Wasserspeier

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.09.2010, 16:54

Wasserspeier


Mit schrundigen Mäulern
und Krötenblick
stieren die löwengelockten
Hundefratzen
zum Boden der Welt,
starren versteckt
aus dem steinernen Flechtwerk
und spülen und sabbern
den himmlischen Schwall
aus den Traufen.

He ihr Gargylen,
seid ihr das Böse,
das glotzend und geifernd
die Menschen höllenwärts treibt,
mit giftigen Wassern
sie schändlich berieselt
und trostlose Sporen
auf sie regnet
und sie am Ende
gackernd verlacht?

Oder seid ihr
die starken Wächter,
der Heiligen
treue Menagerie,
die teuflischen Mächten
mutig den Spiegel hält
und sie mit geilem
Wassergelächter
und reinlichen Dreifingerklauen
täuscht und verwirrt?

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.09.2010, 16:55

Hier jetzt ein "pralles" Beispiel! :-)

Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.09.2010, 18:27

Hallo, Amanita, ein ausdrucksstarker Text über die merkwürdigen Wesen, die insbesondere an gotischen Kathedralen das Wasser vom Gemäuer fernhalten (heute sind sie stillgelegt, ich habe noch nie einen "speien" sehen). Du hast ihre Doppelgesichtigkeit gut herausgebracht, verharrst dabei freilich in einer Art von kunsthistorischem Kontext, mir fehlt eine Annäherung an mich oder Dich, die mir diese spätmittelalterliche Erfindung näherrückt. So bleibt es Nachdenken über ein Detail aus "Der Glöckner von Notre Dame" - interessant, aber auch fern wie die zentralen Begriffe des "Bösen" und der "Heiligen".
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 03.09.2010, 20:49

Hallo Amanita!

Das gefällt mir ziemlich gut :-) Ein ganz leises Unbehagen ist dan, aber nicht wegen der Menge der Ergänzungen, sondern wegen der etwas meschanischen Art, mit der sie vor ihr Bezugswort treten... Aber das ist nichts wirklich störendes.

Ferdigruß :-)
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.09.2010, 21:19

Hallo Ferdi, (etwas) mechanisch darf es ruhig rüberkommen, die Viecher sind schließlich Konstrukte, auch wenn sie so großmäulig, erschröcklich und beinahe lebensecht an ihren Kathedralen kleben!

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 03.09.2010, 22:13

Hallo, Amanita,

auch ich habe erst vor den vielen Adjektiven zurückgeschreckt, fand aber dann doch, dass es sich flüssig (ganz wie das Wasser aus den Speiern) und schlüssig liest. Ich kann die löwengelockten breitmäuligen Hundchen gut vor mir sehen und da du sie direkt ansprichst ("He ... seid ihr"), ist mir der Text lebendig genug.

Vielleicht würde der Text mit weniger Umbrüchen noch einladender zu Lesen sein - und einige "und"s könnte man auch ersatzlos streichen:

Mit schrundigen Mäulern und Krötenblick
stieren die löwengelockten Hundefratzen
zum Boden der Welt,

starren versteckt
aus dem steinernen Flechtwerk

spülen und sabbern
den himmlischen Schwall
aus den Traufen.



Viele Grüße
fenestra

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.09.2010, 22:24

Die Unds sind schon bewusst gesetzt: Das und-und-und gluckert wie das Wasser aus der Regenrinne.

Auch von der Dreiteilung des Textes würde ich mich ungern verabschieden.

Niko

Beitragvon Niko » 04.09.2010, 09:31

hallo amanita...
...und "herzlich willkommen" auch von mir!

mir gefällt die art der beschreibung der mittelalterlichen wasserspeier, die an kirchen, aber auch an schlössern und anderen gebäuden zu finden sind. die sprache ist hier gut gewählt: gewaltig, etwas dämonisch. und etwas fremd - wie auch die speier heute etwas fremdartig anmuten.mich persönlich stören in diesem wie zeitversetzt wirkenden text (vom vokabular her) worte wie "geilem", "he". ohne diese beiden worte wäre es mir autentischer.

liebe grüße: niko

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 04.09.2010, 11:10

Die Sprache finde ich schon dufte irgendwie für dieses Thema, sie ist phantasievoll und bildreich, und gerade so ein Wort wie 'geil' finde ich ganz wichtig (weil das Laszive, das Frivole, das Sabbernde Begleiter des Dämonischen sind), um aus dem Schön-Theatralischen auszubrechen.

Was mir fehlt ist - wie bei 'Herbstbeginn' - dass sich rhythmisch etwas bewegt, ein Spannungsbogen entsteht, sich Verdichtung und Leere gegenüberstehen, kurz: Die Komposition.

Nach der dritten Strophe ist der Text für mich nicht zu Ende, zumal er mit einer Frage endet. Da dürstets mich nach einer Überraschung, einem Wandel, einer Antwort (von einem anderen Sprecher? von den Speiern?) oder Ähnlichem ... meinetwegen (beispielhaft) ein Appendix:

Ich gehe weiter
und hinter mir das Kichern.


Oder so. Oder anders.

Das Thema, den Ansatz und die Wahrnehmung finde ich jedenfalls klasse.

LieGrü
Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Max

Beitragvon Max » 06.09.2010, 20:41

Liebe Amanita,

herzlich willkommen auch von mir.
Mein erster Eindruck über diesen Text (allerdings zugegebenermaßüen erst nach zweimal lesen): Hier schreibt jemand, der mit der Sprache auf du-und-du ist ... mir gefällt die Auswahl der Adjektive, auch wenn es eine ganze Menge sind. Vielleicht hätte ich ganz gerne noch ein bisschen mehr Leichtigkeit in der letzten Strophe ... aber schließlich ist es Dein gedicht ;-)

Liebe Grüße
Max

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 06.09.2010, 21:35

Vielen Dank.

@Thomas: Ich weiß nicht, ob das in der Lyrik auch so heißt, aber ich wollte gern eine Dichotomie - also Fragezeichen an beiden Enden ohne Vermittelndes.


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