paper planes

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 27.06.2010, 10:09

/der erste versuch, bilder zu schreiben/

ich bin nicht ich
löffle die suppe neben meinen mund
sprechen sich worte gesenkten hauptes
geh ich durch die türen die mein leben rahmen bislang
sind sie geöffnet

/der zweite versuch, worte aus der vergangenheit brechen/

ich bin nicht ich
werde scardanelli wie einer zuvor
rede ich in flüssen liest man
was ich zu sagen weiß

/bruchlandungen/

der raps ist tausend hände weit
und kann sich nicht zum greifen zwingen

meine finger haben keine farbe
und wissen nicht zu blühen

meine augen sehen wind

ich bin nicht ich
Zuletzt geändert von allerleirauh am 01.07.2010, 12:20, insgesamt 1-mal geändert.

Niko

Beitragvon Niko » 27.06.2010, 10:52

hallo allerleirauh!
wir sind uns wohl nocht nicht so recht begegnet, nur in kommentaren. und so also hier ein "herzlich willkommen"!

diesen text finde ich toll! ein prozess von einem versuch, bilder zu schreiben (nicht zu BEschreiben), worte aus der vergangenheit brechen (und nicht etwa mit worten der vergangenheit brechen) bis hin zu bruchlandungen. ein roter faden, der sich duch das gesamte webt und mit goldfädrigen guten und reichen bildern "schmückt"
"der raps ist tausend hände weit" gefällt mir hier über die maßen. scardanelli finde ich auf besondere art genial, weil es zum einen - was ich nachgooglen musste - mich lehrt, dass hölderlin zeitweise als scardanelli schrieb. zum anderen aber eine art selbstverleugnung, oder sich selbst nicht zulassen könen, wollen, dürfen......
"meine finger haben keine farbe und wissen nicht zu blühen" - "meine augen sehen wind" - ach.....ich könnte eigentlich alles zitieren! das ist ein absolut starkes gedicht. ich weide mich dran und nach mehrfachem lesen werde ich es jetzt erstmal mehrfach erneut lesen.
ich sach nur: bereicherung!

liebe grüße: Niko, begeistert (nur der titel....)

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leonie
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Beitragvon leonie » 27.06.2010, 12:34

Liebe/r allerleirauh,

ich bin fasziniert von Deinem Gedicht, für mich wirkt es, als beschreibe es "Stationen" einer auseinanderfallenden Identität, die versucht, sich durch Worte zu retten/zu finden. Wobei offensichtlich der Blick anderer auf das Ich eine andere Wahrnehmung haben, als das Ich selbst. Das ist sehr schillernd, finde ich, wie du mit den Bildern spielst, besonders im letzten Teil fängt es mich vollkommen ein.
Das einzige, worüber ich stolpere, ist der Titel. Warum englisch?

Wunderbar gemacht!

Liebe Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 27.06.2010, 12:46

Liebe(r,s) Allerlei,

ich kann Nikos Begeisterung für den Text verstehen. Was ihn in meinen Augen stark macht, stark selbst gegenüber anderen starken Texten ist eine Harmonie zwischen einer sehr präzisen, ausdrucksstarken sprachlichen Ebene und einem Inhalt, der über ein "ach wie schön ist so ein Sommerabend" weit hinausgeht.

Zentrales Thema des Gedichts ist der (in meinen Augen berechtigte) Zweifel des lyr. Ichs an der Identität.

ich bin nicht ich


Das äußert sich in einem neben sich stehen, das mehrfach bildhaft beschrieben wird - wobei diese Strophe noch die am wenigsten kräftige scheint -

sprechen sich worte gesenkten hauptes


hätte mir genügt, die resltlichen Bilder weisen mich mit Macht darauf hin, was denn gemeint ist.
Es äußert sich auch in einer direkten Spaltung des lyr. Ichs - wobei direkt Bezug auf Hölderlin genommen wird. Hier könnte ich mir vorstellen, dass man auch (schon wegen des historischen Bezugs) direkte Zweifel an der Idenität des Ich mit dem vergangegen Ich einstreut (dazu habe ich mal, ällt mir gerade ein, vor Jahren, eine Art Gegenpol eingenommen ... müsste ich aber mal raussuchen).

Dieses Uneinsgefühl mit sich äußert sich in einer Bruchlandung, der lustigerweise auch die Idenität mit einer Bruchlandung fehlt. Viel mehr stellt sich bei mir das Gefühl ein: So möchte ich auch mal landen. Die Hände des lyr. Ich, farblos, greifend, sind eine Art Negativ des Rapses, gelb, nicht greifend.

Hier wird auch die Übeschrift aufgegriffen - allerdings geht die für mich weiter. Der ganze Text ist für mich nicht sehr kompakt, was thematisch gut passt und als ich nach einem Ausdruck dafür suchte, kam mir "papiern" in den Sinn - wie ein Papierballon oder eben eine Papierflieger.

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 27.06.2010, 12:47

PS: Leonie, vielleicht ist der Titel wegen der Alliteration Englisch ...

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.06.2010, 14:45

Erst einmal willkommen im Blauen Salon, allerleirauh!

Einen sehr bildreichen Einstiegstext hast du hier eingestellt.
Vieles wurde bereits angesprochen.
Was mir vor allem gefällt, sind die Enjambements, die sich mir gut einfügen und zum zweiten, wie du die Nicht-Identifikation des LIs hier durchkomponiert hast.
Sehr gut finde ich, dass du bei den drei "Prozessen" nur bei den ersten beiden Strophen mit "der erste Versuch", dann "der zweite Versuch" und die 3. Strophe eben nicht! mit "der dritte Versuch" beginnst, sondern, für mich ganz folgerichtig, direkt mit "bruchlandungen".

Zum Titel: mich stört der englische Titel hier auch ein bisschen. Warum nicht in deutsch: "Papierflieger". Das würde m.E. ebensogut passen.

Saludos
Gabriella

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 27.06.2010, 16:26

vielen dank für die vielen rückmeldungen.
es freut mich, dass "paper planes" anklang findet.

toms "rückfahrt mit der U79" hat mich zum einstellen animiert, denn "paper planes" ist ein die-worte-kehren-zurück-text. der versuch, sich über die sprache zurückzufinden.

wenn leonie anmerkt, dass das gedicht beschreibt, wie eine identität sich versucht mit worten zu retten, dann hat sie völlig recht.

zum titel: er soll den versuchscharakter des prozesses unterstreichen (fliegt er - oder fliegt er nicht?), auch den ungewissen ausgang. das behelfsmäßige, wenn man so will.

der englische begriff ist mit näher als der deutsche, ich kann das schlecht begründen.

allerleirauh

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 28.06.2010, 09:47

Hallo allerleirauh,

willkommen im Salon (schöner Name, eines meiner Lieblingsmärchen :)

Auch mich spricht dein Gedicht sehr an, sowohl thematisch, als auch sprachlich. Was ich spannend finde, dass ich einerseits zu verstehen meine, auch Aspekte aus anderen Gesprächen, Texten wiedererkenne, andererseits dann aber wieder Wendungen und Bilder auftauchen, die ich so nicht erwarten würde und auch noch nicht endgültig für mich auflösen kann, wodurch sich immer neue Ansätze und mögliche Leseweisen eröffnen, ohne dass aber das Gefühl entsteht, es sei beliebig, sondern eher als fasse es etwas Weiteres.

Etwas störend empfinde ich die Zeile "ich bin nicht ich". Da bin ich schon sehr geneigt einfach zu sagen: doch! .-), was natürlich an diesem "bin" liegt. Mag sein, dass das von dir sogar so angelegt ist, dass sich dieser Widerspruch regt, ich empfinde es zwischen den anderen sehr feinen und greifenden, tragenden Zeilen jedoch als zu sehr auf den Effekt hin reduziert, oder dann auch zu lamentierend in der Wiederholung. Ich würde mir da entweder einen Aspekt hinzuwünschen, oder lieber wäre es mir wohl noch ganz ohne diese Erklärung auf die Bilder zu vertrauen.

Das Gedicht lässt einen jedenfalls nicht so schnell wieder los und ich stelle fest, dass es für mich zwischen den Zeilen auch ein hoffnungsvolles Gedicht ist, in aller Zweifelhaftigkeit, weil es mit einem Reichtum von einem Fehlen spricht und darin eine Möglichkeit aufscheint.

nur meine augen sehen wind
Das "nur" scheint mir schon sehr viel zu sein.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 28.06.2010, 20:18

Willkommen allerleirauh (auch ich liebe das Märchen!)

und diesen deinen Text übrigens auch.

Ich will ihn jetzt nicht analysieren, wollte aber wenigstens sagen, wie gut er mir gefällt.

Liebe Grüße
ELsa
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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 01.07.2010, 12:21

danke elsa, danke flora.

ich werde das NUR aus meinem text entfernen. (muss ich die änderung kenntlich machen?)

allerleirauh

Max

Beitragvon Max » 02.07.2010, 09:46

Ich glaube beider einfachen, chirurgischen Entfernung eines "nur" ohne Narbenbildung reicht es, wenn der interessiert Leser das hier nachlesen kann ;-)

Beste Grüße,
mäx

african queen

Beitragvon african queen » 04.07.2010, 18:19

hallo allerleirauh,
die Bilder, die du mit Worten malst, gefallen mir auch sehr gut.
zu Worten zurückfinden, nach Sprachlosigkeit, haben besondere
Bedeutung, Worte mit Inhalten füllen, die nachvollziehbar werden.
lg
african queen


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