Kulturhauptstadt

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 30.04.2006, 23:24

Essen, du Hure von einer Stadt,
Wie habe ich es gehasst, in
Dir zu wohnen.

Auf deiner Hindenburgallee hab'
Ich gekotzt und schlief in
Kalter Nacht auf einer
Bank in Relinghausen.

Kein Auge hab' ich zugemacht,
Wenn nachts auf der
Gemarkenstraße die letzten
Wagen rasten, und tags hörte
Ich mein eigenes Wort nicht,
Beim Dröhnen des Verkehrs.

Essen, du treulose Schlampe,
Deine schönsten Töchter habe ich
Geliebt, doch sie sind einfach
Fortgelaufen, nach Spanien,
In das heiße Land, wo
Stets die Sonne scheint.

Ich sah die Frauen, wie
Sie schwankend noch vom Heroin
Ihre Körper auf deine Straßen stellten,
Und Jungen, die zu
Männern sich ins Auto setzten
Für ein kleines bisschen Geld.
Willste Schore? Weiß oder braun?

Essen, du schaurige Metze,
Ich habe mich für dich geschämt,
Als ich mit dem alten Glaser
An Krupps Schreibtisch stand.
Dein reichster Sohn hat ihm die
Mutter und die Schwester, ja
Sein Volk gemordet.
Deine Straßen sind mit Blut geteert.
Zweimal hat dich der Krieg gemästet.

Und doch:
Wenn abends ich mit einer
Deiner Töchter am Wehr stand
Und die Sonne strahlte
Rot über den See, da war
Ich glücklich.

Hätt' ich nur einen Tag,
Den ich auf dieser Welt
Noch leben dürfte,
Ich lebte ihn in dir.

Du große Stadt, Heimat
Meiner Obdachlosigkeiten,
Zeugin meiner Einsamkeit.
Ich sehne mich nach deinen
Straßen, die ich kenne,
Und deinen Häusern, die
Mir Wohnung waren.

Du weißt, ich komme
Oft vorbei und laufe
Auf den alten Wegen.
Im Menschengewühl sucht
Mein Blick das liebe Gesicht,
Die eine altbekannte Gestalt.
Und riefe sie meinen
Namen, ich kehrte zu dir
Zurück und baute ihr ein
Haus am Schellenberger Wald.
Zuletzt geändert von Paul Ost am 02.05.2006, 21:02, insgesamt 2-mal geändert.

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 01.05.2006, 17:32

Hallo Paul

DAS ist mal ein Gedicht über Essen. Ich wohne direkt nebenan in Bochum und kriege das Getue zum Thema Kulturhauptstadt gnadenlos mit. Kultur herscht hier und dort in irgendwelchen sündteuren Schauspielhäusern, in die 80% der Essener nicht einen Fuss hineinsetzen. Für andere Kultur wwrden natürlich keine Gelder vorhanden sein. Dein Gedicht ist vielleicht biographisch gefärbt, nichts desto trotz hat es eine Allgemeingültigkeit in sich, die ich auch trotz anderer Straßennamen, in Bochum wiederfinden kann.

Allzu wahr ist:

"An Krupps Schreibtisch stand.
Dein reichster Sohn hat ihm die
Mutter und die Schwester, ja
Sein Volk gemordet.
Deine Straßen sind mit Blut geteert.
Zweimal hat dich der Krieg gemästet."

Dass die Töchter nach Spanien abhauen, ist mir trotz des Liebhabers doch allzu verständlich. Schließlich nervt der hunderste Vorfall von unkritischem Lokalpatriotismus im Radio mich dermaßen...

...dass ich nur Danke für das Gedicht sagen kann.

Jürgen

PS: Hat es was mit "Keinmal Nord" in der Textwerkstatt zu tun?

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 01.05.2006, 22:07

Hallo Gurke,

danke für die freundlichen Worte. Irgendwie haben wohl alle Gedichte, die ich schreibe, etwas miteinander zu tun.

Abgesehen von den natürlich vorhandenen biographischen Gedanken hatte ich noch das biblische Bild von der "Hure Babylon" im Kopf. Dieses Gedankenmaterial wandert dann durch die Texte.

Bochum hätte ich übrigens anders beschrieben. Essen ist eine Stadt, die von den Menschen verlassen wird, eine fremde Heimat. Neben Hagen ist Essen eine der Großstädte in Deutschland, die am schnellsten schrumpft. Bei Bochum scheint mir das ein wenig anders zu sein.

Allerdings traut sich bislang noch kein Bochum-Gedicht aus meinem Notizbuch in die freie Welt des Internets.

Grüße

Paul Ost

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leonie
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Beitragvon leonie » 01.05.2006, 22:31

Lieber Paul Ost,

das finde ich richtig gut. Starke Bilder: Der Krieg, der gemästet hat, Heimat meiner Obdachlosigkeiten, der eine Tag, den das lyrIch dort leben würde, um nur einige zu nennen. Auch die Ambivalenz zwischen Hass und Liebe kommt gut rüber.
Ich kenne Essen nicht, doch vor meinem inneren Auge entstanden sehr lebendige Bilder...
Selbstverständlich habe ich auch diesmal ein paar Kleinigkeiten zur Sprache anzumerken. Wegen der besseren Verständlichkeit habe ich Dir meine Vorschläge dazu in Klammern in den Text gesetzt.

Viele Grüße

leonie


Essen, du Hure (von einer Stadt),
Wie habe ich es gehasst, in
Dir zu wohnen.

Auf deiner Hindenburgallee hab'
Ich gekotzt und schlief in
Kalter Nacht auf einer
Bank in Relinghausen.

Kein Auge hab' ich zugemacht,
Wenn nachts auf der
Gemarkenstraße die letzten
Wagen rasten, und tags hörte
Ich mein eigenes Wort nicht(,)
Beim Dröhnen des Verkehrs.

Essen, du treulose Schlampe,
Deine schönsten Töchter habe ich
Geliebt, doch sie sind einfach
Fortgelaufen, nach Spanien,
In das (heiße) Land, wo
Stets die Sonne scheint.

Ich sah (die) Frauen, wie
Sie schwankend (noch) vom Heroin
Ihre Körper auf deine Straßen stellten,
Und (die) Jungen, wie sie zu
Männern sich ins Auto setzten (hier würde ich den Zeilenumbruch entweder wie oben machen oder „und Jungen, die schreiben)
Für ein kleines bisschen Geld.
Willste Schore? Weiß oder braun?

Essen, du schaurige Metze,
Ich habe mich für dich geschämt,
Als ich mit dem alten Glaser
An Krupps Schreibtisch stand.
Dein reichster Sohn hat ihm die
Mutter und die Schwester, ja
Sein Volk gemordet.
Deine Straßen sind mit Blut geteert.
Zweimal hat dich der Krieg gemästet.

Und doch:
Wenn abends ich mit einer
Deiner Töchter am Wehr stand
Und die Sonne strahlte
Rot über den See, da war
Ich glücklich.

Hätt' ich nur einen Tag,
Den ich auf dieser Welt
Noch leben dürfte,
Ich lebte ihn in dir.

Du große Stadt, Heimat
Meiner Obdachlosigkeiten
(Und) Zeugin meiner Einsamkeit.
Ich sehne mich nach deinen
Straßen, die ich kenne,
Un(d) deinen Häusern, die
Mir Wohnung waren.

Du weißt, ich komme
Oft vorbei und laufe
Auf den alten Wegen.
Im Menschengewühl(e) sucht
Mein Blick das liebe Gesicht,
Die eine altbekannte Gestalt.
Und riefe sie meinen
Namen, ich kehrte zu dir
Zurück und baute ihr ein
Haus am Schellenberger Wald.


P.S Antwortest Du eigentlich auf PNs?

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 02.05.2006, 14:23

Hallo Paul,

dieses Gedicht ist ganz nach meinem Geschmack (Essen). Mir gefällt die ganze Komposition. Auf ein Bochum-Gedicht wäre ich mehr als gespannt, da ich dort mein zweites Leben gelebt habe und durch das Studium immer noch regelmäßig dort bin. Ich habe diese Stadt unglaublich schätzen gelernt.


Die Wahl zum übernächsten Gedicht des Monats steht zwar noch aus, aber dieses Gedicht wird schon vermerkt!

Ich würde übrigens Menschengewühl statt Menschengewühle schreiben.

Lisa

Paul Ost

Beitragvon Paul Ost » 02.05.2006, 21:11

Hallo Leonie und Lisa,

Danke für die konstruktive Kritik. :smile: Einige Stellen habe ich nach euren Vorschlägen geändert.

Die erste Zeile möchte ich so stehen lassen. Es handelt sich dabei um eine idiomatische Ausdrucksweise, würde ich behaupten.

Was das Komma in der dritten Strophe angeht, bin ich unsicher. Ist es völlig falsch oder optional?

Meine Bochum-Gedichte, liebe Lisa, müssen noch ein wenig überarbeitet werden. Es geht um Epiphanien. Allerdings muss man bei Bochum aufpassen, dass man dem anderen Herby nicht in die Quere kommt.

Übrigens gibt es am 7. Mai im "Freibeuter" in Bochum einen Poetry Slam. Ich selbst habe so meine Berührungsängste, was solche Veranstaltungen angeht - man muss immer so lustig sein -, aber eigentlich ist das ein schöner Ansatz.

In diesem Sinne: Glück Auf!

Paul Ost

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Beitragvon leonie » 03.05.2006, 12:06

Hallo Paul Ost,

Nach den Regeln, die ich gelernt habe, müsste das Komma wegfallen. Aber wer will sich beim Dichten schon immer an Regeln halten?

Viele Grüße

leonie


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