Stillstand

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 19.11.2010, 09:23

Es ist dieses seltsame aus der Zeit fallen
als gäbe es nur die Tage vor oder nach diesem einen Gedicht
Diesem Brief diesem Satz
Alles steht still
Die Gedanken stehen still
Die Sätze schweigen sich aus
Selbst die Gefühle halten still
Du schneidest mit dem Messer durch das Brötchen
rutscht ab und triffst das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger
Eine rote Spur entspringt
aber nichts bewegt sich
Der Schmerz steht still
Das Telefon steht still
Selbst deine Vorstellung steht still
Nur dieses Standbild
Du in der Küche das Messer in der Hand
Allein
Keine Kraft mehr dir Fragen zu stellen
geschweige denn Antworten zu finden
versuchst du dich einzurichten in genau dieser Unbestimmtheit
Dem Fließen der Zeit das durch den Stillstand fährt
wie das Messer in deine Hand

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 19.11.2010, 10:23

Interessante Thematik!

... das entspringt ist für mich eine (vielleicht gewollte?) Stolperstelle, erstens im Zusammenhang mit dem betonten Stillhalten, zweitens mit der Spur.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.11.2010, 14:39

Hallo Xanthi,

dein Gedicht gefällt mir ausgesprochen gut. Das Thema selbst und auch der Aufbau, mit welchen Bildern/Phasen du den Stillstand aufzeigst.
Einmal das aus der Zeit fallen nach dem Schreiben bis zu den stillstehenden Gefühlen, die du anhand des Messerschneidens anschaulich darstellst. Und dieses Messer bzw. die rote Spur zieht sich dann bis zum Schluss, der dann wieder einen guten Bogen zum Beginn darstellt.
Es liest sich auch sehr schön. Einzig "Das Telefon steht still" fällt für mich aus dem Rahmen, passt irgendwie nicht rein.
Ein Gedicht, das ich sicher noch oft lesen werde.

Saludos
Gabriella
P.S. Beim ersten Lesen dachte ich, dass das Wort "still" vielleicht zu oft vorkommt. Doch, nach wiederholtem Lesen, ist es für mich stimmig.

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 20.11.2010, 11:50

Guten Tag,

danke für eure Rückmeldungen. Es fällt mir ja bekanntermaßen immer schwer etwas zu meinen Gedichten zu sagen, aber ich glaube das entspringen, Amanita, mag ich schon sehr, und nehme da die Stolperstelle gerne in Kauf, denke auch, dass sie irgendwie Sinn macht dort. Na ja, ich kann das schlecht erklären, aber aus dem Stillstand erwächst ja so manches. So ein Stillstand ist doch oft viel gewaltiger und lebendiger als er erst einmal erscheint.
Ja Gabriella, mit dem Telefon hast du recht. Ich hatte da ein inzwischen anachronistisches Bild im Kopf, die alten Telefone (unseres war grau), die auf so einem kleinen Regal stehen und man starrt sie an und sie stehen ganz still, aber dann wenn sie wirklich zu läuten beginnen, weil man sie so lange angestarrt hat, beginnen sie sich zu bewegen, als würde der Hörer, der ganze Apparat erschüttert durch das Läuten, das ihn auf einmal durchfährt...

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noel
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Beitragvon noel » 20.11.2010, 13:13

ist das nicht eine redewendung
"das telefon steht still"
mir ist es keine stolperstelle...
ansonsten sehr intensiv
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

Mucki
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Beitragvon Mucki » 20.11.2010, 13:25

Hallo Xanthi,

"Eine rote Spur entspringt" gefällt mir gerade gut. Es ist die einzige Stelle im Text, die eine Art von Bewegung darstellt, sozusagen - gemäß der ersten Zeile - aus der Zeit fällt. Und doch fügt sich auch diese Spur wieder in die Stille, da "sich nichts bewegt". Für mich passt das sehr gut.

Saludos
Gabriella

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Eule
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Beitragvon Eule » 20.11.2010, 13:39

Hallo Xanthippe, dem Lob von Gabriella schließe ich mich gerne an, finde aber, dass der Text zu viele Längen enthält, z.B. in der 2. Zeile. Deshalb würde ich den Text strukturieren, z.B. so:


Es ist dieses seltsame aus der Zeit fallen als
gäbe es nur die Tage vor oder nach
diesem einen Gedicht diesem Brief diesem Satz

Alles steht still
Die Gedanken stehen still
Die Sätze schweigen sich aus
Selbst die Gefühle halten still

Du schneidest mit dem Messer durch das Brötchen
rutscht ab und triffst das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger

Eine rote Spur entspringt
aber nichts bewegt sich
Der Schmerz steht still
Das Telefon steht still
Selbst deine Vorstellung steht still

Nur dieses Standbild
Du in der Küche das Messer in der Hand
Allein

Keine Kraft mehr dir Fragen zu stellen
geschweige denn Antworten zu finden
versuchst du dich einzurichten in genau dieser Unbestimmtheit

Dem Fließen der Zeit das durch den Stillstand fährt
wie das Messer in deine Hand

Es ist dieses seltsame aus der Zeit fallen
als gäbe es nur die Tage vor oder nach diesem einen Gedicht
Diesem Brief diesem Satz

Alles steht still
Die Gedanken stehen still
Die Sätze schweigen sich aus
Selbst die Gefühle halten still

Du schneidest mit dem Messer durch das Brötchen
rutscht ab und triffst das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger
Eine rote Spur entspringt
aber nichts bewegt sich
Der Schmerz steht still
Das Telefon steht still
Selbst deine Vorstellung steht still
Nur dieses Standbild
Du in der Küche das Messer in der Hand
Allein

Keine Kraft mehr dir Fragen zu stellen
geschweige denn Antworten zu finden
versuchst du dich einzurichten in genau dieser Unbestimmtheit
Dem Fließen der Zeit das durch den Stillstand fährt
wie das Messer in deine Hand


Viele Grüße !
Ein Klang zum Sprachspiel.


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