Die Frucht der Weisheit

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Sam

Beitragvon Sam » 10.02.2012, 17:47

Die Frucht der Weisheit


Der Mönch Hu Tse Lue
betrachtete im Garten des Klosters
die reifen Äpfel an einem Baum
Und als diese nach einiger Zeit
schließlich abfielen
und am Boden verfaulten
kam ihm die Idee seinen Schülern
eine Lektion über die Vergänglichkeit
zu erteilen

Im folgenden Jahr
während die Äpfel wieder reif am Baum hingen
pflückte Hu Tse Lue einen besonders schönen
und legte ihn auf den
goldenen Schrein
vor der Statue des ewigen Buddha
wo ihn die Schüler jeden Tag
betrachten sollten

Als nach fünf Jahren
der Apfel noch immer
reif und saftig
auf dem goldenen Schrein lag
packten die Schüler Hu Tse Lue
führten ihn auf einen Felsvorsprung
und stießen ihn hinunter
um nun ihm eine Lektion
über die Vergänglichkeit zu erteilen

scarlett

Beitragvon scarlett » 10.02.2012, 21:38

lieber sam,

viel zu wenig bewandert in östlichen (?) lehren, kann ich doch sagen: was für eine treffliche parabel.

stimmt mich nachdenklich, ich erinnere mich an so manches konfuzius-zitat, das als aufsatzthema herhalten musste ...

nur eines ist dieses, dein werk, in meinen augen nicht - ein gedicht.

lg
monika

Mucki
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Beitragvon Mucki » 10.02.2012, 23:42

Hi Sam,

eine ziemlich heftige Parabel. Ich hätte mir die Lektion der Schüler - im Sinne des Buddhismus - etwas sanfter gewünscht.
Ansonsten meine auch ich, dass es Prosa ist, du den Text ruhig in Fließtext setzen kannst.

Liebe Grüße
Gabi

Gerda

Beitragvon Gerda » 11.02.2012, 08:27

Lieber Sam,

stilistisch sehr ausgewogen, bin ich dennoch nach dem Lesen enttäuscht von diesem Text.
Auf mich wirkt dieser nicht authentisch, obgleich ich, da schließe ich mich sarlett an, nicht mit östlicher (hier: Zen?) Lehre vertraut bin, ja kaum einen Schimmer habe, hört es sich für mich an, als habest nicht du geschrieben, sondern die Lehre eines anderen aufgenommen, um darüber zu schreiben.
Mir kommt die Geschichte vor, als hätte ich inhaltlich eine ganz ähnliche Parabel schon einmal gehört.
Mich stört auch die Klarheit der zu deutlischen Schlussfolgerung.
Die Härte an sich finde ich nicht ungewöhnlich in der östlichen Mythologie, so viel weiß ich dann doch. ;-)

Ja, und schon ist auch die Diskusssion darüber wieder da, was eigentlich ein Gedicht ist.
Auch bei diesem Punklt tendiere ich zu scarletts Meinung, dass es sich hier um eine Parabel, aber nicht um eine solche in Gedichtform handelt.

Welchem Zweck dient der Zeilenumbruch und die Strophenform?
Ich lese den Text im Zusammenhang.

Liebe Grüße
Gerda

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 11.02.2012, 10:08

Mit fernöstlichen Themen und Inhalten bin auch ich überhaupt nicht vertraut. Ich urteile aus dem Westen - und da fehlt mir irgendwie "das Böse". Also zumindest ein vorausgegangener Streit, der die Atmosphäre erhitzt oder vergiftet hat; der Lehrer könnte ein autoritärer, rechthaberischer Mensch sein; unter den Schülern könnte jemand sein, der nicht ins Kloster passt/ wollte.
So sehe ich überhaupt keinen Anlass dafür, dass die Schüler dermaßen brutal reagieren.

Dass der Text kein Gedicht ist, sehe ich auch so, ich finde es aber nicht schlimm. Ihn in Prosa umzuwandeln, dürfte einfach sein.

pjesma

Beitragvon pjesma » 11.02.2012, 10:25

...aber wozu sollte man das? die selbe frage umgekehrt, halt.

"Welchem Zweck dient der Zeilenumbruch und die Strophenform?" dient meistens nicht, aber entspricht, und zwar dem individuellem atemrhytmus des autors. so wie schreibmaschinenerkennungeinmaligkeit. manchmal reichen die kommas in einem schreibblock einfach nicht um gewünschtes zu betonen.

lg

Sam

Beitragvon Sam » 11.02.2012, 17:28

Hallo Zusammen,

vielen Dank fürs Lesen und eure Gedanken zu dem Text.

Ich sehe es als Gedicht, und auch nur so kann, glaube ich zumindest, die Ironie hinter dem Ganzen wahrgenommen werden. Brecht z.B. hat ja eine Menge solcher Dinger geschrieben, die tatsächlich der Belehrung dienen sollten.

Zudem wäre es in Prosaform einfach zu schnell zu lesen. Pjesma hat ja darauf hingewiesen.

Man könnte es auch so ausdrücken: durch die Gedichtform zeigt sich ein Gestus, der in der Prosa so nicht auszudrücken ist. Es sei denn, man nimmt audiovisuelle Hilfe in Anspruch.

Gruß

Sam

scarlett

Beitragvon scarlett » 11.02.2012, 19:18

lieber sam,

so ganz verstehe ich deine antwort nicht, tut mir leid und bitte um nachsicht.

wieso kann eine wie auch immer geartete ironie hinter deinem text nur in gedichtform zum tragen kommen?
by the way, ich sah bisher hier auch keine ironie, eine belehrung, ja, und das fügt sich wiederum gut in die reihe dieser texte aus der feder fernöstlicher meister. die meinten das aber ziemlich bierernst, meine ich mich zu erinnern und brecht genauso.

ich bin nun auch keine sooo dolle brecht-kennerin, deshalb meine zweite frage: hat brecht denn diese art von texten /ich denke da z. b. an die geschichten vom herrn keuner/ als lyrische gebilde formuliert?

das einzige, was ich nachvollziehen kann, ist, dass durch die zeilenumbrüche ein zu schnelles darüber hinweg lesen verhindert wird.
aber: sobald zeilenumbrüche da sind, erwarte ich als leser auch ein gedicht und bin etwas gefrustet, wenn dem dann nicht so ist.

versteh mich bitte nicht falsch, an dem text an sich hab ich überhaupt nix zu kritteln, nicht am inhalt, der ist so, wie er jetzt dasteht, für mich perfekt, mir fehlt da nix- nur das etikett, das etikett ist meines erachtens falsch, weil es etwas verspricht, was sich dann nicht erfüllt.

depperte? grüße,

monika

Sam

Beitragvon Sam » 12.02.2012, 17:45

Hallo Monika,

vielen Dank, dass du nochmal nachgefragt hast! Daran ist nichts deppert, noch sollte dir das leid tun.

Also ich bin auch kein Brecht-Kenner, aber ich habe vor längerer Zeit mal solche chinesischen Belehrungsgedichte von ihm gelesen. Dabei stellte ich mir die gleiche Frage wie du, warum denn in Gedichtform? Ich kam für mich zu dem Schluss (ohne es allerdings wirklich zu überprüfen), dass Brecht auch diese Literaturform instrumentalisieren wollte. (Sein frühen Gedichte sahen ja noch ganz anders aus.) Ohne mir Einzelheiten gemerkt zu haben, blieb mir doch nach dem Lesen dieser Gedichte so ein gewisser Geschmack auf der Zunge, der mir nicht besonders gefiel, eben wegen des belehrenden Duktus, der alles Poetische irgendwie erstickt.

Als mir die Idee kam, ein ironisches Gedicht über den Missbrauch subjektiver Erlebnisse zur Untermauerung angeblich allgemeingültiger Wahrheiten zu schreiben, dachte ich zunächst an etwas aus dem Mittelalter, kam dann aber schnell, bedingt durch die Lektüre eines Büchleins mit fernöstlichen Weisheiten, auf die hier dargestellte Schüler/Meister-Konstellation. Und da fiel mir dann auch Brecht wieder ein.

Ich habe es mir auch als Fliestext angeschaut, aber da wirkte der Text sehr ernst, und das wollte ich ja nicht. In Gedichtform aber, eben weil es mich an den ernsten Brecht erinnert, fand ich, dass es passt, weil, wie ich schon sagte, eine Feierlichkeit vorgetäuscht wird, die doch gar nicht vorhanden ist.

Womöglich stellt sich dieser Effekt aber nur bei mir ein, und ihr als Leser empfindet das ganz anders. Das muss ich dann natürlich akzeptieren.

Nochmals herzlichen Dank!

Liebe Grüße

Sven

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Zakkinen
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Beitragvon Zakkinen » 12.02.2012, 19:47

Hallo Sam,
wenn ich die Kommentare und Deine Erklärungen lese, wird mir etwas deutlicher, worum es Dir geht. Ohne die wäre das glatt an mir vorbei gegangen und da wäre nur geblieben: welche Lehre soll denn hier bloß vermittelt werden? Warum muss der sterben, ist das nicht ein wenig übertrieben? Von der Logik her: warum vergeht der Apfel nicht? Was ist an der Erkenntnis der Vergänglichkeit das Problem? Du siehst, es geht sich nicht so ganz auf für mich, weder in der einen noch in der anderen Lesart.
Grüße
Henkki

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Beitragvon Zefira » 12.02.2012, 22:10

Hallo alle,

nachdem ich Henkkis Statement eben gelesen habe, fiel mir zum ersten Mal auf: Ich habe schon beim ersten Lesen des Gedichts (als noch gar kein Kommentar darunter stand) spontan gedacht, dass der Apfel absichtlich nicht verging, um dem Meister einen Strich durch die Rechnung zu machen. (Das würde den Text inhaltlich zwar in den Bereich der Fabel rücken, aber damit hätte ich kein Problem.)

Ich habe das von Anfang an als ironischen Effekt betrachtet. Der Meister möchte bierernst seine Schüler belehren, aber der Apfel sagt "ätsch". Ebenso bierernst reagieren die Schüler, als die Lehre des Meisters nicht aufgeht.

Grüße an alle
Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

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Beitragvon Zakkinen » 13.02.2012, 07:34

Aber warum? Vielleicht habe ich noch zu viel Sympathie für den Meister, da ich keinen nervigen Brechtschen Besserwisser erkennen kann. Jedenfalls sind die Schüler für mich nur Mörder, die Botschaft bleibt mir schleierhaft. Denn die Schüler töten ja, um zu strafen. Somit wird ein kausaler Zusammenhang über die Logik der Schüler akzeptiert. Es geht nicht um zynisches, aber namenloses Schicksal. Also Strafe wofür? Dafür, dass er seine Arbeit versucht zu tun??

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Beitragvon Amanita » 13.02.2012, 07:47

Hallo Henkki, ich denke, genau mit dieser Lesart gehen wir konform. Mir tut der arme Kerl auch leid, genau so, wie Du es beschrieben hast.

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 13.02.2012, 08:09

Hallo Sam,

ich fand das einen der witzigsten Texte hier seit langem und ziemlich perfekt in seiner Kausalität - es geht schließlich darum, seine Gedanken ernst zu nehmen, insofern ist die Reaktion der Schüler völlig konform mit der Logik ihres Meisters, er müsste ihnen zustimmen.
Warum das in Prosa nicht funktionieren sollte kann ich nicht sehen - die Bremsfunktion der Umbrüche ist für mich kein ausreichendes Motiv: es rückt das Ganze vom Spielerischen in die Nähe der Gedankenlyrik, das ist zum einen schade für den Text, zum anderen kann ich keine sprachlichen lyrischen Mittel eingesetzt sehen. Für mich wird er dadurch von einer perfekten Prosaminiatur zu einem eher schlechten Gedicht.

Erinnerte mich auch an ein sehr nettes Büchlein von Fritz Mauthner (http://www.libelle.ch/backlist/905707458.html).

Herzliche Grüße

Franz


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