köpfe sie vor dem schlüpfen, or you'll get carried away

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 19.03.2010, 07:24


köpfe sie vor dem schlüpfen, or you'll get carried away



schau es nicht an
das nest, als wäre es leer
immer schon gewesen

etwas entschlüpfte mir
aus schalen splittern - das klebrige
zwischen den zweigen - fauliges gelb
hatte ich uns das nicht prophezeit
dieses enden unter den händen

aber dann, aber dann
tirilierte es mir wieder ein, dass man dunkle zeilen
nicht schwindeln darf, denn wäre es nicht soul und sonnig zu nennen
wie deine stimme über meine schulter streicht

sie sind mir aufgeflogen!
das will ich dir sicher sagen
und in die weite weisen
die sich um uns schreibt




[align=right]aus dem lyrischen Dialog[/align]
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 19.03.2010, 09:59

Liebe Flora,

Klasse! Gerade noch ein faules Ei und dann doch ein Auffliegen, trotz allem.

Habs sehr gern gelesen!

Liebe Grüße
Elsa
Schreiben ist atmen

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.03.2010, 08:25

Danke Elsa, freut mich. :-)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.03.2010, 18:48

Liebe Flora,

mir fällt es schwer, über den Titel hinaus zu gelangen, weil er mich gedanklich so sehr beschäftigt. Köpfe sie vor dem Schlüpfen, das erzeugt ein äußerst brutales Bild in mir. .Ich denke an Küken kurz vor dem Schlüpfen, die geköpft werden, weil das offensichtlich den Köpfenden davor rettet, "carried away" zu werden.

Im ersten Absatz klingt es auch nach etwas Totem. Aber wie kann das "entschlüpfen"? Ich komme auf der Bildebene einfach nicht klar.


Das hier finde ich sehr schön:


hatte ich uns das nicht prophezeit
dieses enden unter den händen

aber dann, aber dann
tirilierte es mir wieder ein, dass man dunkle zeilen
nicht schwindeln darf, denn wäre es nicht soul und sonnig zu nennen
wie deine stimme über meine schulter streicht


Liebe Grüße

leonie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 20.03.2010, 23:59

Hallo Leo,

mir fällt es schwer, über den Titel hinaus zu gelangen, weil er mich gedanklich so sehr beschäftigt. Köpfe sie vor dem Schlüpfen, das erzeugt ein äußerst brutales Bild in mir. .Ich denke an Küken kurz vor dem Schlüpfen, die geköpft werden, weil das offensichtlich den Köpfenden davor rettet, "carried away" zu werden.
Der erste Teil des Titels ist wahrscheinlich für manche Leser wirklich eine Hürde, war es auch für mich selbst im Schreiben, was ich sehr spannend fand und was dann ja auch einer der Gedankenseitenwege des Gedichtes ist.
Geschieht das Köpfen denn für dich im Gedicht? Und wirst du nicht doch über diese Hürde hinweg getragen, denn du hast ja etwas "Schönes" für dich gefunden?
Interessant finde ich auch, dass du schreibst, dass es "davor rettet". "To get carried away with/by something" ist eine Redewendung, die ich sehr mag, die wörtlich sowohl "weggetragen werden" heißen kann (also hier auf Bildebene vom geschlüpften Vogel, .-) den Zeilen), aber auch von etwas mitgerissen werden (im Sinne von begeistert sein, leidenschaftlich), oder auch völlig in etwas aufzugehen ("verliebtheitszustand"). Hast du es so gelesen?
Im ersten Absatz klingt es auch nach etwas Totem. Aber wie kann das "entschlüpfen"? Ich komme auf der Bildebene einfach nicht klar.
schau es nicht an
das nest, als wäre es leer
immer schon gewesen


Das ist auch spannend, dass es für dich nur so klingt, auch in der Rückschau? Ich glaube, man könnte genauso auch das Leben, das Entstehen, die Möglichkeit darin übersehen (wollen)? Liest du es denn als Aufforderung es anders (an) zu sehen?

Entschuldige, dass ich mehr rückfrage, als antworte, aber das wäre für mich wirklich interessant und ich möchte auch noch ein wenig abwarten, ob noch andere Kommentare dazu kommen, bevor ich selbst Konkretes dazu sage. Vielleicht kann das Gedicht auch einfach nicht leisten, zeigen, was ich hineingelegt habe. Mir wurde durch den Versuch einer Antwort, Erklärung aber vieles noch einmal klarer. Danke, dass du dich dazu gemeldet hast!

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Klara
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Beitragvon Klara » 21.03.2010, 07:54

Hallo Flora,

noch schöner fände ich das - und ich finde es sehr schön! - wenn nicht nur das faulig-sehen als lüge, als nichteinlassen suggeriert würde, sondern auch das schönmalen ;) doch das mag persönlichen vorlieben geschuldet sein...

wenn ich es jedoch anders lese, nicht als beziehungsgedicht, und auch nicht zu sehr als verkappt analytischen text, denk/wahrnehmungstheoretischen text, dann lese ich:

Eltern, die ihr Kind flügge werden lassen. Und dann rührt es mich - jetzt und hier an meinem Schreibtisch - zu Tränen.

Am ergreifendsten dann eben doch:

aber dann, aber dann
tirilierte es mir wieder ein, dass man dunkle zeilen
nicht schwindeln darf, denn wäre es nicht soul und sonnig zu nennen

(und fraglich, ob es das erklärende, für mich künstlich naive "denn wäre es" (nicht soul und sonnig zu nennen) anders "gelöst" werden könnte.

Die letzten drei Zeilen sind für mein sentimentales Lesen überflüssig... für mich hört es auf bei "sie sind mir aufgeflogen!"Sogar dann, wenn ich die dritte Lesevariante einsetze: Dass es ums Schreiben ginge, um Kreativität, ums Erschaffen von neuen Worten, die Altes so sagen, dass wir Neuen es fühlen können (zum Beispiel)

Herzlich
klara

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 21.03.2010, 13:09

Liebe Flora,
ich will denn auch endlich (nach mehrmaligem Lesen) eine Rückmeldung geben: So schön ich das Gedicht finde, auch ich habe mit dem Titel Schwierigkeiten.
Darf ich vorab fragen, wie der Titel überhaupt gemeint ist? Eine Titeldoppelung, wie z.B. "Dreikönigsabend oder Was ihr wollt" meint ja üblicherweise eine Wahl zwischen zwei möglichen Titeln, aber nicht zwischen zwei Vorgängen im Sinne des Ausschlussprinzips "Friss oder stirb".
Oder soll der Leser hier die Wahl haben, ob er die Wahl zwischen zwei Titeln hat oder die ganze Titelzeile ein durchgehender Titel ist?
Schönen Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

Klara
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Beitragvon Klara » 21.03.2010, 14:13

p.s. mit dem titel habe ich inhaltlich keine schwierigkeiten - nur wirkt das englische auf mich prätentiös. (habe ja schon die benutzung des "soul" nicht verstanden)

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 21.03.2010, 20:18

Hallo Klara,

p.s. mit dem titel habe ich inhaltlich keine schwierigkeiten - nur wirkt das englische auf mich prätentiös. (habe ja schon die benutzung des "soul" nicht verstanden)
das hatte ich fast befürchtet, weil es mir da meist ähnlich geht. Prätentiös soll es gar nicht sein... wahrscheinlich muss eine gewisse Ausgewogenheit des vertrauten Klanges da sein, damit man den Sprachenmix natürlich wahrnimmt, als wäre man in beiden zu Hause. Es ist schwierig, ein deutsches Äquivalent zu finden oder zu kreieren, das das alles fassen kann, vielleicht müsste ich da in eine ganz andere Richtung gehen...
"soul" ist Seele und Musik und "soul und sonnig" klingt mir hier einfach genau richtig. :)
Deine unterschiedlichen Leseweisen freuen mich... und dass es dich so rührt, rührt mich dann wieder...
Über das "künstlich-naive" und die "Suggestion" denke ich noch nach, ich glaube dieser Eindruck passt dann auch zu deiner Streichung der letzten Zeilen.

noch schöner fände ich das - und ich finde es sehr schön! - wenn nicht nur das faulig-sehen als lüge, als nichteinlassen suggeriert würde, sondern auch das schönmalen ;)
Vielleicht habe ich den Eindruck, dass das Faulig-sehen ein Phänomen ist, das präsent genug ist (auch im Gedicht), so dass man dem "Schönen" wieder Gehör verschaffen darf, muss. Und vielleicht wäre es ja auch einfach "schön"... ganz ohne Malerei. .-)

Die letzten drei Zeilen sind für mein sentimentales Lesen überflüssig... für mich hört es auf bei "sie sind mir aufgeflogen!" Sogar dann, wenn ich die dritte Lesevariante einsetze: Dass es ums Schreiben ginge, um Kreativität, ums Erschaffen von neuen Worten, die Altes so sagen, dass wir Neuen es fühlen können (zum Beispiel)
Das wäre für mich ein sehr raues, offenes Ende, an dem man sich reibt. Das wäre sicher auch interessant, aber eben doch ganz anders? Mir würde das Weiche, Runde fehlen... das Ankommen. Und diese "aufgeflogene" Zeile wäre mir dann doch auch zu leicht wieder faulig zu lesen. .-)
Aber auch gerade in Bezug zu deiner Kritik des naiven Schönmalens ist mir das "wollen" und das "sicher" dieser Zeile wichtig:
das will ich dir sicher sagen

Hallo Zefi,

Eine Titeldoppelung, wie z.B. "Dreikönigsabend oder Was ihr wollt" meint ja üblicherweise eine Wahl zwischen zwei möglichen Titeln, aber nicht zwischen zwei Vorgängen im Sinne des Ausschlussprinzips "Friss oder stirb".
Oder soll der Leser hier die Wahl haben, ob er die Wahl zwischen zwei Titeln hat oder die ganze Titelzeile ein durchgehender Titel ist?
*lach* Vielleicht eher "töte oder liebe"... Wenn ich eine Titeldoppelung nehme, dann setze ich den zweiten Titel normalerweise ab, entweder durch einen Zeilenumbruch, Klammern, Doppelpunkt, Schrägstrich, andere Schriftart... Hier war es schon als eine Zeile gemeint. Ist das wirklich unüblich?
Ich freu mich, dass du hier vorbeischaust und danke fürs Schönfinden! Stört dich das Englische denn auch?



An euch Titelkritiker, wie wäre denn das:

köpfe sie vor dem schlüpfen, oder sie werden sein, wie die luft zum lieben

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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leonie
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Beitragvon leonie » 21.03.2010, 20:28

Liebe Flora,

Ich scheitere am Titel. Denn wo etwas geköpft wird, lebt doch nichts mehr. Das ändert sich auch durch Rückschau nicht.
Vielleicht verstehe ich auch einfach das ganze Gedicht nicht. Die toten Küken, die ich sehe, wollen einfach nicht mehr aufstehen... :sad:
Ich sehe die Möglichkeit, dass sie gar nicht geköpft wurden, sondern dass der zweite Teil zum Zuge kommt. Aber irgendwie geht das für mich auf dieser Negativfolie gar nicht mehr. Man kann hingerissen werden, weil man nicht geköpft hat? Stand denn dass das Köpfen überhaupt jemals zur Debatte oder im Raum? Ich könnte schon über diese Tatsache dann kaum hinwegkommen.

Ich kann dann die schönen Zeilen für sich lesen. Aber ich kriege es nicht in einen Zusammenhang.

Hm, ob Dir das weiterhilft?

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 21.03.2010, 21:39

Liebe Flora,

die gute nachricht aus meiner Richtung ist: Ich habe mit dem Titel keinerlei Schwierigkeiten, ich mag die kleine Provokation, die darin steckt.

Die schlechte Nachricht: Es gibt viele Passagen, die ich als solche mag, am liebsten vielleicht diese

Flora hat geschrieben: aber dann
tirilierte es mir wieder ein, dass man dunkle zeilen
nicht schwindeln darf, denn wäre es nicht soul und sonnig zu nennen
wie deine stimme über meine schulter streicht



aber am Ende des Gedichts stellt sich bei mir kein so rechtes Gefühl ein, was der Text sagt. Mir bleibt ein wenig ein uneinheitlicher Eindruck zurück ... mag aber an mir liegen.

Liebe Grüße
Max

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leonie
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Beitragvon leonie » 21.03.2010, 22:00

Max, aber wie verstehst Du denn den Titel?
Da scheint es bei mir ja schon zu scheitern...

Also, ich wäre froh über eine Interpretation, die mir weiterhelfen könnte von jemandem, der keine Schwierigkeiten hat. Ich komme mir einfach total begriffsstutzig vor...

Liebe Grüße

leonie

Klara
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Beitragvon Klara » 22.03.2010, 08:37

Hallo Leonie,

den Titel lese ich gar nicht so kompliziert, sondern in der Aussage eher banal (banal im Sinne von: alltäglich), als Alternative, auch als Entscheidung, mit Konsequenzen wie jede Entscheidung. Ich hab's so verstanden (natürlich wie bei den Lottozahlen OHNE GEWÄHR ;)):

ENTWEDER, man köpft "sie" (die Küken, die Zuwendung, die Liebe, die Entstehung von etwas Lebendigem, die HOFFNUNG...), bevor sie aus-schlüpfen, sich entwickeln können, sich überhaupt außerhalb der Schale, im Rauen, bewähren könnten (prophylaktisches Abtöten, damit es nicht wehtun kann, wenn man enttäuscht wird -

ODER du lässt dich ein, siehst nicht von vornherein alles negativ, nicht unmöglich, und dieses dein Nicht-Köpfen, dein Einlassen, dein Zulassen, dein Offensein ermöglicht: - und wirst davon getragen, kannst, mit der Hoffnung, dem Vogel, dem Leben - FLIEGEN.

Hm?

Mir fällt dazu noch dies ein, wenn auch weniger naiv,eher trotzig, verzweifelt-hoffend:
Nun steckt aber in jedem Fall, auch im alltäglichsten von Liebe, der Grenzfall, den wir, bei näherem Zusehen, erblicken können und vielleicht uns bemühen sollten, zu erblicken. Denn bei allem, was wir tun, denken und fühlen, möchten wir manchmal bis zum Äußersten gehen. Der Wunsch wird in uns wach, die Grenzen zu überschreiten, die uns gesetzt sind. Nicht um mich zu widerrufen, sondern um es deutlicher zu ergänzen, möchte ich sagen: Es ist auch mir gewiß, daß wir in der Ordnung bleiben müssen, daß es den Austritt aus der Gesellschaft nicht gibt und wir uns aneinander prüfen müssen. Innerhalb der Grenzen aber haben wir den Blick gerichtet auf das Vollkommene, das Unmögliche, Unerreichbare, sei es der Liebe, der Freiheit oder jeder reinen Größe. Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten. Daß wir es erzeugen, dieses Spannungsverhältnis, an dem wir wachsen, darauf, meine ich, kommt es an; daß wir uns orientieren an einem Ziel, das freilich, wenn wir uns nähern, sich noch einmal entfernt.
(Ingeborg Bachmann, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar)

Flora, lass den englischen Titel, nicht irgendwas Deutsches versuchen - er ist schön. Du hast recht.

herzlich
klara
Zuletzt geändert von Klara am 22.03.2010, 10:50, insgesamt 1-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.03.2010, 08:57

Ich hätte es so ähnlich verstanden (ohne es so klar formulieren zu können). Womit ich aber Probleme habe, immer noch, ist der Aufforderungscharakter, der in dem Halbsatz "Köpfe sie vor dem Schlüpfen" liegt ...
Gruß von Zefira
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