Jeder andere Name

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.04.2006, 17:49

Jeder andere Name

Zieh deinen
Nerz aus Mangel
noch etwas tiefer
ins Gesicht.

Vergrabe
deine Hände
in seinen Taschen
voller Schmerz.

Dein Herz
ist eine nach
links gewachsene
Mondsichel.

Wie in bösen
Kinderbüchern.

Du hättest
jeden Namen tragen
können.

Nur nicht
diesen einen,
Mutter.

blau = geändert nach Gurkes Vorschlag
Zuletzt geändert von Lisa am 21.04.2006, 19:33, insgesamt 2-mal geändert.

Franktireur

Beitragvon Franktireur » 20.04.2006, 18:23

Hoi hoi, was für ein heftiges Gedicht. :!:

Mehr will ich dazu nicht schreiben - was du da ansprichst, trifft wohl leider auf viele Mütter zu (auch wenn es die wenigsten sich eingestehen würden, weil das ja "unmoralisch" wäre, zu sagen: auch Mütter sind oft unreife Kinder = unreflektierter Egoismus).

Gruß
Frank

Tanker

Beitragvon Tanker » 20.04.2006, 18:31

Was für eine geile Scheiße ist das denn??????
Klasse Lisa, danke für das intensive Gedicht.

G.T.

maria

Beitragvon maria » 20.04.2006, 18:33

Liebe Lisa,

Hui, die letzte Strophe trifft ja wie ein Hammer! Ich finde dein Gedicht sehr stark - du sprichst ein Tabu an, weil doch nur Stiefmütter im Märchen böse sein dürfen!

LG maria

maria

Beitragvon maria » 20.04.2006, 18:35

... da kommen die Rückmeldungen ja im Minutentakt :grin: !

ich nochmal (maria)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 20.04.2006, 20:24

Hallo,

danke für eure pistolenschussartige Rückmeldung!

Was die Thematik angeht: Ein Gedicht ist immer nur ein Lichtwurf, das allein berechtigt meiner Meinung nach schon die Thematik so behandeln zu dürfen.

Und zum anderen: Wenn man selbst begriffen hat, dass die eigene Mutter mehr Namen als eben diesen trägt (was jetzt nicht heißen soll, dass es sich um meine Mutter handelt), wenn man das wirklich (!) verstanden hat, darf man auch sowas schreiben :-$

Louisa

Beitragvon Louisa » 20.04.2006, 20:27

Hallo Lisa!

Die bösen Kinderbücher-Märchen gefallen mir sehr gut.

Traurig, traurig. Es funkelt der gekränkte Zorn aus diesen Worten.

Sprachlich wieder einsame Spitze, sicher können sich viele mit Deinen Zeilen identifizieren (ich nicht, aber das ist unwichtig).

Ich bin sehr bestürzt über dieses Mutter-Kind-Drama.

Die Frau im Pelzmantel hast Du schön charakterisiert.

Auch finde ich den Schluss formidabel!

Liebe Grüße, Louisa

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.04.2006, 21:06

Liebe Lisa,

ich habe Dein Gedicht von der ersten bis zur letzten Silbe mit Spannung gelesen. Ein harter, überraschender Schluss!

Auch Mütter unterliegen der "Entzauberung" und natürlich darf man darüber schreiben, finde ich.

Mir gefällt das Mondsichelbild besonders, überhaupt finde ich das gesamte Gedicht sprachlich ausgezeichnet!

Liebe Grüße
leonie

Julek

Beitragvon Julek » 20.04.2006, 21:36

Hi Lisa!

Wieder einmal sehr beachtlich. Woher kommt nur deine Produktivität (Menge und (vor allem) Klasse en masse!)?

Diesmal aber auch ein wenig Kritik (die aber selbst noch gar nicht entschieden ist). Ich finde nämlich das " wie in bösen Kinderbüchern" nicht so schön, rein sprachlich betrachtet, wie-Vergleiche in Poesie mag ich nicht sooo gern. Andererseits bringen diese Zeilen erst richtig das Märchenhafte und das Stiefmutter-Bild ins Spiel. Kann also eigentlich nicht wegfallen (was sicher die anderen genau so sehen, immerhin hatte ich den Eindruck, dass viele gerade von den Kinderbüchern angetan waren.)

Der Nerz aus Mangel und die Hände in seinen Taschen voller Schmerz sind Wahnsinnsbilder, und ich kann da Tanker in seinem Urteil voll zustimmen :grin: .

(Und wie gesagt: die Ausmaße deiner Schaffenskraft
sind mir ein Rätsel. Wann schläfst du?)
Gruß Julek

maria

Beitragvon maria » 20.04.2006, 21:48

Es stimmt was du sagst. Und spätestens wenn man selbst Mutter ist, wird man der eigenen Mutter gegenüber auf einmal viiieeel toleranter, sieht sie eben als Mensch - und hofft - selbst wenn die eigenen Kinder noch klitzeklein sind - auf spätere Vergebung für die vielen Fehler, die man macht! Es ist diese absolut umfassende Abhängigkeit der Kinder, die soviel Verantwortung bedeutet... Und man hofft, daß die Verletzungen, die man den Kindern ungewollt/unbedacht, wie auch immer, zufügt (letztendlich weiß man ja nicht, was hängenbleibt...), später nicht zu so einer "Abrechnung" führen, wie du sie in deinem Gedicht beschreibst. Der Mama-Super-GAU! Großes Kompliment ("... Nerz aus Mangel..." Wow!).

LG maria

Herby

Beitragvon Herby » 20.04.2006, 22:32

Hi Lisa,

aufrichtiges Kompliment für das Thema und die lyrische Umsetzung! Es gibt Texte, die liest und genießt man für kurze Zeit, es gibt Texte, über die denkt man eine Weile nach, liest sie noch das eine oder andere Mal und vergisst sie -- und es gibt solche, die liest man einmal und sie sind präsent, ohne sie auch nur einmal wiedergelesen zu haben. Dein Text gehört für mich zu der letzten Kategorie! Dein Text wühlt einiges auf in mir!!

LG Herby

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 20.04.2006, 23:17

Hallo Lisa

Ich bin zutiefst beeindruckt. Ein Gedicht über ein sehr schwieriges Thema bravourös umgesetzt. Das Bild eines Nerz aus Mangel ist gelungen hoch zehn.

Einen kleinen Änderungsvorschlag hätte ich schon. "Jeden Namen hättest du tragen können" statt "alle Namen" hätte ich, wie du es auch im Titel schreibst, bevorzugt. Aber das ist nur mein Sprachgefühl...

Den Titel hätte ich gerne in der Anthologie. Aber jemand anderes muß ihn sich wünschen :smile:


Jürgen

Cornelia

Beitragvon Cornelia » 21.04.2006, 08:41

Liebe Lisa,

Lyrik soll in schönen Bildern anderen Menschen den Spielraum lassen, ihre Gefühle wiederzufinden.
Ich würde es gerne in der Anthologie sehen, Gurke

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 21.04.2006, 08:44

Merci Cornelia :grin:


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