entfesselt

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.04.2010, 11:14

entfesselt
(1920)


abgelegte korsetts
brüste befreit und
nackte beine im charleston
fieber mit einer prise
morphium zu champagner

– was kostet die welt –

zuviel um hunger zu stillen
geheizt wird lange nicht
mehr und gewartet auf
einen erlöser – noch will
er kunstmaler sein


.
Schreiben ist atmen

Niko

Beitragvon Niko » 11.04.2010, 13:01

die anspielung auf hitler find ich gut gelungen, elsa! klasse!!!
anfangs schreibst du unter den titel 1920. kennt man das gedicht nicht, unkt mman / ich als leser, ob es um 1920 geht. ich glaube und finde, dass die jahreszahl nicht nötig ist. es erschließt sich durch charleston. es muss einfach erlesen werden. ähnlich der stelle um den braunauer schlächter. brecht bezeichnete hitler in seinen gedichten immer als anstreicher. alles andere hätte ihm womöglich den kopf gekostet. und eine versteckte hähme liegt darin ja auch zudem.

ich finde dein gedicht ganz hervorragend. schon in dem titel wird die zwiespältigkeit dieser zeit eingefangen: entfesselt. das ist zum einen der beschriebene überschwang, aber auch im sinne von nicht mehr aufzuhalten. sehr gut find ich das! du hast hier gut eine zeit charakterisiert. eine zeit, die das eine glamouröse und mondäne zeigt (berlin war zu dieser zeit was mode und gesellschaft anging gleichrangig mit paris, wenn ich nicht irre) und wo in eben dieser zeit schon die weltwirtschaftskrise durchschlug und somit der weg für hitler geebnet wurde. gerade die zwanziger jahre waren durchsetzt von zahlreichen putschversuchen. die weimarer republik wackelt...der kapp-putsch war gerade aktuell. vor allem unterstützt durch freichorps und nationalisten und monarchisten......das unter anderem ebnete hitler den weg, der 1923 einen blutigen putsch versuch unternahm, der scheiterte und ihn ins gefängnis brachte. wo er "mein kampf" schrieb......

nuja....geschichte.....ich finde, du hast da eine echte perle geschrieben....... besonders der übergang von "was kostet die welt" zur zweiten strofe finde ich genial. (lediglich die gedankenstriche bräuchte es meiner meinung nach nicht. durch das vereinzeln dieser zeile ist dies überflüssig.

liebe grüße: Niko

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 11.04.2010, 17:49

Lieber Niko,

Ganz lieben Dank für deine schöne Replik und weitere Gedanken dazu!
Ich freu mich, dass die Zwiespältigkeit gut lesbar ist, fein!

Du hast recht, die Jahreszahl kann entfallen, ja. Mach ich gleich.
Über die Gedankenstriche bin ich (noch) nicht so sicher.

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 11.04.2010, 18:25

Liebe Elsa,

an der Umsetzung des Textes habe ich nichts zu kritisieren, eher am Inhalt. Er scheint mir den Fokus seltsam zu legen. Ich glaube nicht, dass der Nationalsozialismus nur eine Reaktion auf emanzipatorische Bewegungen war, noch von diesen messiasgleich erwartet wurde. Natürlich gab es unter den Protagonisten der goldenen Zwanziger Personen, die Hitler abgefeiert haben. Es gab unter ihnen aber auch sehr viele aktive Gegner der Nazis. Messianisch erwartet wurde Hitler eher vom Adel, dem Militär, Teilen des Bürgertums, Gruppen, die nach dem Ende des Kaiserreichs ihre Pfründe fortschwimmen sahen. Die Korsettablegerinnen waren wohl kaum einflussreich genug, Hitler an die Regierung zu bringen, zumal sie an einer erneuten Beschneidung ihrer Freiheit kein Interesse gehabt haben dürften. Wenn es Dir nur um eine Gegenüberstellung der beiden Positionen in den Zwanzigern geht, würde ich den reaktionären Gegenpart mehr herausheben. Wenn nicht, interpretieren wir Geschichte unterschiedlich.

Schöne Grüße

Jürgen

Niko

Beitragvon Niko » 11.04.2010, 20:05

Gurke hat geschrieben:Ich glaube nicht, dass der Nationalsozialismus nur eine Reaktion auf emanzipatorische Bewegungen war, noch von diesen messiasgleich erwartet wurde. Natürlich gab es unter den Protagonisten der goldenen Zwanziger Personen, die Hitler abgefeiert haben. Es gab unter ihnen aber auch sehr viele aktive Gegner der Nazis. Messianisch erwartet wurde Hitler eher vom Adel, dem Militär, Teilen des Bürgertums, Gruppen, die nach dem Ende des Kaiserreichs ihre Pfründe fortschwimmen sahen. Die Korsettablegerinnen waren wohl kaum einflussreich genug, Hitler an die Regierung zu bringen

wenn ich da nochmal was zu sagen darf.....
ich glaube, jürgen, dass elsa nicht einen zusammenhang herstellen wollte zwischen dem mondänen leben, das hitler den weg bereitete. sondern einfach den ineinandergreifenden übergang verschiedener zeiten darlegen wollte. so habe ich es beim lesen empfunden. sozusagen völlig unpolitisch. vielleicht mit der gesellschaftspolitischen nuance, dass aus den entfesselten - freien - jahre der zwanziger die entfesselten jahre geboren wurden, die hitler vielleicht unumgänglich machten. und adolf hitler war für viele der erlöser. er gab eine perspektive, versprach jedem arbeit. deutschland hatte seinerzeit eine arbeitslosigkeit von 5 millionen, wenn ich nicht irre (heute sind die zahlen ungeschönt ja noch höher)
ein wenig war es im alten rom so......die leute wurden unterhalten, waren satt von spielen im colosseum und das land lebte im überfluss...- die folge war der zerfall roms........die dinge wiederholen sich. ich glaube, es geht auch in so eine richtung.

liebe grüße: Niko

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 12.04.2010, 11:14

Lieber Jürgen,

Herzlichen Dank für deinen Kommentar, interessant, wie du das Gedicht liest, darauf wäre ich nicht gekommen.

Niko (danke Niko!) hat eigentlich schon Vieles davon geschrieben, wie ich den Text verstanden haben möchte.

Dazu noch:
Ich glaube nicht, dass der Nationalsozialismus nur eine Reaktion auf emanzipatorische Bewegungen war, noch von diesen messiasgleich erwartet wurde

Von Emanzipation habe ich eigentlich nicht geschrieben (du meinst die Befreiung vom Korsett, die ich aber als Wandel der Mode gedacht habe), sondern vom wilden Treiben in den 20ern, obgleich Weltwirtschaftskrise war. Meine Oma hatte sich aus alten Vorhängen die neue Mode genäht, zum Essen (2. Str) oder Heizen gab es so gut wie nichts.
Man wartete auf einen "Helden", der die Wirtschaftskrise beenden sollte, und da wurde die NSDAP gegründet.
Wenn man will, ist der Text eine Draufschau auf das ganze Jahrzehnt.

Aber mit Emanzipation hat es nichts zu tun.

Liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 12.04.2010, 21:06

Hallo Elsa,

oh, da hab ich den Text wirklich fehlinterpretiert. Wie du erkannt hast, habe ich das Ablegen des Korsetts als Bild für die frühe Emanzipationsbewegung gedeutet.

Schönen Abend

Jürgen

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 13.04.2010, 09:38

Lieber Jürgen,

danke, dass du dich nochmals meldest dazu, ich grüble natürlich darüber, dass mans missverstehen könnte ...

Liebe Grüße
ELsa
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 16.04.2010, 10:12

Die Befreiung vom Korsett, das Raufrutschen des Rocksaums waren zugleich Mode und Ausdruck von Emanzipation - wie es in den 70ern die Latzhose war ... Insofern muss ich Jürgen vollumfänglich recht geben. Mode entwickelt sich ja nicht autonom, sondern ist immer Ausdruck gesellschaftlicher Prozesse, die oft erst später durchschaubar werden, aber für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg scheint mir das offenkundig. Die Männer waren an der Front, die Frauen mussten einspringen, und als Straßenbahnerinnen, Fließbandarbeiterinnen usw. usf. konnten sie weder Korsetts noch lange Kleider gebrauchen, und als die Männer zurückkamen (wenn sie zurückkamen), waren sie emanzipiert, zeigten Wade, verdienten selber Geld und wollten sich amüsieren. Dass auch von diesen Frauen später viele, zu viele Hitler gewählt haben, der sie an Herd und Kochtopf zurückschicken wollte (wenn er sie nicht in der Waffenproduktion benötigte), gehört zu den für mich unauflöslichen Rätseln der weiblichen Seele, die emanzipiert und reaktionär in einem zu sein vermag ...
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 22.04.2010, 21:07

Liebe Elsa,

ich habe den Text schon ein paar Mal gelesen - bisher kam irgendwie nichts dabei raus, was für einen Kommentar geeignet gewesen wäre, aber heute kam ich (bei meiner eifrigen Alice Miller Lektüre zur Zeit .-) ) an eine interessante Stelle, in einem ihrer Bücher, in dem sie zu Teilen an Hitlers Kindheit exemplarisch versucht hat zu erklären, wie es im Erwachsenen zu destruktiven Strukturen, Gewalt an anderen und an sich selbst (meist ja gekoppelt) kommt.
Und da fiel mir dein Text wieder ein und ich weiß jetzt, warum er für mich noch nicht funktioniert. Er versucht nämlich meiner Meinung nach auf emotionaler Ebene großes Zeitgeschehen und individuelle Entwicklung zu parallelisieren (was ich gut finde), indem er zwei Befreiungsversuche aus Engen zusammen erzählt und weil der Leser weiß, dass die eine verhängnisvoll endete (bekanntlich wurde Hitler kein Kunstmaler und nicht nur das), überträgt er die geladene aber scheiternde Bewegung auch auf die erste und es kann eine kluge Frage entstehen: Wie war das eigentlich möglich, dass dann alles so kam? - Diese Komposition finde ich sehr klug und tiefsinnig angelegt: Ist doch jeder einzelne (sei er noch so dominierend) ein Kind seiner Zeit.
Allerdings hält die Wahl des Fakts des Kunstmalerwerdenwollens der Gewalt nicht stand, die sie tragen soll - ich finde sie nicht tiefsinnig genug, zu oberflächlich - denn die zeile muss meines Erachtens auch fassen können, WARUM das alles geschah (und sei es nur als vageste Andeutung): Und ich glaube nicht, dass es bei allem essentiell war, ob Hitler Kunstmaler werden wollte oder nicht (dass man die Bewegung darin vermutet speist sich glaube ich eher aus dem Klischee, dass dieses Detail in Hitlers geschriebenen (!) Biographien allzu leicht als Gegenstück zum Volksvernichter aufgestellt wurde.
Ich könnte mir vorstellen, dass der Versuch (das muss ja keinen Text erzeugen, vielleicht nur eine Überarbeitung dieses Textes oder eine Erfahrung), nur mit dem Material, was dieser Text zur Verfügung stellt, eine Geschichte zu schreiben, seine problematischen Lücken aufdecken würde.

Soweit erstmal meine Gedanken,
liebe Grüße,
Lisa
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Beitragvon Elsa » 23.04.2010, 10:55

liebe Lisa,

Vielen Dank für deinen Kommentar. Es läge durchaus im Bereich des Möglichen, das noch mehr auszuarbeiten, vielleicht mache ich es auch.

Die Intention war aber doch, das eine frustrierte, wütende Persönlichkeit auf Egotrip beleidogt und gekränkt wurde, weil er erfolglos blieb. In seinem krausen Hirn nach etwas fahndete, wo er erfolgreich sein könnte, das hat er ja leider geschafft. Ich erlebe das immer wieder bei Menschen, die (oder das, was sie machen wollen) abgelehnt werden und dadurch kippt ihre Wahrnehmung der Realität, es macht verrückt, nicht anerkannt zu sein. Das wollte ich hier zur Diskussion stellen.

Der Übergang von Str. 1 zu 2 wird geschaffen, weil in 1 der tanz auf dem Vulkan der Rezession gezeigt wird, der eben dorthin führt, dass so eine Persönlichkeit wie H. überhaupt die Chance hatte, der Welt das alles anzutun.

Tut mir Leid, dass es anscheinend so nicht zu lesen ist.

Liebe Grüße
ELsa
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.04.2010, 22:21

Liebe Elsa,

Die Intention war aber doch, das eine frustrierte, wütende Persönlichkeit auf Egotrip beleidogt und gekränkt wurde, weil er erfolglos blieb. In seinem krausen Hirn nach etwas fahndete, wo er erfolgreich sein könnte, das hat er ja leider geschafft.


Hm - dann verstehe ich aber den ersten Teil des Textes nicht - der ja dann auch als Herleitung dienen sollte? Und ich verstehe auch nicht, dass Hitler so gekränkt und wütend gewesen sein soll, weil er nicht Kunstmaler werden konnte. Für mich ist wie gesagt dieses Detail an sich schon überzeichnet, aber es ist doch auch nur eine "letzte" Station seines Scheiterns, bevor er sich "entschloss", die Seiten zu wechseln (vom Opfer zum Täter und Opferbleiben). Seine Wut auf das Scheitern einer Kunstmalerkarriere zu reduzieren, ihm ein "krankes Hirn" zu attestieren - das ist mir zu wenig - die Taten bleiben nicht weniger erschreckend und grausam deswegen, aber meines Erachtens haben ganz andere Gründe dazu geführt, dass er so gelebt und getötet hat, wie er es tat.

liebe Grüße,
Lisa
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Niko

Beitragvon Niko » 23.04.2010, 22:59

hitler zu verharmlosen wäre absolut ungerechtfertigt. und - wie politiker es so nett formulieren würden "eine beldeidigung für die opfer des nazionalsozialismus".
ich glaube, die persönlichkeit, die psychoanalytischen herleitungen, an denen sich seine grausamen und krank anmutenden politischen triebe ausleben, ist so einfach nicht abzutun mit frust über ein nicht anerkennen seines künstlerischen könnens. wobei "verbrieft" ist, dass hitler sich als architekt sah, der speer handlanger sein lies, dass er selbst immer in zeichnerische prozesse seiner untergebenen eingriff. aber es gibt da jede menge ansätze, sein krankes hirn zu erklären: die kindheit (die hat ja gerne immer irgendwie schuld an fehlentwicklungen im alter), sein politisches scheitern in den zwanzigern, seine haft, sein "mein kampf" aus dem zellenfrust vielleicht geschrieben......man weiß es schlussentlich nicht.
ich persönlich glaube an einer mischung aus verkorksten hirnwindungen aus frühen erlebnissen, komplexen, perversität und größenwahn. gepaart mit einer unheilvollen akribie.
aber ich glaube auch, dass elsa hitler nicht beschönigen wollte, sondern einen zeitgeist einfangen wollte, durch dessen extreme vielleicht hitler möglich wurde.

lieben gruß: Niko

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 23.04.2010, 23:07

Lieber Niko (und auch Elsa),

nur ganz schnell: Dass Elsa Hitler verharmlosen will, das wollte ich auch auf keinen Fall behaupten - mir kamen ihre letzten Aussagen nur etwas zu kurz gedacht/geschrieben vor. Was du listest und der dazugehörige gesellschaftliche Rahmen und Hintergrund - genau das meinte ich eben auch - aber so finde ich das eben (besonders nach Elsas Erklärungen) hier im Text noch nicht dargestellt.

liebe Grüße,
Lisa
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