Melancholie

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
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Amanita
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Beitragvon Amanita » 16.02.2013, 23:59

Melancholie

Im Garten
zwischen den Schattengewächsen
huschen Erinnerungen –
ich auf der kühlen Treppe
ziehe meine Jacke aus Lebensjahren
enger um mich,
während mich all die Verstorbenen
anzutippen scheinen
mit ihren steinernen Fingern

Ich sehe die Blätter
von meinem Kalender fallen
in diesem Herbst,
der mir nicht von der Seite weicht –
während ich meinen Gedanken nachhänge
verfängt sich der Nebel an mir
und ich gehe, frierend
die Angst an der Hand,
ins Haus zurück

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 17.02.2013, 07:39

Dieses, samt Titel, würde ich als ein perfektes Gedich bezeichnen.

Bis auf die zwei Worte "aus Lebensjahren", die nicht falsch sind, aber zu jener Art Lyrik gehören, vor der Ezra Pound warnte:

"Man sollte nicht konkrete und abstrakte Begriffe vermischen", sagte er.

Die Jacke, die du enger um dich ziehst, kann ich mir bildlich vorstellen.

Und wie du ins Haus zurückgehst, mit einem Schatz im Herzen.


Vale

PS: Eben frage ich mich, ob die Worte "mit ihren steinernen Fingern" auch nicht weggelassen werden könnten ...

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 17.02.2013, 07:43

Düsseldorf ...

einmal las ich, dass, als Kind, Heinrich Heine sah, wie ein Mitschüler in dem Düssel ertrank.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 17.02.2013, 10:19

Hallo Klimperer!

Hab Dank.

1. Stelle: muss nicht so bleiben. Da das ein Text ist, in dem Adjektive nerven könnten, wollte ich hier keins haben. Nur die Jacke wäre mir aber wohl zu wenig - oder?

2. Stelle: kann auch ersetzt werden, ganz streichen würde ich sie aber nicht. Ich dachte an Skulpturen aus Stein.

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leonie
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Beitragvon leonie » 17.02.2013, 14:14

Liebe Amanita,

ich finde das ein sehr, sehr gutes Gedicht. Das Bild ist so stark, man sieht das lyrIch dort sitzen zwischen den Schatten, den Erinnerungen, fühlt den Schmerz, ohne dass er ausdrücklich benannt wäre. Zur Jacke wäre miene Idee zu schreiben:

Ich ziehe meine Jahre
enger um mich.

Ich glaube, man würde das verstehen. Die steinernen Finger würde ich unbedingt lassen, man spürt förmlich ein hartes, kaltes Angetippt-Werden dadurch.

Ich habe noch zwei sehr kleine Vorschläge:

das doppelte "mich" weiter auseinander ziehen:

ziehe meine Jacke aus Lebensjahren
enger um mich,
während all die Verstorbenen
mich anzutippen scheinen

Am Ende würde ich überlegen, das zurück" wegzulassen, ich fände es dann etwas offener...


Ein wirklich starker Text!

Liebe Grüße

leonie

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 17.02.2013, 14:29

Liebe leonie, hab Dank. Die Umstellung ist wohl tatsächlich besser! Aber die Jacke ganz weglassen? An dieser Stelle hätte ich schon gern was "Fassbares". So bin ich mir noch nicht ganz sicher. Weitere Meinungen würden mich daher schon interessieren - denn es war und ist meine "Problemstelle", die ich meinte gelöst zu haben, während ich von Anfang an spürte, dass es da noch eine bessere Lösung geben muss.

Das "zurück" würde ich gern behalte, weil es für mich ein Hinweis auf "Heimgehen" beinhaltet (beinhalten soll) und damit zwei völlig unterschiedliche Deutungen zulässt: Das Zurückgehen ins warme, anheimelnde Haus, aber auch das Sterben.

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Beitragvon Amanita » 17.02.2013, 14:33

P. S. In meinem ersten Entwurf war es eine löchrige Jacke - das war mir zu doof, aber sinngemäß würde ich gern in diese Richtung gehen

poeta

Beitragvon poeta » 17.02.2013, 16:52

liebe Amanita,

auch mir gefällt deine verdichtung einer melancholie, die aber nicht gänzlich ungerichtet, sondern eng mit einem gefühl von endlich- und vergänglichkeit verknüpft erscheint.
und genau das vermitteln mir die 'lebensjahre', die berührung durch die 'steinernen finger' und auch das 'zurück' im letzten vers. da würde auch mir etwas fehlen.
vielleicht wäre etwas wie

'...ziehe meine jacke mit den jahrensringen
enger um mich'

an dem gartenbild näher dran, das du aufgebaut hast.
eventuell könnte man die 'verstorbenen' noch allgemeiner fassen:

'während mich abgelebtes
mit steinernen fingern
anzutippen scheint'

aber mir gefallen deine zeilen, so wie sie da stehen und es sind wirklich nur peanuts, an denen man eventuell noch feilen könnte.

liebe grüße, poeta

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Beitragvon Amanita » 17.02.2013, 17:00

Danke. poeta, ich überlege noch hin und her.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 18.02.2013, 09:01

Liebe Amanita,

ich sehe, dieses Gedicht beschäftigt dich und Andere sehr.

Auch mich, wie ich feststelle.

Jetzt frage ich mich, warum die Verstorbenen dich mit steinernen Fingern antippen? Warum nicht schtreicheln?

Die Armen! Sie sind ja nur noch Schatten ...


Die Idee von Poeta, mit den "Jahresringen", finde ich sehr gut. Es passt zum Garten, zur Vegetation.

Wie dem auch sei, mehr als ein "Kopf"- soll es ein Herzgedicht sein, da ist der Sitz der Melancholie.

Der nächste Herbst wird dir die Lösung bringen.


LG

Carlos

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Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 09:07

Hallo poeta und Carlos - die Jahresringe sind für mich wohl zu sehr "Baum". Da tendiere ich eher zu leonies Vorschlag.

Im Moment gehe ich allerdings eher schwanger mit einer Version wie

ziehe meine Jacke
meine Jahre enger um mich
.

Ja, natürlich sind die Verstorbenen in dieser Gedankensituation "nur noch Schatten". Das ist es doch gerade. Hat man das Gefühl, dass sie einen noch immer begleiten, ist man auch nicht melancholisch.

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 18.02.2013, 18:11

Hallo, Amanita,

du wolltest ja gern zu der Jacke noch mehr Meinungen hören. Ich fand das Bild mit der Jacke, die man enger um sich zieht, gleich beim ersten Leser sehr gelungen - aber ohne die Lebensjahre. Das sehe ich wie Klimperer. Ein Bild sollte stark genug sein, diese Assoziation aufkommen zu lassen. Herbst, die Verstorbenen, da sind schon genug Hinweise darauf, dass das lyrische Ich nicht mehr ganz jung ist und auf sein Leben zurückblickt. Auch die Hinweise "frierend" und "Angst an der Hand" sind mir schon wieder zu viel Befindlichkeit. Du hast Nebel erwähnt, es ist eine feuchtkalte Atmosphäre dort in dem Garten. Daraus spüre ich schon das Frieren. Und auch die Angst ist für mich bereits präsent, wenn mich der kalte Atem von Verstorbenen umgibt.

Viele Grüße
fenestra

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 18:15

Ja, gut, danke, fenestra.

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Beitragvon Amanita » 18.02.2013, 18:38

P. S. Von einem kalten Atem der Verstorbenen habe ich allerdings nicht gesprochen!

und: die Angst AN der Hand kann doch auch die Zähmung/ Überwindung der Angst bedeuten? Ich sehe da keinen Überhang an Befindlichkeit.


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