auch das noch im kreis

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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fenestra
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Beitragvon fenestra » 12.02.2013, 23:02

auch das noch im kreis


solange ich gehe
ist es gut

deine pfade winden sich
wie der trockene leib einer blind-
schleiche
ich
unvermutet
kreuzen holzwege
wirfst du kiefernstämme
riesenmikados
bei jedem sturm
die richtung wechselnd
irre
ich
dachte dieses gedicht immer wieder
zeit es aufzuschreiben

ums gehen geht es
umgehen

aus den augenwinkeln runde tische
verhuschte wesen decken auf kupfernem
nadelfilz kelche
laiblinge keulenförmiges
besteck ?

umwege gehen
damit umgehen
dass wege kurven erzwingen

natodraht
grüne bickbeerenäste
versperren jede abkürzung
buchenspieße staken in
nadelkissen aus harschschnee-
wehen
stämme ächzen
der graupelsturm
fährt aus den schneisen


auf der lichtung die fichte
mit abgeplatzten glaskugeln
und zerfetztem
meisenknödelnetz
findet auch nicht mehr
aus dem januswald



► Text zeigen
Zuletzt geändert von fenestra am 20.02.2013, 21:30, insgesamt 4-mal geändert.

carl
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Beitragvon carl » 13.02.2013, 10:25

Liebe Fenestra,

das gefällt mier (wieder) sehr gut!
Ein Spaziergang im Winterwald wird zum Irrweg, Holzweg, in dem das Lyr.Ich mit Widerständen umgehen lernen und auf rasche Auswege verzichten muss, um dann zu entdecken, dass es wieder am Anfang eines Rundweges steht:
"solange ich gehe/ ist alles gut/.../ auch das noch: im kreis"
Und das Ganze als Gleichnis für eine Beziehungskrise...

Besonders gut gefallen mir die Enjambements, die unterschiedliche Sinnzusammenhänge erschließen.
Deswegen auch mein Vorschlag:
"unvermutet kreuzen holzwege
kiefernstämme
riesenmikados geworfen
bei jeder sturmbö
die richtung wechselnd
irre
ich
dachte dieses gedicht immerr wieder"
Klasse!

Übrigens der Natodraht besteht aus grünen Bickbeerenästen(!)

LG, Carl

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 13.02.2013, 11:42

"Und das Ganze als Gleichnis für eine Beziehungskrise." Schreibt Carl. Und Fenestra am Schluss ihres Gedichts: "Auf der Lichtung die Fichte............findet auch nicht mehr aus dem Januswald."

Daraufhin habe ich bei Wikpedia unter JANUS geschaut, woraus ich Folgendes abschreibe:

"Ovid erzählt auch von Cardea, die ursprünglich eine Nymphe im Hain des Helernus am Tiber war. Diese machte sich ein Spiel mit ihren Verehrern, die sie vorausschickte zum Platz eines Stelldicheins, nur um ihnen zu entwischen, sobald diese sie aus dem Auge ließen. Das gelang aber bei dem doppelgesichtigen Janus nicht, und so musste Cardea sich ihm ergeben..."

Janus, der einzige rein römischer Gott, ist eine überaus interessante Gestalt, interessanter als Jupiter, finde ich. Nach ihm wurde der erste Monat des Jahres genannt. Sein Tempel wurde nur in Friedenszeiten geschlossen, was in der ganzen Zeit der römischen Geschichte nur etwa fünf Mal geschah.

Fenestra, als ich dein Gedicht las, dachte ich: Das ist ja das Gedicht, auf das wir alle warten!

Vielleicht hast du auch so empfunden. Deswegen finde ich die Worte "Ich dachte dieses Gedicht immer wieder, Zeit es aufzuschreiben" unnötig im Text, das ist eine treffende, wahre, aber prosaische Aussage, die dem Gedicht Kraft wegnimmt. Lass es dem Leser selbst es so empfinden.

Vale

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 13.02.2013, 21:03

Janus ... Nach ihm wurde der erste Monat des Jahres genannt.


So ist es, und dieser Text ist auf Januarspaziergängen entstanden. Man blickt zurück ins (manchmal schäbig gewordene) alte Jahr, man blickt voraus ins neue, dessen Zugang jedoch versperrt ist. Daher heißt der Januar so, weil er vor und zurück blickt. Danke, lieber Carlos, für die mythologischen Hintergründe!

In der Tat war es so, dass ich einige dieser Motive (und noch mehr) auf verschiedenen Spaziergängen fand, aber zu träge war, oder es einfach zu belanglos fand, um es aufzuschreiben. Daher freut mich natürlich, dass das Gedicht bei dir so gut angekommen ist! Natürlich wartet hier jeder und jede auf etwas anderes, auf andere Worte und Antworten, Aus- und Eindrücke.

Vielleicht sollte ich nicht "gedicht" schreiben, sondern etwas Zweideutiges.

irre
ich
dachte diese passagen immer wieder
zeit es aufzuschreiben

?

Passagen ist eigentlich eine Silbe zu lang. Ich werde noch nachdenken.

Lieber Carl,

Beziehungskisten lauern sicherlich überall, je nach Kistenstatus des Lesers. Hier war keine explizit untergebracht, aber eine Art therapeutisches Gehen war es schon. ;)
Deinen Änderungsvorschlag ist bedenkenswert, weil ich dann auf die Form "geworfener" verzichten kann. Danke auf für das Auffinden des verlorenen n unter den Bickbeerenästen.

Schönen Dank an Carl und Carlos fürs genaue Umsehen im Januswald!

fenestra

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leonie
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Beitragvon leonie » 13.02.2013, 22:19

Liebe fenstra,

ich finde die Zeile mit dem Gedicht gerade gut, Passagen finde ich längst nicht so gut. Allein vom Wortklang. Gedicht klingt nach z.B. Dickicht. Passagen hat so was Fließendes, ich finde, das passt gar nicht.

Ich finde den Text auch klasse! Man kann ihn sicherlich auch auf eine Beziehungskiste deuten. Aber für mich beschreibt er den Prozess des Dichtens selber. Als stehe eben am Ende des Gehens, des Kreisens, des Weges dieses Gedicht.

Liebe Grüße

leonie

carl
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Beitragvon carl » 14.02.2013, 07:35

Moin Fenestra,

ich hatte an dem "deine pfade winden sich" gerätselt, weil das "du" hier offensichtlich kein Selbstgespräch ist, wie man an dem nachfolgenden "ich" sieht.
Den Winterwald einmal mit "du" anzusprechen, fand ich nicht einleuchtend. Von daher kam ich auf "Beziehung", was m.E. aber nicht essentiell für das Gedicht ist.
Wenn du es behalten willst, sollte das "du" nochmal vorkommen und sich zu erkennen geben.
Wenn du "die pfade" daraus machst oder "meine pfade", geht es ganz ohne...

LG, Carl

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nera
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Beitragvon nera » 14.02.2013, 14:22

das gefällt mir sehr fenestra! einzig das enjambement "blind -schleiche" stört mich ein ganz kleines bischen.
aber wirklich nur minimal.
lg

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 15.02.2013, 18:30

Gedicht klingt nach z.B. Dickicht.


Stimmt! War mir hier gar nicht aufgefallen. Genau: Beim Dichten dreht man sich so manches Mal im Kreis und findet nicht heraus. Wer kennt das nicht. Freut mich sehr, dass es dir gefällt!

Den Winterwald einmal mit "du" anzusprechen, fand ich nicht einleuchtend.


Nicht? Ein Wald, in dem man sich wieder und wieder verirrt, wird zum (feindseligen) Gegenüber, auf den man die eigene Unfähigkeit zur Orientierung projiziert. Aber der Wald ist gleichgültig oder sogar abweisend (natodraht, wesen, die man nur aus den Augenwinkeln sieht). Es bringt nichts, ihn noch länger anzusprechen. Außerdem hat er seine eigenen Probleme (ächzen stämme). Ich habe mal überprüft, ob ich noch irgendwo ein Du einbauen kann, aber ich finde es in den späteren Versen nicht mehr plausible. Am Ende hat das lyrische Ich einen Leidensgenossen gefunden: Den Weihnachtsbaum, der nicht einmal mehr versucht, den Wald zu verlassen.

Der Lesart, dass das lyr. Ich hinter einem Du herläuft, auf den verschlungenen Pfaden eines anderen, kann ich durchaus etwas abgewinnen. Das kann ruhig als Möglichkeit erhalten bleiben.

Danke auch dir, liebe nera! Die blind - schleiche brauche ich so, damit 'ich' blind schleiche. Nicht schön vielleicht, blind durch den Wald zu schleichen, aber sowas kommt vor. ;)

Viele Grüße
fenestra

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nera
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Beitragvon nera » 15.02.2013, 22:48

nein nein, das blind schleichen ist klasse. Das hier:"wie der trockene leib einer blind" schmeckt mir nicht so?
ich würde es , glaube ich, lieber als einheit lesen und dann auf das morphologische enjambemet verzichten. also eher so:
........
wie der trockene leib einer blinden
schleiche
ich
.....
wobei das vielleicht zu unlogisch ist?????
lg

carl
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Beitragvon carl » 16.02.2013, 07:06

Moin Fenestra,

der Januswald kann seh gut ein persönlicher Kontrahent sein!
Da gäbe es etliche Möglichkeiten, das herauszuarbeiten:

Wenn es schon "seine" Wege sind, auf denen sich das Lyr.Ich bewegt, kann er auch "seine" Stämme in den Weg werfen
"unvermutet kreuzen holzwege
wirfst du kiefernstämme
riesenmikados
bei jedem sturm..."
oder mit Bickbeerenästen den Weg versperren
"dein natodraht aus bickbeerenästen
versperrt jede abkürzung..."
Man könnte den "Januswald" zum Titel wählen und den Titel als Schlusspointe setzen:
"januswald

solange ich gehe
ist alles gut

deine pfade winden sich

...

auch das noch im kreis:

auf der lichtung die fichte
....
findet auch nicht mehr
aus dem januswald"


Aber ich hatte von Anfang an nicht den Eindruck, dass dir was an dem Wald als Gegenüber liegt (dein letztes Posting hat ihn nur bestärkt).
Er ist wohl eher ein anonymes Schicksal als ein "du".
Ich hatte das "du" ernster genommen, als du es gemeint hast.

LG, Carl

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 16.02.2013, 12:59

Hallo fenestra,

das gefällt mir auch wieder sehr gut!
An der "blind/schleiche" stocke ich aber auch, weil es die einzige Zeile ist, die für sich keinen Sinn macht. Ich würde vermutlich auf das "schleichen" verzichten, weil es sich für mich auch mit dem Gehen der ersten Strophe reibt.
(deine) pfade winden sich
wie der trockene leib einer blindschleiche

unvermutet kreuzen holzwege


unvermutet kreuzen holzwege
kiefernstämme
riesenmikados geworfen
bei jedem sturm
die richtung wechselnd
irre
ich
Passt "geworfen" zu Mikado? Nicht eher "gefallen"? Und wechseln die Geworfenen bei jedem Sturm die Richtung, es sind doch neue Stämme, die fallen und dann liegen bleiben?

unvermutet kreuzen holzwege
kiefernstämme
riesenmikados gefallen
bei jedem sturm
in eine andere richtung
irre ich


dachte dieses gedicht immer wieder
zeit es aufzuschreiben
Für mich eine klasse Stelle, die ich auf keinen Fall rausnehmen oder ändern würde.


natodraht aus grünen bickbeerenästen
versperrt jede abkürzung
Hier finde ich es schade, dass der Natodraht nicht selbst vorkommt. Warum nicht
natodrähte, grüne bickbeerenäste
versperren jede abkürzung

?

buchenspieße in
nadelkissen aus harschschnee
wehen
Da bekomme ich kein Bild, was weht hier und was sind Buchenspieße in Nadelkissen und warum sind die Nadelkissen aus Harschschnee?

Nicht? Ein Wald, in dem man sich wieder und wieder verirrt, wird zum (feindseligen) Gegenüber, auf den man die eigene Unfähigkeit zur Orientierung projiziert. Aber der Wald ist gleichgültig oder sogar abweisend (natodraht, wesen, die man nur aus den Augenwinkeln sieht). Es bringt nichts, ihn noch länger anzusprechen.
Das finde ich interessant und gut nachvollziehbar. Da man als Leser den Weg mit LIch aber erst anfängt und nicht weiß, dass er sich für LIch schon länger hinzieht, hätte ich das Du dann später erwartet, ungefähr nach "irre ich" beispielsweise mit dem Zusatz
irre/ ich/ in dir
An der frühen Stelle verleitet es mich auch, das Gedicht stärker im Hinblick auf ein "Du" als Gegenüber zu lesen.

Ich würde es auf jeden Fall gerne von dir gelesen hören, da gibt es wieder so schöne Lautlesestellen darin. Gibt es schon eine Hörversion?

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 16.02.2013, 21:58

Ich finde den Text sehr gelungen, dicht, schön verspielt.
Einige Stellen, die für mich bearbeitbar scheinen:
- ich bräuchte weder geworfen noch gelegt, die Riesenmikados sprechen für mich genug
- 'wehen /grell ächzen stämme' das ist mir (viel) zu dick aufgetragen, vor allem das 'grell'
- schlaff baumelnd - 'leer baumelnd' fände ich persönlich schöner
Kleinigkeiten nur; es ist ein toller Text!
Grüße
Franz

carl
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Beitragvon carl » 17.02.2013, 09:25

Moin Flora,

ich sehe bei
"buchenspieße in/ nadelkissen aus harschschnee/ wehen"
folgendes Bild:

Unter Buchen wächst nichts anderes als deren Schößlinge.
Manchmal sehe ich auch Fichten (trotz unterschiedlicher Bodenansprüche, grübel): die sind Kummer gewöhnt ;-)
Die Buchenschößlinge sind kaum verzweigt und blätterlos: Spieße.
In verharschten, großporigen Schneepolstern stellen sich die hergewehten Fichtennadeln zum Nadelkissen auf.
Voila...

LG, Carl

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 17.02.2013, 22:07

Okay, eure Hinweise sind sehr interessant für mich und einiges habe ich jetzt überarbeitet.

blindschleiche: Den Einschub "schleiche / ich" möchte ich passend zum späteren "irre / ich" beibehalten. Vielleicht hilft ein kleiner Binde-
strich gegen das blinde Ende der Zeile?

Ein weiteres "Du" habe ich nun beim Mikado eingebaut. Die Mikados fallen nicht bei jedem Sturm, liebe Flora. Es sind Stämme, die dort schon lange liegen, aber jedesmal scheinen sie andere Wege zu versperren. Jemand scheint damit zu spielen, er wirft das Mikado immer wieder neu. Und, ja: Der Natodraht sollte auch für sich stehen.

Die Buchenspieße hat carl vollkommen zutreffend erläutert. Ich habe da aber noch ein Verb eingebaut, die Stelle war doch sehr verkürzt.

Carls Vorschlag mit der Titeländerung: So war in der Tat meine erste, hier nicht veröffentlichte Version. Der Titel lautete "Im Januswald", die letzte Strophe ging so:

auf der lichtung eine fichte
mit abgeplatzten glaskugeln
und schlaff baumelndem
meisenknödelnetz

auch das noch im kreis

Aber dann kam mir die Idee, dass dieser Weihnachtsbaum, der hier im Januar noch steht, wohl genauso wie ich nicht mehr hinausfindet. Und da passte dieses "auch das noch im kreis" nicht mehr ans Ende und überdies fand ich dieses Fragment als Titel überaus gut. Dabei solls auch bleiben.

Immerhin baumelt das Netz jetzt nicht mehr so schlaff. Und mich überfällt auch kein greller Sturm mehr (ich hatte zuerst sogar "gräll" geschrieben). Aber ist der Sturm denn jetzt noch heftig genug? Darüber denke ich noch nach.

Vielen Dank für eure detaillierten Vorschläge! Ich denke, wir drehen uns da durchaus nicht im Kreis!


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