Aufgebügeltes Herz

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Quoth
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Beitragvon Quoth » 22.01.2015, 11:15

Drei Kinder stehen da, sie haben Räder,
die Schatten lang, die Sonne steht schon tief,
entblößen lachend ihre Milchzahnlücken,
d.h. der Junge links, das Mädchen rechts.

Die Schatten lang, die Sonne steht schon tief,
dahinter breitet sich die grüne Wiese
sowie ein Zaun und auch ein wenig Wald.
Sie zeigen lachend ihre Milchzahnlücken.

Dahinter breitet sich die grüne Wiese,
ein Schatten fällt ins Bild. Er ist von dem,
der einst er war, als er das Foto schoss.
Da ist ein Zaun und auch ein wenig Wald.

Ein Schatten fällt ins Bild. Er ist von dem,
der dies heut schreibt und sich die Frage stellt,
ob er die drei wohl hat genug geliebt,
als er der war, der dieses Foto schoss.

Der dies heut schreibt, denkt an die kleine Blonde,
die blinzelnd in die Abendsonne lacht.
Er hätte gerne besser sie beschützt;
doch hat er sie wohl nicht genug geliebt.

Drei Kinder stehen da, sie haben Räder
und lachen blinzelnd in die Abendsonn‘,
der Junge links, das Mädchen rechts, die Jüngste,
ihre Pantöffelchen sind rot kariert.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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nera
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Beitragvon nera » 22.01.2015, 12:23

erster eindruck: harter stoff!

ich brauche noch zeit, um mehr zu sagen.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.01.2015, 15:43

Das ist das erste Mal, dass ich ein Gedicht dieser Art (ich habe die Bezeichnung vergessen) lese, in dem die Wahl der Form durch den Inhalt begründbar ist: dieses Kreiseln der Gedanken, das etwas Zwanghaftes hat, entspricht dem Thema.

Ein ganz profanes Problem habe ich nur mit dem Wort "Pantöffelchen", es scheint mir eher "indoor" und passt nicht recht zu Kindern mit Rädern. Ich hätte etwa geschrieben "die Gummistiefelchen sind rot kariert" oder "die Stiefelchen sind rot und weiß kariert" oder so. Oder haben die Pantoffeln eine Bedeutung, die mir entgangen ist?

Grüße von Zefira
Zuletzt geändert von Zefira am 22.01.2015, 16:25, insgesamt 1-mal geändert.
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Niko

Beitragvon Niko » 22.01.2015, 16:11

ich find's gut, quoth,

und mich würde interessieren, wie man diese gedichtsform nennt. eine stelle ist mir allerdings kribbelig:

"Er ist von dem, der einst er war, als er das Foto schoss."

ich frage mich, ob das nicht der er's zuviel ist. ich finde es beim lesen etwas verwirrend.
aber faszinierend isses. jawoll!

beste grüße - niko

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.01.2015, 16:30

Es erinnert an die Villanelle, aber die ist, soweit ich weiß, in dreizeilige Strophen unterteilt. Oder gibt es auch eine vierzeilige Villanelle? Ich hab's mal gewusst, es will mir nicht einfallen. :12:
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birke
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Beitragvon birke » 22.01.2015, 16:49

(vielleicht eine art pantun?)
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Quoth
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Beitragvon Quoth » 22.01.2015, 20:47

Vielen Dank für Befassung. Angeregt hat mich der Gedanke, mehr mit Bildern umzugehen hier im Forum. Es müssen ja nicht unbedingt allen sichtbare Bilder sein. Eine feste Gedichtform habe ich nicht verwendet, habe mich aber von verschiedenen Formen anregen lassen, die Ihr auch genannt habt. Dabei spielen Rhythmus und Wiederholung eine zentrale Rolle. Den im Pantum/Pantun üblichen Reim habe ich nicht verwenden mögen, er hätte mich zu sehr eingeschränkt und auf Geleise geschoben, auf die ich nicht wollte. Dass die Form etwas Grüblerisches hat, stimmt, vielen Dank für die Beobachtung, Zefira. Zugleich entspricht sie, finde ich, dem forschenden hin und her Wandern des Blicks auf einem Bild. Dein Einwand, Zefira, die Pantöffelchen passten nicht in die outdoor Szenerie, ist merkwürdig, weil er zeigt, wie sich das Bild auf Grund meiner Beschreibung gleichsam verselbständigt. Was daran "harter Stoff" ist, müsstest Du mir erklären, Nera. Die vielen "er", Niko, lassen sich vielleicht reduzieren.
Gruß
Quoth
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Zefira
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Beitragvon Zefira » 22.01.2015, 21:11

Dass sich das Bild verselbständigt, ist doch schön, Quoth, warum ist mein Einwand deshalb merkwürdig?
Ich habe inzwischen (vorhin beim Äpfelschälen ;o) noch etwas darüber nachgedacht. Vermutlich wäre es besser, Du lässt die Schlusszeile doch so, wie sie ist. Mir sind die Pantöffelchen spontan ein wenig sauer aufgestoßen, aber genau das könnte auch eine Stärke des Bildes sein. Nach der ganzen Bedrückung, die das Gedicht aufbaut, ist dieser abschließende Fokus auf ein winziges, bis dahin unerwähntes Detail ohnehin herzzerreißend ... wenn ich mal so sagen darf.
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nera
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Beitragvon nera » 22.01.2015, 23:23

herzzerreißend, wie zefira es sagt, wäre wohl die bessere beschreibung.
auch bei mir kam sofort diese bedrückende stimmung, bedrückende bilder auf. mir ging es wie zefira, dieses zwanghafte kreiseln, dass durch die form bildhaft wird, boah.
wobei es in mich in zwei richtungen stupst. einmal diese elternsache. ich habe selbst zwei söhne und zwei töchter und dieses grübeln ist nachvollziehbar. aber dann gibts durch dieses kreiseln einen anderen abgrund. zumindest bei mir. dieses wiederholen von gedanken, diese beschreibung eines idylls, wie fotos es festhalten, das sich selbst in frage stellen des lyrischen ichs und die nicht weiter beschriebene katastrophe, erinnert mich ( nicht böse sein) in seiner auswegslosigkeit an das kreiseln von gedanken von patienten von mir, die an einer psychose oder depression leiden. das war tatsächlich das bild, das sich über das elternbild gelegt hat. dieses:" harter stoff" hat sich nur auf mich bezogen. auf das, was das gedicht in mir ausgelöst hat. und ich finde es sehr gelungen.
chapeau! in alle richtungen!

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Beitragvon birke » 22.01.2015, 23:32

ja. das ist es: bedrückend gut.
eindringlich durch die form!
selten, dass eine form den inhalt so verstärkt, aber hier ist es so, jedenfalls auch für mein empfinden.
und das ist meines erachtens eine wahre kunst!
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Beitragvon Zefira » 23.01.2015, 00:04

"die nicht weiter beschriebene Katastrophe" ....
... das kann ja durchaus etwas ganz Normales sein, was den Kindern zustößt. Wir wissen, dass das Leben zwangsläufig Wunden schlägt; der geliebte Hund stirbt, die Freundin zieht weg (diese Erfahrung müssen schon Kinder machen) und wenn die Kinder auf dem Foto inzwischen groß sind, dann wissen sie inzwischen auch, dass es noch viel mehr unverschuldetes Unglück geben kann; Trennung, Gewalterfahrung, Mobbing und und und. Obwohl wir wissen, dass es zum Leben gehört, wollen wir unsere Kinder gern davor bewahren. Und wenn da ein Gefühl der eigenen Ohnmacht dazukommt, wie nera es andeutet, das Gefühl, im Leben allgemein versagt zu haben (wem wäre das vollkommen fremd?), dann gibt man sich selbst die Schuld am dem, was die Kinder erleiden müssen.
Das muss gar keine Katastrophe sein; es kann das ganz normale Leben sein.
Die Schlusszeile würde ich, wie schon gesagt, besser doch so lassen. Vielleicht müssten es nicht "Pantöffelchen" sein, aber allein dass es um die Füße geht, berührt etwas sehr Vertrautes. Wer kennt es nicht, dass man beim Anblick der abgelegten kleinen Kinderschuhe verzweifeln möchte?
Ein wunderbares Gedicht, gefällt mir immer besser.
Grüße von Zefira
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nera
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Beitragvon nera » 23.01.2015, 00:19

pantöffelchen hat auch so was von prinzessin.

und selbst wenn es nur "harmlose" katastrophen sind, sind es oft genug im ersten moment katastrophen.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 23.01.2015, 14:56

"Merkwürdig" nicht im Sinne von befremdlich, sondern von erstaunlich, Zefira. Freue mich, dass der Text bei einigen was berührt, ich habe ihn binnen weniger Stunden improvisiert und eingestellt - an einem anderen arbeite ich seit Monaten, er wird nicht fertig, und wenn er fertig ist, wird er womöglich nur gerümpfte Nasen produzieren! Das ist das Schöne an so einem Forum: Es hat Überraschungen in petto! Deine Ausführungen zu den kleinen Katastrophen sagen mir sehr zu, Zefira, aber ganz klar, Nera, es könnte auch eine große gemeint sein, darauf kommt es vielleicht gar nicht an. Es ist die ständig brennende Frage: Bin ich meiner Verantwortung gerecht geworden? Während die Kinder Kinder waren, hat man diese Last gar nicht gespürt, ja, heute komme ich mir blind vor - hätte ich doch damals mehr hingeschaut - und auch mehr genossen - es ist nun alles für immer vorbei. Du sagst es, Elvira - so ein Kinderschuhchen kann einem das Herz zerreißen! Birke: "wahre Kunst"? Oder gekonntes Kunsthandwerk? Die Grenzen sind fließend. Dank aber auch Dir.
Gruß
Quoth
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birke
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Beitragvon birke » 23.01.2015, 16:57

ja, die grenzen sind fließend, aber ich denke, es geht schon übers reine (kunst)handwerk hinaus, wenn man es schafft einen guten, berührenden text in einer festen gedichtform zu verfassen.
oder umgekehrt es schafft, in einer festen form ganz viel darüber hinaus fließen zu lassen.
oftmals gefallen mir gedichte nicht, die in eine so starre form gepresst sind, weil sie nichts darüber hinaus transportieren, weil der inhalt und auch manchmal die sprache leidet.
ich glaube, deinem gedicht tut es aber auch gut, dass du es eben nicht so ganz starr in ein korsett gepresst hast, indem du bspw. auf die reime verzichtet hast.
naja, wie auch immer, finde ich es gelungen.

lg
birke
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