fangfragen sind schneckenhäuser [M]

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 03.03.2013, 21:00



fangfragen sind schneckenhäuser
am abend entwindest du dich nur scheinbar
langsam bewegen sich blicke in den gängen
schlüpfen aus wänden
chimären die den ausgang verwehen
hinterlistig wühlt das licht
heiler an einem punkt in der ferne .
einmal willst du näher kommen
impfst dich mit sepia
trauerst dir doch nur hinterher

Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

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fenestra
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Beitragvon fenestra » 04.03.2013, 01:56

Liebe Flora,

das ist ein faszinierender Text mit sehr ungewöhnlichen Bildern. Das Schneckenhaus nicht als Rückzugsort, sondern als Falle, in der einen ein Lichtstrahl verfolgt, dem man mit Tinte (?) entkommen kann. Toll!

Einige Dinge sind mir allerdings noch unklar:

Wieso ist das Licht "heiler ... in der Ferne"? Meinst du vielleicht heller?

Wieso trauert das lyrische Ich sich hinterher? Ich kann nicht erkennen, dass es sich von sich selbst entfernt hätte.

Und müsste es nicht "Chimären" heißen?

Viele Grüße
fenestra

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.03.2013, 07:52

Hallo Fenestra,

danke für die nächtliche Rückmeldung, freut mich!
Und müsste es nicht "Chimären" heißen?
Doch, keine Ahnung, wo das "n" verloren gegangen ist. :)

Wieso ist das Licht "heiler ... in der Ferne"? Meinst du vielleicht heller?

Wieso trauert das lyrische Ich sich hinterher? Ich kann nicht erkennen, dass es sich von sich selbst entfernt hätte.
Da möchte ich noch ein wenig warten, wie andere das lesen. Nur so viel erst mal, ich meinte schon "heiler", war aber auch unsicher, ob das so aufgeht.

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

poeta

Beitragvon poeta » 04.03.2013, 08:37

hi Flora,
je tiefer ich mich in deine schneckenhaus-fangfragen hineinbohre, desto finsterer wirds im bezug aufs verständnis. kann ich den anfänglichen vergleich der fangfragen mit den schneckenhäusern noch gut nachvollziehen, auch nachempfinden, wie man sich fühlen muss, wenns immer enger und enger wird und schließlich gar nicht mehr weiter geht, man die Wahl hat, hier zu verhungern, oder sich rückwärts mit gesichtsverlust wieder rauszuwinden und dabei keine allzu gute figur zu machen. die blicke, die sich in den gängen bewegen und aus wänden schlüpfen finde ich ebenfals sehr plastisch, dem belauert-werden nachempfunden. die chimären, die den eingang verwehen, bringe ich schon nicht mehr so gut unter, du machst damit eine völlig neue vorstellungswelt auf, die mich von den schneckenhäusern wegführt ins schemenhaft vielleicht noch erahnbare, das jedenfalls nicht positiv (fantasievoll) konnotiert scheint.
ein hinterlistig wühlendes licht: da kann ich in meinem erfahrungsschatz kramen soviel ich will, ich finde keine entsprechung. ja als grell, schonungslos aufdeckend, auch schmerzhaft ... hab ich es schon erlebt, aber 'hinterlistig' steht im widerspruch zu allem, womit ich licht verbinden würde. da hast du mich nun sehr neugierig gemacht?
dann dieses rätselhafte 'heiler', ein komperativ, der in sich schon recht zweifelhaft ist, hier wiederum in krassem gegensatz zum'hinterlistig' steht, auch wenn dieses 'heiler' erst in einem Punkt in der ferne ansetzt.
sepia würde ich jetzt nicht vorrangig als tinte verstehen, ich denke da eher an den tintenfisch, der sich bei gefahr in verzug in eine wolke sepia hüllt, um sich in gewisser weise unsichtbar zu machen. das könnt schon irgendwie passen. dann auch wieder nicht, weil du ja von impfen sprichst und nicht von ausstoß...
du siehst also, ich tappe nach wie vor im sepianebel, aber fangfragen würde ich dir niemals stellen. :-)

der titel ist fantasievoll und macht neugierig, die fangfragen klinge für mich auch leicht im 'sepia' nach und führen mich zur assoziation 'fangarme'. hilft mir das weiter? nicht wirklich! und wie das ganze mit der 'falschheit' zusammengeht, auf deren spur dein akrostichon führt, ist mir auch noch nicht klar. da werde ich wohl noch ein wenig im trüben fischen müssen. :-)

liebe grüße, poeta

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Hetti
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Beitragvon Hetti » 04.03.2013, 10:03

Hallo ihr,
ich habe die Fangfragen als halbherzige Kommunikation mit der Außenwelt gelesen. Eigentlich ist gar kein Austausch gewünscht, wenn die Antwort/Reaktion wie erwartet falsch ausfällt, braucht man sich gar nicht erst zu schützen, man ist ja eh im Schneckenhaus geblieben.

Sepia, rasch gegoogelt, ist ein Antidepressivum. Aber natürlich auch Tinte, u.a. das Werkzeug der Schreiberlinge. Kann ja auch als Antidepressivum funktionieren.

heiler: Ein Licht am Ende des Tunnels verspricht Hoffnung, das Ende der Durststrecke ist in Sicht. Aber der Schwarzseher, Pessimist oder auch nur der vorübergehend in Dunkelheit wandelnde weiß/ahnt es besser: Betrug: Das Licht am Ende des Tunnels hat sich hinterlistig installiert (flora schreibt „gewühlt“, das finde ich ganz stark), um jemanden in Sicherheit zu wiegen. Wenn er vertrauensvoll sein Schneckenhaus (Tunnel, mit Licht am Ende) verlässt, ergeht es ihm schlecht, er wird vom Licht lediglich gelockt/missbraucht. Und nicht geheilt, wie es versprochen ward.

Trauerst dir doch nur hinterher.…Das ist wohl der Satz, weswegen man diesen Text wieder und wieder anklicken wird. Aufrüttelnd. Wer nur einmal kommt, im Schutz von Sepia, und sich gleich wieder in sein Schneckenhaus zurückzieht, wird nie mehr sich selbst erleben. Dazu gehört der Mut, es wieder zu wagen. So viel Mut wie damals, als man waghalsiger, jünger oder was weiß ich war. Und wer den Mut nicht mehr aufbringt, trauert nur dem gewesenen Sturmer (Sturm und Drang) hinterher.

Hallo flora, Ich bin ein bisschen süchtig nach deinen Texten (wie wahrscheinlich fast alle hier). Ich finde der Text ist gut geeignet für einen lieben Freund, der, nach berechtigten Leiden, nicht zu seiner alten Form zurückfinden will.
Liebe Grüße
Dede

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nera
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Beitragvon nera » 04.03.2013, 17:13

ja, faszinierend!
und ja, ich habe sepia auch gegoogelt und rausgefunden, dass es nicht nur gegen depressionen eingestzt wird, sondern auch als hhomöopatisches mittel gegen frauenkrankheiten und menschen gegeben wird, deren würde verletzt wurde. in einem text darüber stand "menschen deren würde wiederholt verletzt wude, tauchen emotional ab" in diesem sinn erkläre ich mir hier das schneckenhaus die fangfragen- das sich selbst hinterfragen , in dem/ denen man sich verkriecht, verirrt. ein labyrinth? dem man schwerlich und scheinbar entkommt, wenn abends zur ruhe in den schlaf kommt. diese würdeverletzende fragen, blicke, augen scheinen immer wieder aufzutauchen, überall zu sein, wie chimären, trugbilder.....
das licht (tag) leuchtet all diese fragen wieder aus, beleuchtet sie, macht sie sichtbar, zerrt sie wieder hervor....auch hinterlistig, wenn man nicht damit rechnet.(?)
es gibt einen punkt in der ferne, der vergangenheit oder zukunft, wo das "ich" heiler ist oder war, nicht heil, aber doch gesünder,. diesem zustand möchte man wieder das lyich oder lyrdu wieder näher sein, impft sich deshalb mit sepia.....und trauert dann doch nur diesem ehemaligen oder zukunftigen hinterher...

so habe ichs jetzt gelesen. mir gefällt dieses sepia sehr gut in diesem text. man kann es auf diese art lesen, aber auch auf die farbe alter fotos beziehen, die für mich immer einen etwas sentimentalen weichen ton haben.
lg

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 05.03.2013, 08:00

Hallo poeta, Dede und nera,

das ist so klasse, eure Gedanken, die Fragen an den Text und die Suche dazu zu lesen und jeder hat für sich eine Leseweise und auch Reibungspunkte gefunden, die auch ich im Text wiederfinden kann. Danke dafür! Ich mag gar nicht selbst so viel dazu schreiben, um es nicht einzuengen. Ich hoffe das ist in Ordnung für euch, sonst einfach nochmal drauf stupsen. .-)
Dede hat geschrieben:Hallo flora, Ich bin ein bisschen süchtig nach deinen Texten
:d040: Das freut mich sehr, dass etwas von meinen Texten bei dir ankommt!

Liebe Grüße
Flora
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

pjesma

Beitragvon pjesma » 05.03.2013, 14:46

hi flora
ich mag total daneben liegen, aber was solls ;-)))...weiste, mir gibt manchmal querlesen, "ungenaues" lesen, mehr, als genaustes...ich versuche da nicht jedes wort zu entschlüßeln, sondern versuche das stimmung zu fangen, das ganze...und hier kommt es bei mir so rüber : jemand ist ein leiser, ein schweigsamer...der dazu genötigt wird sich zu äußern (über etwas) und im konflikt steht mit sich selbst...verleugnet sich so zu sagen in dem er sich äußert, womöglich dinge verschönernd, weiß aber genau das bei näherem beleuchtung der sätze, das nicht die "ganze wahrheit" ist...und ist vielleicht gar ein bisschen gekränkt zu äußerung gedrängelt worden zu sein...gern hätte er das (noch) für sich behalten....das liest sich mir daraus in etwa
lg, pj

ecb

Beitragvon ecb » 05.03.2013, 20:08

Bin zwar zu spät dran mit dem Kommentieren, weil mir nicht nur das Gedicht selbst, sondern auch die Kommentare der vorangegangenen Schreiber schon so viel gegeben haben an Anregungen, Fragen, Einfühlung, Gedanken, daß ich ich nicht glaube, dem noch etwas hinzufügen zu können, aber es ist definitiv vorgemerkt für meine Wahl nächsten Monat, und nicht nur das Gedicht, eigentlich der ganze Faden - ein seltener Genuß. :daumen:

Liebe Grüße
Eva

pjesma

Beitragvon pjesma » 05.03.2013, 21:23

hm, es fällt mir noch ein, zu sepia---sepiabilder. die die farben verschwinden lassen in ton in ton braunlich...ich hab es nicht mit tintenfisch verbunden (obwohl es eigentlich logischer wäre, da da schnecken, chimären...)...dieses impfen mit sepia empfinde ich wie eine mimikrie welche mir dann meine lese art bestätigt /;-) man liest was man will/...einer hat die eigene farben ausgeblendet mit sepia um sich nicht ganz aufdecken zu müssen, alles ist ton in ton...aber man trauert sich nach (verlust der glaubwürdigkeit? authentizität? eigene farbe?klare sprache? oder doch verhaarens im schweigen? )
ein spannender gedicht, offen, wie ich es mag :-)

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.03.2013, 21:35

Liebe Flora,

komische Formulierung, aber ... auch ich habe den Text gern, weil man ihm (wie einem Menschen) zuhören kann.

Ich habe den Text so gelesen, dass es eigentlich um das Verhältnis des lyr. Ich zu sich geht, um das Verhältnis zu sich selbst, was es über sich weiß, was es sich zugesteht, was es möchte, was es träumt und was es (dann doch weiter) lebt. Natürlich unter anderen, es geht schon um die Hinwendung zu anderem (kann auch andere meinen), aber der andere steht für mich nicht im Fokus, sondern die Bewegung und vor allem Nicht-Bewegungen, die das lyr. Ich macht.

Sepia habe ich in diesem Kontext (in Anlehnung an alte Fotos) eher mit "Erinnerungen" impfen verbunden (, auch wenn Antidepressiva ja durchaus auch in die Lesart passt und das Konkrete letztlich nicht so wichtig ist, weil das Gedicht mit Zustandsnachempfindbarkeit arbeitet.) . Es soll sich gelohnt haben, weil es einmal schön war/verheißungsvoll schien, das ich es ja einmal versucht hat und dieser Versuch als Blüte zu verstehen ist, es gibt alte, betrauerungswürdige Fotos (müssen nicht reale Fotos sein).


Für mich lebt das Ich in einer Welt, in der es tagsüber (metaphorische tageszeit) gut zurechtkommt, abends aber (ebenfalls - im ganz klassisch-romantischen Sinne - metaphorische Tageszeit) die unterdrückten Fragen herauskommen, "sie" wollen das Ich fangen, lauern als Schreckgestalten, die Ausgänge sind mit Angst belegt - nicht zu erkennen (Chimären, allerdings sind dies alles ja die eigenen Augen, die am Abend eben sehen, was sonst nicht angeschaut wird), sie fallen in die Gänge des Schneckenhauses ein, in die das Ich sich selbst zurückgezogen hat, und wagt sich das Ich ein Stück weit hervor (denn das Licht in der Ferne (Fernweh, die andere Welt, das andere Leben, der andere Mensch) verheißt,) so schafft es es doch nicht hinaus, und nur im Hinaus liegt das Dort, das dann Hier würde, traut sich doch nicht, so dass das Ganze am Ende nur ein scheinbares Entwinden ist (wird), das nicht in einer Befreiung mündet, sondern in einer Trauer um das vergebene Ich, zu einer Art Phantasie wird, die eben nur Phantasie ist und nicht Kraft, um etwas zu erreichen - eben eine FALSCHHEIT (aufgrund einer Falschheit)

Ein anrührender, vergeblicher, stark weiblicher Zustand, der wahrscheinlich ganz anders aufzulösen ist, als die Kämpfe zwischen Tag und Nacht es vermuten lassen. Eine träumerische Dornröschenselbstvergiftung. Die Umkehrung des Lichts, um nicht zu erblinden und gleichzeitig auf Nummer sicher zu gehen. Frauen kriegen alles und (damit) nichts.

Was mich wieder auf den meiner Meinung entscheidenden Existenformzvorteil des Mannes gegenüber der Frau bringt, der ersteren Erlösung ermöglicht: Männer können sterben.

Tintenfischgrüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Pjotr
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Beitragvon Pjotr » 05.03.2013, 22:30

Surrealistische Verknüpfung von Sprache per se mit bizarren Bildern. Mir gefällt der Text auch. Kann auch nur das dazu sagen. Aber bloßes "Gefallen" muss ja auch mitgeteilt werden, wenn ein Text bereits alles sagt and malt, nicht wahr? :-)

Lisa, ich habe eine Hypothese (hoffentlich nicht allzu psychologisierend): Du hast den Text gern weil er stilistisch und antennen-technisch in der selben Welt steht wie viele Deiner Texte; wenn ich den im Anonymus gesehen hätte, hätte ich, neben Flora, auch auf Lisa getippt :-)


Cheers

P.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 05.03.2013, 22:57

Lieber Pjotr,

ach, ich werde gern psychologisiert, da hat man immer das Gefühl, man würde etwas erleben, obwohl man sich doch gar nicht auf die Party getraut hat. Ich schätze, ich hätte denselben Zustand knapp anders beschrieben. Die Verwandtschaft lässt mich ihn gern haben, ja. Aber als Beispiel: Ich würde nie von einem Schneckenhaus sprechen. Dieses Bild fiele mir zum Zustand nicht ein (ohne das besser oder schlechter zu meinen).

Aber das ist bestimmt auch nur romantische Reaktanz :razz:

liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

aram
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Beitragvon aram » 06.03.2013, 01:31

Lisa hat geschrieben:Männer können sterben.
lisa, halte ich für einen lieblingsillusionsgedanken. frauen auch. oft erst später.

flora, ich finde diesen text geschmeidig und sehr klar.

(1detail: bloß 'doch nur' wirkt mir am ende zu kopfig konventionell. ließe eins davon weg.)


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