Selbstportrait

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 29.10.2010, 15:34

Selbstportrait

In der Hand eine leere Landkarte
mein Ideenglas am Rucksack
wandere ich über Wortreste
stapfe und wate durch gefühlige Plörre
trinke am Sprachfluss
verwerfe Embryonengedanken
entdecke Bitterstoffschlieren an meinem Becher
suche das süße Glück
das niemals süß schmecken will
und hauche und hauche
Bilder ins Glas

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.11.2010, 14:57

Hallo Amanita,

für mein Gefühl wird hier (vor allem durch die Komposita) zu viel explizit benannt. Mir bleibt gar kein Raum, um zu schauen und zu entdecken, genau das, von was das Gedicht am Ende sprechen möchte, dass da Bilder gehaucht werden, geschieht für mich nicht. Das Hauchen nehme ich dem Gedicht daher auch nicht ab, dieses Zarte, Abwartende, Beobachtende. Da wird gehandelt, nach vorne gegangen, bestimmt, geurteilt, festgeschrieben. Sogar Embryonen werden hier verworfen... da würde ich überlegen, ob das in dieser Drastik als Teil des Portraits so gewollt ist? Ich sehe das LIch hier eher Bilder vors (Fern)Glas werfen.
Das "Bild" selbst scheint für mich Gerüst zu sein, Mittel zum Zweck, was schade ist, denn es hätte für mich eine schöne Kraft. Gerade das Spiel mit einem Fernglas und Bildern, die man selbst davor wirft, bzw. wenn es auch sprachlich im Text aufgehoben wäre, aufs? Glas haucht.
suche das süße Glück
das niemals süß schmecken will
Sucht LIch wirklich das Glück, das niemals süß schmecken will? Warum? Das scheint mir etwas schief zu sein?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 02.11.2010, 22:51

Davon hab' ich jetzt nur die Hälfte verstanden. Was ist zu "explizit benannt"?

Niko

Beitragvon Niko » 03.11.2010, 16:06

also amanita,

da triffst du bei mir voll ins schwarze. ich mag dieses selbstportrait! ich finde auch nicht, dass du dem anspruch eines hauchens gerecht werden musst. das will der text doch garnicht. ebenso könnte ich schreiben, dass der text dem wandern aber nun gar nicht gerecht wird... "hauche und hauche" ist eine kleine sequenz, ein puzzleteil des gesamtbildnisses, dass du von dir, oder dem lyrich zeichnest.


In der Hand eine leere Landkarte
mein Ideenglas am Rucksack
wandere ich über Wortreste


ein ganz klar nicht klar gezeichnetes bild für mich. aber eines, das durch die gute metaphorik hinweist. eine landkarte. für mich synonym für die lebenswege. wortreste lässt mich daran denken, dass was übergeblieben ist an wahrheiten, floskeln, an dem, was gesagt und vielleicht auch ungesagt ist. die reste sehe ich hier mehr als konzentrat. das ideenglas am rucksack - rucksack ist das, was man mit sich schleppt. und hier bedeutet es mir das hab und gut an gemachten erfahrungen. sowohl der guten als auch der schlechten. sie machen das aus uns, was wir sind. und sie bestimmen die sicht in die zukunft (ich sehe das ideenglas nicht als gefäß sondern als abwandliung des fernglases.

stapfe und wate durch gefühlige Plörre
trinke am Sprachfluss
verwerfe Embryonengedanken


diese stelle alleine ist es, die mir zu dick aufrträgt. mag ich das (immer unbeholfen assoziierte bei mir) stapfen noch akzeptieren, so ist mir die "gefühlige plörre" dann zu dicke. und dem sonstigen duktus des gedichtes - für mich - nicht angemessen, weil zu platt? zu vulgär? irgendsowas. beim sprachfluss wird mir das genze dann wieder geschmeidiger, wobei ich sagen muss, dass der begriff sprachfluss nicht die beste wahl ist. aber nu. nicht jedes wort muss / kann ein brüller sein. die embryonengedanken gefallen mir wieder. gedanken beim wachsenden entstehen quasi wieder verwerfen.

entdecke Bitterstoffschlieren an meinem Becher
suche das süße Glück
das niemals süß schmecken will
und hauche und hauche
Bilder ins Glas

na...meinst vielleicht doch eher ein gefäß und nicht den feldstecher. hm.... das süße glück suchen, das niemals süß schmecken will......das find ich sehr gut gewählt. wir suchen das glück. und finden wir es, egal ob klein oder groß, so ist dann doch immer irgendetwas nicht richtig. irgendetwas hätte besser sein können. oder schlimmer noch: man erkennt es nicht einmal als glück. manchmal wird man von glück überhäuft, schüttelt es aber ab, weil man denkt, es steht einem nicht zu. man genießt es nicht.

ich finde dieses selbstportrait sehr gut!

liebe grüße: niko

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 03.11.2010, 16:23

Niko, Du hast es absolut richtig "gelesen", womit ich nicht meine, jedes Detail aufdröseln zu müssen, aber die Gesamtaussage entspricht meiner Intention.
Es geht um Schaffensprozesse, aber auch um das Leben allgemein (heißt: ich will das künstlerische Tun nur ansprechen, nicht eindeutig in den Mittelpunkt stellen).
Vielleicht ist die gefühlige Plörre zu heftig, allerdings reagiere ich mit dieser Umschreibung auf dieses ewige "Gefüüüühl", das landläufig sowohl mit Malerei als auch mit Lyrik hopplahopp assoziiert wird. Ich kann das Wort einfach nicht mehr hören/ lesen. Natürlich geht es immer auch um Emotionen, aber mir ginge es um Verknüpfungen von Emotionen untereinander oder mit was anderem, jedenfalls nicht ums schiere Auskotzen - oder Auskosten - von Gefühlen.
Embryonengedanken sind keine Embryonen (@Flora), obwohl es mitunter wirklich heißt "Embryonen verwerfen" (bei "zu vielen" - künstlich - befruchteten Eiern; toll ausgedrückt, fand ich gleich ... grusel).
Und von einem FERNglas war nie die Rede. Ob es ein reines Trinkglas ist, weiß ich gar nicht, aber eins, mit dem ich "schöpfen" kann, Wasser aus einem Brunnen beispielsweise, oder in das es Inspiration regnet (kommt ja auch mal vor - es lebe die gute Assoziation ...). Aber es kann eben auch leer sein. Daher hauche ich am Ende selbst rein. Ob das was bringt, lasse ich offen - aber künstlerische Tätigkeit kann ja auch Erarbeiten sein, vielleicht Erarbeiten und Experiment (schauen, was aus den gehauchten Bildern rauskommt).

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.11.2010, 12:39

Hallo Amanita,

Davon hab' ich jetzt nur die Hälfte verstanden. Was ist zu "explizit benannt"?
Ideen, Worte, gefühlig, Sprache, Gedanken, Glück... das Gedicht scheint diese "Erklärungen" zu benötigen, ich finde es fast immer stärker, wenn Bilder im gewählten Kontext (hier Wanderung, Landschaft...) gefunden werden, die diese Deutung dann in sich tragen können.
Wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe, ist mit dem Ideenglas der Becher gemeint? Zum einen würde ich auf einer Wanderung kein Trinkglas an meinen Rucksack hängen, sondern eher ein Fernglas und zum anderen ist ein Becher für mich nicht aus Glas. Das finde ich etwas schwierig das dann so zu lesen.
Embryonengedanken sind keine Embryonen (@Flora),
Dass es sich nicht um Embryonen handelt ist schon klar, .-) aber wenn daraus kein Bild und damit verknüpft auch eine Vorstellung entstehen soll, warum benennst du sie dann so? Warum nicht etwas, das aus der Landschaft, Natur, der Szene heraus stimmig wäre?
Und ich denke noch immer, dass LIch nicht das Glück sucht, das nicht süß schmeckt, sondern das Glück, das süß schmeckt. Ich kann mir das auch wie Niko denken, wie es wohl gemeint ist, sprachlich finde ich es trotzdem unglücklich gelöst. Wobei sich das für mich auch ein wenig beißt, dass LIch das Süße sucht, aber verächtlich durch die gefühlige Plörre watet. Plörre meint doch auch etwas süßliches, oder?
Niko hat geschrieben:ich finde auch nicht, dass du dem anspruch eines hauchens gerecht werden musst. das will der text doch garnicht. ebenso könnte ich schreiben, dass der text dem wandern aber nun gar nicht gerecht wird... "hauche und hauche" ist eine kleine sequenz, ein puzzleteil des gesamtbildnisses, dass du von dir, oder dem lyrich zeichnest.
Für mich will der Text schon zum Hauchen, da er darauf ja zuläuft. Für mich zeigt sich aber durch die Entwicklung und Sprache im Text kein hauchendes LIch, es bleibt eine Behauptung. Und ja, für mich ist es tatsächlich auch ein Kritikpunkt, dass der Text dem "Wandern", seinem Bild wenig gerecht wird, was ich einfach schade finde.

Ich hoffe, ich war diesmal etwas klarer. .-)

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 05.11.2010, 12:01

Flora, es ist doch gar nichts explizit "erklärt". Das zeigt doch schon die unterschiedliche Vorstellung vom Glas. Für mich war es eher ein Gefäß, aber es "darf" doch auch eine Lupe sein, das tut dem schöpferischen Prozess, der angesprochen wird, doch gar keinen Abbruch. Und warum das Hauchen stört, habe ich leider immer noch nicht verstanden; es gehört für mich zum Ganzen ...

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 05.11.2010, 12:32

Hallo Amanita!

Mir geht es im wesentlichen wie Flora. Dein Gedicht verteilt die Rollen gleich zu Anfang sehr deutlich: Der Text ist der Redende, Mitteilende, Aktive; der Leser ist der Schweigende, Aufnehmende, Passive. Anders gesagt, der Text doziert vom ersten Vers an und findet aus dieser Haltung auch nicht heraus. Das ist ja nun an sich nichts schlimmes, nur eben manchem Ohr unangenehm.

Ferdigruß!
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 05.11.2010, 17:07

Doziert?

Er erzählt oder beschreibt (mag sein, zu sehr)... aber er doziert doch nicht?

Niko

Beitragvon Niko » 06.11.2010, 00:44

nein, das tut er meinung nach überhaupt nicht, amanita! der text aktiv, der leser passiv......das kommt immer auf den leser an, finde ich. oder eben das, was der text einem individuum vermittelt. jeder denkt und empfindet anders. und nach meinem denken und empfinden ist der text ein ehrliches statement. mit genügend abstand zur situation an sich.

liebe grüße: niko


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