Bezugnehmend auf Deinen Brief

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 05.10.2010, 08:43

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Zuletzt geändert von Xanthippe am 14.10.2010, 09:53, insgesamt 1-mal geändert.

jondoy
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Beitragvon jondoy » 16.10.2010, 15:10

Die Wortkomposition, die wir hier vor uns sehen, zeigt uns einen `Antwortbrief`, in dem eine Unbekannte dem Brief eines Gegenübers, dessen Inhalt in der zweiten Zeile knapp, zusammengefasst mit einem `Schlagwort`, beschrieben wird, kurz, prägnant verdichtet mit einer spielerischen Entgegnung antwortet. Die erste Aussage, die darin getroffen wird, ist im Umkehrschluss zu lesen: Unsere Blauäugigkeit besteht und besteht weiterhin. Dann folgt eine kurze Beschreibung des inneren Seelenzustandes der Unbekannten, in der sie bildhaft ausdrückt, wie sie sich fühlt. Danach gibt sie einen Satz des an sie gerichteten Schreibens wörtlich wieder. Was sie daraufhin in einem seltsam anmutenden Satz ihrem Gegenüber antwortet, nimmt folgerichtig wiederum Bezug auf das Bildnis, mit welchem die Schreiberin zuvor ihren inneren Seelenzustand beschrieben hat. Den Satz zu dechiffrieren fällt nicht ganz einfach. Sie beschreibt damit mit ihren eigenen Worten, was ihr Gegenüber zuvor mit seinen eigenen Worten ausgedrückt hat. Dann folgt wiederum eine kurze Zusammenfassung eines weiteren Abschnitts über den Inhalt des Briefes ihres Gegenübers. Dem widerspricht sie heftig. Sie schreibt übersetzt, sie hält nichts von Bekenntnissen. Und im letzten Abschnitt versucht sie, dass ihm zu erklären. Sie sagt: "....Niemand (am wenigsten ich) hat jemals versucht, mich zu sehen. Damit begründet sie, warum sie Unmengen Scherben auf dem Papier hinterlässt. Weil sie (leidenschaftlich) mit Sprache spielt ("tanzt"), nicht um damit etwas zu verstehen.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 16.10.2010, 16:19

Lieber Jondoy, jetzt bin ich aber gespannt, was Xanthippe antworten wird, denn ich glaube genau das Gegemteil verstanden zu haben (und das ist nicht schlimm, eher amüsant:)

Xanthippe schreibt:
Xanthippe hat geschrieben:[hidden]Bezugnehmend auf Deinen Brief
in dem alles steht was du mir niemals sagen wolltest
gebe ich dieses Missverhältnis zu
das besteht und weiterbestehen bleibt
im Gegensatz zu unserer Blauäugigkeit


du schreibst:
Die erste Aussage, die darin getroffen wird, ist im Umkehrschluss zu lesen: Unsere Blauäugigkeit besteht und besteht weiterhin

wie du auf den Umkehrschluss kommst ... würde mich interessieren, ich finde im Gegenteil die Aussage, dass das Missverhältnis bestehen bleibt, einerseits, dass sichalso daran nichts ändert, und im Gegenteil die Blauäugigkeit sich ändert: Erfahrung hat doch stattgefunden ...

abgesehen davon, jondoy, hut ab vor einer schlüssig durchgeführten analyse

lG
Renée

jondoy
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Beitragvon jondoy » 18.10.2010, 13:13

Bonjour Renée,

es war halt meine Interpretation (wollte bereits (augenzwinkernd) beim Schreiben ironisch davorschreiben: "Eine Betriebsanleitung:"; sollte keine annaliese von mir sein. von den diskussionen wollt ich mich raushalten.

hey, ich denk, du könntest recht mit deinem Einwand haben :smile:, hört sich logisch an.
davon abgesehen :- ), meine Phantasie (Interpretation) darüber (diese aussage hab ich von Anfang an so gelesen!) macht in meinen augen den text (für mich)...weiter, offener,

...von xanthippe wollte ich keine antwort dazu haben; sie hat (wenn ich mich richtig erinnere) geschrieben, dass sie diesen text nicht erklären möchte, diese haltung find ich völlig in ordnung und selbstverständlich zu respektieren. ___ diesen text möchte ich ja nicht mal selbst erklärt haben - gerade diese offenheit hat mich ja (in dem moment, als ich ihn zuerst gelesen hab, ganz unbefangen und in meiner eigenen Vorstellungswelt) - so in seinen bann gezogen.

Namaste, Stefan

carl
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Beitragvon carl » 22.10.2010, 22:01

Liebe Xanthippe,

ich gehe jetzt mal von der Fiktion aus, ich hätte einen Gedichtband von dir vorliegen und wollte eine Rezension dazu schreiben.
Warum das?
Weil ich die Gedichte, die ich von dir kenne, inzwischen nicht mehr als einzelne lese, sondern im Zusammenhang.
Dabei erhellen sich die wiederkehrenden Bilder und Motive gegenseitig.
Und wenn ich ein wiederkehrendes Motiv finde, schreibe ich es dir zu als das Thema, das dich beschäftigt. Ich rede dann von der „Autorin “ statt dem LyrIch, für das es normalerweise keine 1 zu 1 Beziehung gibt, weil du sie sorgfältig verwischt hast.
Ich weiß, du wirst es nicht mögen, aber ich hoffe, am Ende bist du einverstanden...

Ich lese das Gedicht "Bezugnehmend auf deinen Brief" von der letzten Strophe her:

Niemand (am wenigsten ich)
hat jemals versucht mich zu sehen


Gesehen werden ist nicht dasselbe wie verstanden werden. Da wird man nur zum Objekt des Verstehenden.
Angesehen werden als das wahre Wesen, das man auf unsichtbare Weise ist, das ist für ein Kind eine essentielle Erfahrung.
Ohne diese Erfahrung versteht ein Mensch sich selbst nicht:

man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen
(aber) wer sagt das denn
und was fangen wir an
mit so einem Satz

Anna und ich?

Nehme ich das Gesehenwerden als Basis einer echten Beziehung und die Welt der Sprache als eine Scheinwirklichkeit, die wahre Gefühle instrumentalisiert, dann wird ein Thema der Autorin sichtbar:

Keine Silben, Strophen oder Reime
Nur ein Augenpaar, das genau hinsieht
Statt alles niederzuschreiben
.

Ich nahm deine Sätze mit mir wenn ich ging
Um nicht einen Wimpernschlag zu vergessen
Und an den Tagen tanzte ich auf deinen Blicken ...
Und unsere Blicke immer himmelwärts
Als wir noch an den Abgrund glaubten
Der die Lüge von der Wahrheit trennt


Was macht man, wenn man aus der kindlichen Einheit von Imagination und Sprache gefallen ist (Knusperhäuschen), in der man bis zum Mond laufen und den Mann im Mond besuchen konnte?

Ich habe mir so vieles vorgestellt
auch später noch als ich das Vertrauen verloren hatte
und ich den Weg zurück nicht fand
weil ich statt Kieselsteinen eine Spur aus Worten gelegt hatte
mit der ein paar alte Damen Scrabble spie
lten

Man geht zurück zur Empfindung des Körperlichen, der Kieselstein-Spur zurück zum Fühlen in Form von Berührung als der einzig authentischen Begegnung:

Heb mich auf ...
Den ersten schuldvollen Blick
Und die Taten die daran haften ....
Du aber hältst mich mit Worten
Als wären es Hände
Buchstabenfinger


Der Blick wird hier in Russisches Brot zur Wirklichkeit einer Tat, einer Berührung, die ihre „kindliche Unschuld“, ihre naiver Einheit verloren hat, die sie damals noch hatte, als als Wirken und Sprechen eins waren:

Damals...
Als ich glaubte
Gedichte wachsen den Dichtern aus den Händen(!)
wie Bäume Blätter verlieren
(Inger Christensen?)

Un hier noch Beispiele, um die Polarität aus dem Amalgam „Sehen/Spüren“ contra „Sprechen“ und den „Sündenfall“ noch etwas auszuleuchten:

Ich fürchte, dass Du das kannst
Die Dinge betrachten, als seien sie stofflich nur ein Gewebe aus Raum und Zeit
Die Worte und Silben nicht mehr als ein Klang
Ein Spiel, das Du mit ihnen treibst

Es ist nicht so dass mich niemand gewarnt hätte
aber ein Haus ist immer noch ein Haus
Und dieses war dekoriert mit zuckersüßen Worten
bunt kandiert und klebrig
Warum hätte ich nicht eintreten sollen
Nichts hielt mich zurück
Ich hatte ja nicht einmal mehr einen Glauben
oder festen Boden unter meinen Füßen
Schreib Dich ein sprach die Hexe
und zückte die Feder
Als ich erst über die Schwelle getreten war
gab es kein Zurück mehr


Die Erfahrung der Zeile „und an den Tagen tanzte ich auf deinen Blicken“ hat sich als Illusion herausgestellt: „Da sind immer noch diese Augen, da ist ein restlos unveränderter Blick, der nichts berührt(!) wenn er sich mit meinem Blick kreuzt“ und ich hoffe, die Parallele zum vorliegenden Gedicht ist plausibel:

Das ist der Grund warum ich
Unmengen von Scherben hinterlasse
mit dem Papier auf das ich die Buchstaben setze
damit sie tanzen
Nicht damit wir verstehen.


Was war nochmal der Grund für die Unmengen von Scherben?

Ich bin ein Zitat meines Spiegelbildes
Niemand (am wenigsten ich)
hat jemals versucht mich zu sehen


Und, so wage ich hinzuzufügen: Inzwischen will die Autorin nicht mehr gesehen werden.
Jedenfalls nicht verstanden.
Natürlich handeln alle Gedichte, die ich gelesen habe von Beziehung. Aber wie in „Anna und ich“ verbirgt die Autorin das Thema, möglicher Weise sogar vor sich selbst. Wie sie ja selbst in einigen Kommentaren einräumt.

Im Spiegel saß eine ratlose Frau
Die sich mit leeren Händen
Die Augen zuhielt


Wie kommt es dann, dass das Gedicht von ihr selbst und einigen andern als eher distanzierend gelesen wird und von andern als geradezu indiskret persönlich?
Mein Versuch einer Antwort heißt: Bekenntnis.
Nachdem die Einheit der Sprach-Handlung („Gedichte wachsen den Dichtern aus den Händen) aufgelöst ist ("du aber hältst mich mit Worten, als wären es Hände Buchstabenfinger“) bleibt nur noch die nicht mehr mit teilbare Tat.
Sie kann nicht erklärt werden. Man kann sich nur zu ihr bekennen und sagen:
Ja, so ist es geschehen. Es ist nicht verstehbar, nicht revidierbar wie das Wort.

und ich sage Dir: Das ist dieses Missverhältnis
dass es diese Art von Bekenntnissen gibt
die man macht
ohne sie jemals zu verstehen


Das ist es was der „Sprach-Mensch“ nicht „begreifen“ kann:

Die Sünden und ihr Bekenntnis
das ist was du nicht verstehst


Das ist es allerdings auch, was jemanden, der einen lakonischen Sprachstil als wahrhaftig empfindet und auf Understatement baut, nicht versteht, ja abstößt. Auch er würde die tiefe Enttäuschung zum Ausdruck bringen wollen, die den Beziehungsgedichten der Autorin innewohnt.
Aber so beiläufig, dass man sie überliest wie man einen Deckel auf einem Brunnenschacht übergeht. Keinesfalls würde er sie dem Leser vor die Füße knallen.
Aber auch die Autorin glaubt (so unterstelle ich ihr) sich distanziert zu haben.
Wie das? Weil sie ihr Thema inhaltlich camoufliert. Weil sie Bezüge vom LyrIch zur Person sorgfältig verwischt und sich sogar in Kommentaren bedeckt hält.
Das nützt ihr nur nichts, denn die Sprachmacht, an die sie selbst nicht mehr glaubt, vermittelt ihre Gefühlslage ungefiltert.
Sie wirkt dadurch erst richtig authentisch und als Spiegel für alle, die Ähnliches empfinden.
Und das sind wir letztlich alle, wie die Reaktion zeigt.

Wieso aber jetzt Sünden?
Weil Liebe einem nicht das Recht gibt
auf mehr als schiefertafelig angekreidete Unschuldsbrüche
und Stolz ... mehr als ein Fleck
auf der Landkarte eines nicht ganz so reinen Gewissens


weil
die Geschichte vom Märchen
... alles in ein geheimnisvolles Licht hüllte
Selbst die Falten und kahlen Stellen
Bargen Schönheit hinter diesem Schleier
Jenseits von allem Verständnis

sich als Missverständnis erweisen wird.

gebe ich dieses Missverhältnis zu
das besteht und weiterbestehen bleibt
im Gegensatz zu unserer Blauäugigkeit


Weil das Spüren authentisch nur noch ohne (Sprach-) Bewusstheit möglich ist:
Du warst so dunkel wie die samtene Nacht
Deine Berührungen so unbegreiflich
Dass ich mich auflöste
Bis ich keinen Namen mehr hatte
Und kein Gesicht
Und deine Hände spielten auf dem Hohlraum meines Körpers
(du hast nie behauptet dass es Liebe ist)
Bis die Saiten rissen
Und ich die Augen aufschlug

Und dann ist das Märchen, die Illusion zuende.

„Sünde“ ist nicht moralisch gemeint, sondern der Sündenfall „als wir zerfielen einst in du und ich“, was dann im Bewusstsein immer präsent bleibt:

Den ersten schuldvollen Blick
Und die Taten die daran haften.


Bleibt noch anzumerken, dass ich selbst nur Spiegel sein wollte, in dem die Worte der Autorin ihr Gesicht zeigen.
Oder ist es doch nur mein eigenes?

LG, Carl
Zuletzt geändert von carl am 23.10.2010, 07:33, insgesamt 1-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 22.10.2010, 23:28

mensch carl!!!!!! - is ja der wahnsinn!

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 23.10.2010, 10:34

lieber carl,

wie kommst du darauf, dass ich es nicht mögen werde? wie könnte ich es nicht mögen, dass sich jemand so viel mühe macht, nicht nur dieses gedicht sondern dieses gedicht im zusammenhang mit den anderen gedichten zu sehen, sich die mühe macht, mich bzw. das geschrieben so genau anzusehen.
und was man da im spiegel sieht, im spiegel der worte, im spiegel aus glas ist wohl immer eine mischung, nie ganz das eigene, nie nur das fremde.
diese auseinandersetzung verdient eine erwiderung für die ich zeit brauche. hier und jetzt nur so viel. ich glaube an die sprache, ich glaube, dass die sprache immer mehr sagt, als der sprecher zu sagen glaubt.
und ich gebe zu, die analyse, das genau hinterfragen, das operieren mit verstand fällt mir schwer bei gedichten. bei fremden und bei den eigenen erst recht. ich suche noch nach dem richtigen gleichgewicht. und wenn ich eine eigene poetologie formulieren wollte, es versuchen würde, klänge sie in etwa so:
Eine Frage genau so weit beantworten, bis sie sich von selbst wieder in Frage stellt.
Die Antwort verankern, aber nicht zu fest. Wozu denn Fragen, wenn man nicht an Antworten glauben kann? Aber wenn die Antworten unumstößlich sind, woher kommen dann die Fragen? Wo gehen sie hin? Und immer wieder diese Bedeutung von Wert. Dass alles seinen Preis hat, dass das der Wert ist, der Preis, den du zu zahlen bereit bist? Ehrlich sein, aber nicht rücksichtslos.
ich freue mich sehr über deine ausführliche beschäftigung und hoffe ich kann darauf irgendwann angemessen antworten.

danke
xanthi

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 23.10.2010, 10:35

Niko hat geschrieben:mensch carl!!!!!! - is ja der wahnsinn!


Großartig!

Bewundernde Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 24.10.2010, 12:25

noch einmal zu der fiktiven rezension. es ist gut, dass reale gedichtbändchen autoren nicht auf reale literaturrezensionen antworten können, aber da der fall hier anders liegt erweitere ich meine antwort noch ein stück. natürlich ist diese "rezension" eine feine arbeit, sorgfältig reihst du passagen aneinander, die deine hypothese beweisen, das sieht neutral aus, das sieht nach texarbeit aus, also riecht es nach objektivität, aber natürlich sind das selektive stücke, vermutlich nicht dieselben, die ich für einen gedichtband auswählen würde, was die sache nicht weniger wahr macht, nur relativiert.
ich will nicht gesehen werden schreibst du und nicht verstanden und als feststellung stimmt ds sogar. aber warum klingt es wie ein vorwurf? (oder klingt es nur in meinen ohren so? wieder dieser spiegel, der immer die sicht verstellt?) ich stelle mir folgende antworten vor: weil die autorin, die worte hinausschickt und den sinn den lesern überlässt. weil sie den sinn nicht immer wieder zurückholen und mit dem eigenen beladen will oder weil man vielleicht spürt, dass sie nicht an das verstehen glaubt, an dem manchem leser so viel liegt.
tatsächlich glaube ich nicht, dass der wahre kern eines gedichtes das verstehen ist. es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.
und um dieses thema kreisen dann tatsächlich alle meine gedichte, und beziehungsgedichte sind es auch allesamt, weil es immer darum geht, um die beziehung der sprache zur welt.

carl
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Beitragvon carl » 24.10.2010, 16:44

Liebe Xanthippe,

erstmal vorweg: ich erhebe keine Vorwürfe und stelle keine Forderungen.
Allerdings trage ich zu diesem Missverständnis meinen Teil bei:
Zum Beispiel ist das Bild von der Rezension schlecht gewählt. Du würdest natürlich andere Stücke auswählen und dass mir sofort die 5 zitierten Gedichte im Ohr waren, als ich „Bezugnehmend...“ las, hat mindestens so viel mit mir zu tun wie mit dir.
Mir ging es mehr um den Zusammenhang, wie die Bilder, die mir schon von den andern Gedichten bekannt waren, das vorliegende eher prosaische Gedicht mit Bedeutung aufgeladen haben.
Und was für ein Thema ich darin wahrnehme.
Mir liegt nichts daran, deine Gedichte zu verstandenen Objekten zu machen und ihnen „das geheimnisvolle Licht“ auszutreiben, dass „da ... nur noch ein durchschaubarer Rest/ ein Schulterzucken“ bleibt.
Genau so wenig möchte ich dich als Person auf irgendwas festlegen.

Für mich hat „erkennen“ die Bedeutung von „wahrnehmen“ in der Hoffnung, dass es zuerst Gemeinsamkeiten sind, die ich wahrnehme, und dann erst Differenzen.
Um mit den Gemeinsamkeiten anzufangen:
„ich glaube an die sprache, ich glaube, dass die sprache immer mehr sagt, als der sprecher zu sagen glaubt.“
Diesen Satz von dir unterschreibe ich sofort!
Und weiter:
„weil man vielleicht spürt, dass sie (die Autorin) nicht an das verstehen glaubt, an dem manchem leser so viel liegt.
tatsächlich glaube ich nicht, dass der wahre kern eines gedichtes das verstehen ist.
es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.“
Genau das ist mir durch diese 6 Gedichte klar geworden und mehr wollte ich nicht sagen.
Ich glaube, viel mehr habe ich auch nicht gesagt, ich hab es nur ausführlich an den Textstellen dokumentiert. Und vielleicht hast du das ja auch in irgendeinem Kommentar alles schon ausgesprochen oder vielleicht hätte ich dich einfach nur per PN fragen brauchen und mir den ganzen Aufwand sparen können...

Aber:
„es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.“
Den Satz muss man mal auf sich wirken lassen!
Eben dieses Thema finde ich bewegend und von allgemeinem Interesse!!!

Du meinst „be-greifen“ wörtlich, und „verstehen“ ist dagegen abstrakt, losgelöst von der Realität.
Damit bringst du für mein Empfinden das Wirklichkeits-Verständnis einer bildenden Künstlerin zur Sprache.
Der bildende Künstler gestaltet ja nonverbal, aber in der Hoffnung, dass sich der Prozess auch nonverbal mit-teilt, und grinst angesichts der vielfältigen Reaktionen des Publikums nur in sich hinein. Dabei sind ihm die Interpretationen völlig wurscht, weil sie nicht das Wesentliche beinhalten. Der gestalterische Prozess ist wesentlich und dass er zu weiteren Prozessen anregt.

Wenn ich das so formuliere, ist das als Pointierung gedacht, nicht als Zuschreibung. Und vor allem soll es nicht heißen, dass du nicht Schreiben kannst, sondern lieber Töpfern solltest!
Paradoxer Weise bringst du das sprachlose Begreifen sprachlich so gut rüber, dass manche es schon als indiskret empfinden ;-)
Du schreibst Bekenntnisse. Und die sind nicht verstehbar, sondern wirksam.
Eben wie die bildende Kunst.

Um das noch weiter auszuführen, und ein Problem für uns heute dabei aufzuzeigen:
Wir heute vertrauen der Sprache nicht mehr. Sie gilt als restlos korrumpiert. Inzwischen auch das Bild.
Authentisch ist nur das Spüren im Sinne von Tasten.
Ein bekannter Hirnforscher hat auf einem Transatlantikflug einen Hummer durch die Sitzreihen kriechen sehen. Er konnte es erst glauben, als er das Tier berührt hatte (das war aus der Kombüse ausgebüchst. Wozu auch Hirnforschung, wenn nicht wenigstens 1. Klasse dabei rausspringt?)
Es ist dieser elementarste Sinn, der uns als Säugling schon Geborgenheit und Nähe vermittelt hat bevor wir verstehen konnten, der uns zur Vergewisserung noch geblieben ist.
Du hast dieses Dilemma in einer tollen Sex-Szene beschrieben (und jetzt erzähl mir nicht, dass es keine ist, sondern allgemein eine Beziehung von Sprache & Welt, grins):

Du warst so dunkel wie die samtene Nacht
Deine Berührungen so unbegreiflich
Dass ich mich auflöste
Bis ich keinen Namen mehr hatte
Und kein Gesicht
Und deine Hände spielten auf dem Hohlraum meines Körpers
(du hast nie behauptet dass es Liebe ist)
Bis die Saiten rissen
Und ich die Augen aufschlug


Und jetzt sind wir bei den Unterschieden.
Ich würde nämlich auch unterschreiben, was Max bei seiner Vorstellung als Moderator sagt:
Schreiben ist Selbstvergewisserung.
Ich bin mein 1. Leser und als solcher versuche ich mich selbst wahrzunehmen (um nicht deine Bedeutung von „verstehen“ zu übernehmen).
Und weil das für Anna und mich nicht reicht (man braucht einen anderen um sich selbst zu erkennen) versuche ich auch ein Du wahrzunehmen. D.h., ich suche weitere Leser und bin selbst Leser von andern.
Und es geht sehr wohl um Verstehen aber in einem andern Sinne.
Um deine Metapher vom Spiegel aufzugreifen:
Im Spiegel sehe ich mich selber.
Wenn der Andere mir Spiegel wird (und ich ihn nicht nur als Projektionsfläche missbrauche) dann heißt das:
Ich sehe das Gemeinsame in uns!
In den Worte eines antiken Poeten:
Heute erkennen wir in einem dunklen Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht.
Wenn ich das „dann“ nicht nur transzendent verstehe sondern als Annäherung hier und jetzt, kann ich auch mit seinen Worten schließen:
Nicht, dass ich's schon ergriffen hätte. Ich jage ihm aber nach, weil ich ergriffen bin!“
Im Prozess des Verstehens sind auch wahr genommene Differenzen eine Annäherung.
Denn auch an der Differenz erscheint das Eigene.
Deshalb lese ich Gedichte und versuche zu verstehen.

LG, Carl

keinsilbig

Beitragvon keinsilbig » 24.10.2010, 18:42

carl hat geschrieben:Aber:
„es geht um begreifen und das ist immer sprachlos.“
Den Satz muss man mal auf sich wirken lassen!
Eben dieses Thema finde ich bewegend und von allgemeinem Interesse!!!

Du meinst „be-greifen“ wörtlich, und „verstehen“ ist dagegen abstrakt, losgelöst von der Realität.
Damit bringst du für mein Empfinden das Wirklichkeits-Verständnis einer bildenden Künstlerin zur Sprache.
Der bildende Künstler gestaltet ja nonverbal, aber in der Hoffnung, dass sich der Prozess auch nonverbal mit-teilt, und grinst angesichts der vielfältigen Reaktionen des Publikums nur in sich hinein. Dabei sind ihm die Interpretationen völlig wurscht, weil sie nicht das Wesentliche beinhalten. Der gestalterische Prozess ist wesentlich und dass er zu weiteren Prozessen anregt.

...
Paradoxer Weise bringst du das sprachlose Begreifen sprachlich so gut rüber, dass manche es schon als indiskret empfinden ;-)
Du schreibst Bekenntnisse. Und die sind nicht verstehbar, sondern wirksam.
Eben wie die bildende Kunst.




danke, carl!!!!


das ist exakt, was ich noch nie so recht zu fassen bekommen habe - zumindest nicht verbal. es ist aber, wie ich mein "wirken" als schreibender, kunstschaffender mensch verstehe und meine. und wie ich auch werke anderer wort-bild-hauer lese. ich suche in allem nach dem "wirken". versuche, auf mich "wirken" zu lassen...

es ist ein sicherlich "anderer" (im sinne von "weniger bekannter" oder "gebräuchlicher") zugang zum schreiben bzw. zu lyrik/lyrischer prosa... ich habe das nur noch nie so exakt "orten" und benennen können wie du jetzt hier. dafür meinen aufrichtigen dank und meinen respekt!!!!


liebe grüße,

keinsilbig

carl
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Beitragvon carl » 26.10.2010, 10:19

Liebe Xanthippe, liebe Elsa, liebe keinsilbig, lieber Niko:

ich danke euch für die Blumen :d040: !!

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 26.10.2010, 19:16

Liebe Xanthippe, seit Beginn dieses Fadens habe ich mich über diesen Text, - wie über frühere - gefreut. Dein Text ist ein hallender Raum, in dem unsere ängstlichen, einsamen Stimmen besonders deutlich zum Klingen kommen. --- einige von uns wussten nicht, was das mit den in ihnen anklingenden Saiten zu tun haben könnte, denn die so hervorgerufenen Töne nahmen die verschiedensten Formen an, sie vergaßen den Abstand, der vorsichtshalber immer einzunehmen ist und verwechselten Inhalt mit Form.
Carl hat schon mehrere Male Sondierungsarbeiten <<á la Herkules<< ausgeführt, ihm wurde nicht immer adäquat gedankt, hier möchte ich dieses nach holen,,

Dein Gedicht, Xanthi ist sehr eindringlich.

Liebe Grüße

Renée

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 27.10.2010, 12:39

es ist mir ein wenig unangenehm, so viel aufmerksamkeit hier für mich und dieses gedicht gebündelt zu haben. trotzdem überwiegt die tatsache, dass ich glaube, viel gelernt zu haben während dieser diskussion, über mich und mein selbstverständnis beim schreiben. dafür möchte ich noch einmal allen beteiligten herzlich danken.
xanthi


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