Wartberg

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
carl
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Beitragvon carl » 23.04.2006, 19:36

wie denn licht auflesen
aus laub vom letzten jahr

ohne augen

und erste tropfen lecken
aus dem gesicht des windes

ohne mund?

dich nicht auffangen können
wildgängerin unterm siegel...

aus deiner drillings-eiche
die sonne versiegelt sehen

vom sturm

der so lang mich jagt dass ich
aufgebe – gelehnt an ihn

alte liebende

die augen geschlossen
und auf den lippen salz.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 24.04.2006, 14:33

Hallo carl,

Obwohl mir das Gedicht zu großen Teilen ein Geheimnis bleibt, finde ich es ungemein stark und es hat mich berührt. Du verwendest ungemein treffende Bilder, ich könnte fast das ganze Gedicht zitieren, wollte ich sie aufzeigen :grin:

Allein diese Zeilen hier finde ich als Satz wieder umstellungswert:

der so lang mich jagt dass ich
aufgebe – gelehnt an ihn


Vielleicht:

Der mich (schon) so lange jagt
dass ich aufgebe - an ihn gelehnt.

Interpretieren möchte ich erst einmal nichts, manchmal sind mir Geheimnisse kleine Schätze, wie ein Buch, das man auch niemals wieder das erste Mal auslesen kann.

Gast

Beitragvon Gast » 25.04.2006, 12:06

Toll, lieber carl, sicher verdient dein gedicht mehr, als nur ein Toll, kommt später.

Liebe Grüße
Gerda

Gast

Beitragvon Gast » 25.04.2006, 16:20

Ich möchte nicht unbedingt eine Erläuterung geben, wie ich das Gedicht verstehe. Die von dir geschaffenen Bilder gefallen mir außerordentlich gut,
wie denn licht auflesen
aus laub vom letzten jahr

das ist wunderschöne Poesie...
Naturgewalt/Liebe/ =Liebe=Naturgewalt... vielleicht auch im Alter
Allerdings passt zum "lecken" nicht Mund, sondern "Zunge". Was die Drillingseiche angeht, kann ich mir vorstellen, dass sie der Treffpunkt des jungen Liebepaares war...
Ob Drillingseichen darüber hinaus Bedeutung (als Symbol) haben, weiß ich nicht.
Das Wort selbst stört mich vom Klang...

Liebe Grüße
Gerda

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leonie
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Beitragvon leonie » 25.04.2006, 17:31

Lieber Carl,

wunderschön, etwas wehmütig, für viele Assoziationen offen, ich lehnte mich ein Weilchen an den Sturm und geriet ins Träumen.

Danke

Leonie

carl
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Beitragvon carl » 25.04.2006, 20:29

Hallo,

ich danke euch sehr für eure Kommentare!

An Lisa: Du hast den ursprünglichen Zeilenbruch getroffen, den ich auch hatte. Ich habe mich aber spontan umentschieden: der Zeilenumbruch als Atemholen und Einverständnis.
„aufgebe – gelehnt...“

Die "Geheimnisse" hat Gerda mit tiefgehenden Blick gesehen (bis zum Alter ;-)):
Im Vorfrühling (nix zu sehen, nur abgelebte Blätter) an einem durch die Begegnung besonders geprägten Ort (Wartberg, Drillingseiche) sieht das lyrische Ich einen Sturm aufziehen und versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Zu spät.

Die „Drillingseiche“, Gerda, entspringt dem konkreten Erleben und ist an sich nicht poetisch. Heutzutage bis zur Unverständlichkeit üblich (Mayröcker), hat aber eine symbolische Bedeutung: zwei durch ein Drittes verbunden...
Die ersten beiden Strophen korrespondieren mit der letzten:
ohne augen/ die augen geschlossen
ohne mund/ auf den Lippen salz
Dass die Worte aufhören, hat für mich eher mit einem versiegelten Mund zu tun als mit der Zunge. Die führt hier vielleicht zu tief ins konkret Sinnliche?

Und, Leonie, dass Du (mit-) erleben kannst, was an Leben eingegangen ist, tröstet mich etwas über diese Sprachlosigkeit hinweg!

Liebe Grüße, Carl

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 27.04.2006, 12:05

hallo carl,

ja, dann habe ich die Gheimnisse ein bisschen lesen können, die der Text birgt. Ich dachte nur, ich müsste noch nach etwas ganz anderem suchen und das kam durch diese Zeilen:

dich nicht auffangen können
wildgängerin unterm siegel...


Die sind mir immer noch ein (schönes) Rätsel und deuten für mich eine weitere Ebene an. Oder wie sind sie zu verstehen?

Die Drillingseiche stört mich übrigens überhaupt nicht, ich mag das Wort und das (konkrete) Bild. Ich finde allerdings, dass sie Düsternis zaubert. Ob das gewollt ist, musst du selbst entscheiden.

Louisa

Beitragvon Louisa » 27.04.2006, 16:54

Hallo carl.

ich kann mich nur anschließen. Das letzte Zitat von Lisa kann ich auch noch nicht entschlüsseln, es gefällt mir aber. So geht es mir eigentlich mit deinem gesamten Text O:) .

Ich habe Ahnungen, die sich auch teilweise bestätigen, aber mir gefällt diese verschleierte Sprache hier sehr gut. Auch das Salz, ich würde es stehen lassen. Alle sinnlichen Eindrücke machen ein Gedicht lebendiger, glaube ich.

Schön (Dein Text).

Liebe Grüße, louisa

carl
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Beitragvon carl » 27.04.2006, 18:11

Hallo Lisa, hallo Louisa!

Ihr kennt das ja: ein "warum" oder "was bedeutet" lässt sich nicht restlos aufklären...
Manchmal ist eine Begegnung zu groß um sie aufzufassen und eine Person lässt sich sowieso nicht aufzufangen, vor allem keine "Widgängerin".

"An den langen Tischen der Zeit zechen die Krüge Gottes... Sie führen das Volle zum Mund wie das Leere, und schäumen nicht über, wie du oder ich." (gekürzt Celan, hoffentlich rotiert er jetzt nicht im Grab)

Liebe Grüße, Carl

Perry

Beitragvon Perry » 28.04.2006, 13:43

Hallo Carl,
ein außergewöhnliches Gedicht in Sprache und Bildwahl, das einen aussagekräftigeren Titel verdient hätte.
Bei der Ausführung ist mir aufgefallen, dass man durch das Weglassen des „auf“ bei auffangen eine bessere Verbindung zur Wildgängerin herstellen könnte. Auch die Wiederholung von „siegel“ und „versiegelt“ (gewollt?) empfinde ich störend.
Bei „gelehnt an ihn“ fehlt mir der Bezug, außer du meinst den Sturm und an den kann man sich nicht an sondern höchsten gegen lehnen.

Würde mich freuen, wenn ich dir ein paar Anregungen zu deinem ansonsten gelungen Text geben könnte.
LG
Manfred

carl
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Beitragvon carl » 28.04.2006, 17:55

Hallo Manfred,

Dank für Deine Rückmeldung!
"Manchmal ist eine Begegnung zu groß um sie aufzufassen", deshalb auffangen und nicht (ein-)fangen...
Und, ja, sich an den Wind lehnen, wenn man die Flucht vor ihm aufgibt.

Liebe Grüße, Carl

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2006, 11:14

Lieber Carl,

"sich an den Wind lehnen" finde ich einfach wunderbar ausgedrückt. Mache ich auch manchmal, oft ist es eine versöhnliche Geste.

Für mich einer der "Texte des Monats"

Liebe Grüße

leonie

lichelzauch

Beitragvon lichelzauch » 08.12.2006, 19:57

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Gast

Beitragvon Gast » 09.12.2006, 02:49

Schön, diesen Text hier wieder zu lesen, lieber Carl, bestimmt einer deiner ersten hier überhaupt.
(In deinem neuestenText im Salon: "Vergangenheitsbewältigung": Eichen.
Hier die Drillingseiche... Ich kann es so stehen lassen.
... oder eine Bewandtnis vermuten... vielleicht.)

Liebe Grüße
Gerda


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