriff bei missbrauchsopfern ist. auch als kontaktstelle für jugendliche, die sexuell missbraucht wurden. auch "scharf wie gebrochene versprechen" passt für mich gut in den kontext. du schreibst "durch die felder sprengen", nicht "durch die felder springen". sprengen ist eher ein davonstieben, ein flüchten. vielleicht eine kindliche vorstellung davon, wie man diesem ganzen elend (was immer man damit bezeichet sehen möchte: jugend der mutter, lebenssituation der mutter, die umstände des todes der tochter...) entfliehen möchte, entflohen wäre. alraunen und akazien, den schlaf der vögel bringe ich nicht so unter. zumindest die alraunen und akazien. bei den schlafenden vögeln dann doch wenigstens vage. aber wiederum so vage, dass ich dazu nicht einmal was schreiben kann.

Die Bettler verkaufen Knoten
auf denen man Akkordeon spielen kann
zum Gelächter im Dorf
weil der silberne Löffel endlich laufen lernt


hier wird es für mich dann richtig knotig. es scheint nicht ins gedicht zu passen, es fällt aus dem rahmen. weil diese strofe nicht von anna handelt, sondern von der gesellschaft, vom mob.
die bettler, die knoten verkaufen, auf denen man akkordeon spielen kann, mag bedeuten, dass bestimmte menschen, medien etc, die hier subjektiv als arm bezeichnet werden, als armselig und welche, die nur existieren können, wenn sie durch andere genährt werden, gerüchte, halbwahrheiten, vermutungen "knoten" in die welt setzen, auf denen sich, wenn man sie hin und herzieht wie ein akkordeon, sich die abstrusesten melodien spielen lassen.



Wie schön sich Annas feine Stimme
in den Teppich webt
als wäre Schönheit eine Entschuldigung
als gäbe Liebe einem das Recht
auf mehr
auf mehr als schiefertafelig angekreidete Unschuldsbrüche
und Stolz wäre mehr als ein Fleck
auf der Landkarte eines nicht ganz so reinen Gewissens
wie weiße Bettwäsche
mit hässlichen Rändern
und Pantoffeln
die verloren in der Ecke stehen
und vergebens versuchen die Vorwürfe zu überhören


die ersten zeilen dieser strofe passen mir wieder wunderbar ins bild: die stimme des kindes vergisst man nie, sie ist wie ein (positiver!) tinnitus im ohr und daraus webt sich der teppich. teppich ist etwas angenehm weiches, etwas, was den harten boden (der realität) ertragbarer macht. ein tolles bild, wie ich finde! der entschlüsselnde satz für dieses gedicht für mich: "als gäbe liebe einem das recht auf mehr" auch das nicht so ganz reine gewissen passt, denn marianne bachmeier warf sich vor (andere taten das sowieso) sich nicht ausreichend genug um die kleine gekümmert zu haben. pantoffeln, die verloren in der ecke stehen....ein ersehntes bürgerliches familienleben, dass sich nie erfüllt hat. mit der kleinen anna nicht. und danach nie mehr. sowieso. auch dieses bild finde ich sehr stark, xanthi. vor allem mit dem anschließenden "und vergebens versuchen, die vorwürüberhören"

Als ich Anna traf
war ihr die Saumseligkeit längst aus den Augen gefallen
Sie war zwei Männern begegnet
Einer versuchte sich für sie umzubringen
Der andere ihr zu vergeben


soweit bin ich nicht in die bachmeiersche biographie vorgedrungen um die beiden männer zu identifizieren.

Der Zweifel wächst wie ein Holunderbusch
er vertrocknet als Anna zum Bahnhof geht
und jemand sagt
man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
wer sagt das denn
und was fangen wir an
mit so einem Satz
Anna und ich

mit dem aufbruch nach lagos und später palermo, wo sie an bauchspeicheldrüsenkrebs stirbt, vertrocknen die stark gewachsenen zweifel. das hadern an sich selbst, an dem leben insgesamt. sie sieht wieder neue perspektiven für sich. fast salomonisch und ironisch das ende:

man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
wer sagt das denn
und was fangen wir an
mit so einem Satz
Anna und ich


wer weiß es besser als anna -marianne bachmeier, das man jemanden anderes braucht, um sich selbst zu erkennen. die frage "was fangen wir an mit so einem satz" klingt wie ironie. und im "wir" die solidarität des lyrichs mit maria anna.
es ist, so glaube ich durchgängig von der mutter bachmeier die rede. ein kind lebt immer in einem weiter. und die namensnähe von marianne und anna ist geradezu eine steilvorlage, das zu verdeutlichen.

vielleicht bin ich völlig falsch mit meinem deutungsversuch, aber in den weitesten teilen des gedichtes sehe ich mich deutlich bestätigt. - was aber immer noch nichts damit zu tun hat, dass es womöglich von dir, xanthi, so intendiert war.

lieben gruß: Niko

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 02.03.2010, 14:53

hallo niko,

endlich komme ich dazu mich für diesen ausführlichen, interessanten kommentar zu bedanken und darauf einzugehen.
zunächst mal finde ich, dass jeder kommentar wertvoll ist, auch wenn er scheinbar nichts neues beiträgt, dann zeigt er mir als diejenige, die den kommentar erhält, aber doch, dass etwas bestimmtes bei mehreren lesern so ankommt und das ist ja alles andere als uninteressant. aber ich kann das schon nachvollziehen, ich selbst kommentiere häufig nicht, weil ich denke, ja doch nichts originelles beitragen zu können.
aber dein ansatz ist dann ja doch sehr originell geraten. ich habe eben noch ein wenig nachgelesen, denn diese bachmeier geschichte, war mir schon noch ein begriff, aber eben keiner, den ich tatsächlich beim verfassen dieses gedichtes im kopf gehabt hätte. und das ist schon sehr spannend, dass hier ein gedicht auf so vielen unterschiedlichen ebenen gelesen werden kann. ich weiß jetzt gar nicht, wie ich es ausdrücken kann, ohne mich selbst zu loben (und das ist nicht, was ich sagen will), aber ein ganz wesentliches qualitätskriterium für literatur und besonders für lyrik ist für mich eine bestimmte offenheit, also keine vagheit, sondern eine richtung, eine geschichte, eine aussage, bilder, die aber doch offen genug sind, dass sie auf viele verschiedene weisen gelesen und verstanden werden können, d.h. ja etwas seltsam ausgedrückt, dass der leser so auch zum autor wird und das ist jetzt nicht ganz von mir, aber leider weiß ich nicht mehr, wer diesen klugen gedanken vor mir hatte, aber jedenfalls ist es das, was ich sehr mag beim lesen und ich glaube, etwas schöneres kann man mir kaum sagen, als dass mir das auch einmal gelungen ist.

Und was du vom mob schreibst, von dieser strophe, die für dich aus dem rahmen fällt, das finde ich auch sehr interessant und werde darüber nachdenken.

Einen sehr herzlichen Dank an Dich für diese ausführliche Beschäftigung mit meinem Gedicht.

Xanthi


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