wir türmen vor uns

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
jondoy
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Beitragvon jondoy » 27.11.2015, 19:24

.

[align=right]
wir türmen vor uns
verlassen uns auf die schräge in uns
lassen uns fallen wie ein pisaner...
[/align]


[align=left]in der waagrechten hätten wir uns gehalten
an den händen und den mündern
wenn unsere füße nicht einen strich durch
den kopf gemacht hätten...
[/align]

[align=right]...sie haben uns fortgeschleift in ihre kniehöhlen
das lot aufgefressen von unten bis oben
das grüne gras wuchs aus unseren mündern
[/align]

[align=left]durch fersentundren ziehen sie unsere reste[/align]

[align=right].[/align]

Xanthippe
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Beitragvon Xanthippe » 28.11.2015, 16:21

fersentundren. was ist das bitte?
Weil, ich kann einiges anfangen mit dem Gedicht, ich habe ideen und assoziationen, aber an diesem Wort scheitere ich, da bin ich restlos ratlos.

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Eule
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Beitragvon Eule » 28.11.2015, 21:54

Ein Kunstwort aus Ferse und Tundren ? ;-)
Ein Klang zum Sprachspiel.

Niko

Beitragvon Niko » 29.11.2015, 09:21

Hey,
der Titel ist ein kracher , jondoy! Im weiteren fühlt es sich für mich so an, als wolltest du die Verbindung von türmen (fliehen) und den Türmen mit Gewalt verdichten. Die pisaner- stelle dient für mich genau diesem Zweck, bleibt aber inhaltlich nahezu Sinnfrei. Für mich!
Die zweite Strophe geht dann woanders bildlich hin. Und die dritten Strophe halte ich für die beste. In der letzten Zeile haust du dann dem Leser etwas um die Ohren, das er nicht versteht- und ratlos bin ich am Ende. ;-)
Gut fände ich, wenn du den letzten passus ersatzlos streichen würdest.
Beste grüße niko

jondoy
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Beitragvon jondoy » 02.12.2015, 00:58

Hallo xanthippe,

mmh, die bedeutung dieses wortes, was mag es bedeuten, eine dudenerklärung kann ich dir nicht liefern. Hab ich es erfunden, ich weiss ich nicht, so würde ich es nicht ausdrücken, es ist ja kein „spunk“ wort (....die hat im Roman bekanntlich diesen Begriff spontan erfunden und daraufhin versucht, herauszufinden, worum es sich bei einem „Spunk“ wohl handeln könnte..), es ist kein reines Fantasiewort, sondern eine Wortkombination aus zwei.... Assoziationen, :smile: die mir beim Schreiben jener Zeile wohl in den Sinn gekommen und sich in meinem Kopf getroffen haben..zum einen, ganz unten am Boden, am anderen Ende der (Körper-)Welt lebt die gemeine Ferse, sie verbringt dort unten große Teile ihres Lebens am hinteren Ende einer (entlegenen) Körperegion namens Fuß, von den fünf Fußfjorden aus gesehen, für mich im Moment des Schreibens war´s vielleicht eine Methapher für entlegene Enden, geografisch nicht lokalisierbar, abseits von menschlichem Interesse, dies war vielleicht die gedankliche Brücke zum anderen Wortteil, tundren......"der russe ist einer der birken liebt", dieser Titel eines Romans von Olga Grjasnowa geht mir da durch den Sinn, die vielleicht in Sibirien stehen, wo es Erzählungen nach große, endlose Tundren geben soll (Tiefland, wie jenes andere, in denen sich Menschenfersen gewöhnlich außerhalb des Schlafes so rumtreiben, mit Birken bewachsen, ein großer Irrgarten, in dem die Lena, der Ob und der Jenissei sich suchen und nie finden, und so kommt vielleicht just im Moment des Schreibens so ein Wort zustande wie Fersentundren, das ist eine Möglichkeit, sind die Körperbilder im Text bereits Metapher, ist dieser Begriff nochmals eine Methapher in der Metapher, vermutlich ist das jetzt kirre erklärt oder vielleicht mag doch ein kleines bischen deine Frage umantworten....

Hallo Eule,

...ein Kunstwort aus Ferse und Tundren :smile: , ich find, es ist ein gewöhnliches Wort, das, kaum hat es das Papier erblickt, auch schon wieder vom Aussterben bedroht ist....


Hallo Niko,

ich vermag überhaupt nicht einzuschätzen, wie der Text auf eine(n) Leser(in) wirkt,
die pisaner stelle hat für mich allerdings eine bedeutung, für mich keine bloße wiederholung, kennst du das, sich, fallen lassen, aber nicht wirklich, nicht so ganz, so halbherzig, das trifft es alles nicht, mir fallen keine passenden Worte ein, um es zu beschreiben , so wie der pisaner, der tut so, aber er lässt sich nicht ganz gehen, er scheut die Konsequenzen, lach, mir fallen im Moment keine flirrenden Worte ein, um es besser anzudeuten....die angebrachte Kritik, er (Herr Text persönlich) sei (in Teilen) inhaltlich sinnfrei, halte ich für durchaus berechtigt :smile: ; wenn ich ihn vom Blickwinkel mir fremd (...another point of view...) aus so durchlese, werde ich aus ihm nicht ganz schlau, aber ich trau ihm trotzdem zu, dass da mehr dahinter stecken könnte, als ich verstehe, vielleicht lass ich mich auch verführen von seinem Klang, der Klang von Worten hat von je her Einfluss beim Schreiben auf mich, wie für andere der Mond, Punkt, um birkes ausgewähltes ´Wort für diese Woche an dieser Stelle einzuflechten. `

Für mich hat die Titelzeile einen ruhigen Beiklang.

Namaste,
jondoy

aram
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Beitragvon aram » 02.12.2015, 02:46

lieber jondoy,

ich leide unter einer wahrnehmungseinschränkung die sich darin zeigt dass ich -mit ausnahme mir sinnlich nachvollziehbarer formspiele- texten gegenüber, die nicht nahe an standardgröße/schriftart sind, fast immer bestenfalls indifferenz empfinde, praktisch nie überzeugen sie mich, oft scheinen sie mir 'schlecht', selbst wenn ich beim reflektieren des inhalts wenig finde woran ich das festmachen kann.

deshalb nehm ich manchmal zur auflösung meiner blockade die formatierungen raus und sehe den text dann so, wie er vom autor nicht gesetzt wurde.


wir türmen vor uns
verlassen uns auf die schräge in uns
lassen uns fallen wie ein pisaner...

in der waagrechten hätten wir uns gehalten
an den händen und den mündern
wenn unsere füße nicht einen strich durch
den kopf gemacht hätten...

...sie haben uns fortgeschleift in ihre kniehöhlen
das lot aufgefressen von unten bis oben
das grüne gras wuchs aus unseren mündern

durch fersentundren ziehen sie unsere reste


und mein gefühl springt an und meine indifferenzsperre geht auf.
so war es auch hier, was mir daraufhin gedanklich entfuhr war "geiler text".

auch und besonders der letzte vers, den ich in der originalsetzung entbehrlich bis störend gefunden hatte, erschien mir plötzlich zwingend und gut.

auch alles andere - bis auf die in dreiergruppen auftretenden punkte. die mich an einer stelle überdies dazu brachten, 'sie' auf 'füße' zu beziehen: 'ihre kniekehlen' war mir mit diesem bezug doch zu holprig. obgleich ich einsehe, dass man ihn auch durchaus mit absicht so setzen könnte.

die fersentundren wurden mir zu einem einleuchtenden wort, in der originalen setzung war ich an ihnen nochmal extra hängengeblieben und meine indifferenz hatte zu summen begonnen wie ein telegrafendraht.

jetzt bin ich zwar von einem anderen text angetan als dem den du gesetzt hast, aber so schmeckts mir halt mir altem kulinariker

liebe grüße dir.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 03.12.2015, 19:51

Hallo Jondoy,
freue mich, Dich hier auf den Spuren Galileis anzutreffen. Wie gut die fersentundren sind, merkt man, wenn man sie mit Alternativen vergleicht, die auch möglich gewesen wären (Körperteil-Landschaftstyp):
- zehen-meere
- nacken-wüsten
- schenkel-steppen
- schläfen-moore
- nasen-wälder
- lippen-dschungel
- waden-sümpfe
- finger-halden
- schulter-gletscher

Ich las zuerst ver-sendungen, dann vers-endungen, dann ver-senkungen, dann vers-entrunden ... Dolles Wort!

Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Werner
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Beitragvon Werner » 07.12.2015, 21:42

bis auf die fersentundren, die kommen mir doch zu gewollt und zu gekünstelt vor, zu sehr bemüht, was eigentlich schade ist, die reißen raus, also, bis auf die fersentundren gefällt mir dein gedicht, stimmig und sprachlich überzeugend.

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Werner
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Beitragvon Werner » 07.12.2015, 21:44

ich habe nochmal nachgelesen, lass den letzten vers mitsamt der fersentundren ganz weg, das ende mit "das grüne gras wuchs aus unseren mündern" kommt sehr gut, was braucht es da noch mehr, und dazu ein rausreißer, der nur viel von dem davor kaputt macht.

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Eule
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Beitragvon Eule » 07.12.2015, 23:02

Es ist der Bruch der Perspektive vom "wir" zum "uns" zwischen den ersten und letzten beiden Strophen, der für mich im Zentrum des zurecht titellosen Textes über Gewalt und Unrecht steht. Die leichte Assymetrie und die Schlusszeile passen für mich zum Inhalt.
Ein Klang zum Sprachspiel.

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Werner
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Beitragvon Werner » 08.12.2015, 21:20

nee, der schlussvers mit den versenstunden (zer)stört das ganze gedicht, der passt auch gar nicht, ohne ist viel besser, aber, das ist letztlich sache des autors, nicht meine, es ist sein gedicht

Quoth
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Beitragvon Quoth » 08.12.2015, 22:51

Werner hat geschrieben: ... aber, das ist letztlich sache des autors, nicht meine, es ist sein gedicht


Gut, dass Du das doch immerhin anerkennst! Der Respekt vor Eigenart, Eigensinn und Eigenwilligkeit des Autors, der Autorin, ist geradezu das Fundament der Umgangsformen in diesem Forum - wie ich sie erlebt habe und weiter erleben möchte.
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

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Werner
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Beitragvon Werner » 09.12.2015, 20:42

ich erkenne grundsätzlich alles an, was jemand schreibt, mit respekt hat das nix zu tun. und um umgangsformen geht es bei textkritik nicht, ich sage was zum text und nichts persönliches zum autor, den ich gar nicht kenne. ich habe hier nur den text vor mir und ein seltsames pseudonym dazu, das mich aber nicht weiter interessiert oder kümmern muss, wenn ich was zum text sage. mit eigenart, eigensinn und eigenwilligkeit eines textes habe ich keine probleme. wir wollen doch am boden bleiben und hier keine grundsatzdiskussionen zu meinungen zum text erörtern. ich halte "fersentundren" nach wie vor für ein sprachlich sehr unglückliches und ungeschicktes konstrukt und auch den letzten vers für völlig überflüssig, trägt er doch sinnlich noch vom erkenntnisgewinn nichts zum gedicht bei, so dass er lieber entfallen möge. bis davor reicht mir und ist gelungen. ich bin gespannt, was dabei raus kommt, wenn man einen satz wie "durch fersentundren ziehen sie unsere reste" analysiert und hinterfragt ... was soll das sein und bedeuten, was kommt dabei raus? aber letztlich ist es mir nicht so wichtig, ob das da steht oder nicht, ich denke nur schade drum!

jondoy
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Beitragvon jondoy » 15.12.2015, 00:09

heute leiste ich mir mal wieder den zeitlichen Luxus, kurz an dieser blauen Kugel zu drehen, um zu betrachten, was in diesem kleinen Kosmos so vor und vergeht,

Hallo Aram,

deinen ersten Satz lass ich mir auf der Zunge zergehen, dessen Ausdrucksweise könnte durchaus von einem anderen Planeten stammen, wie wunderbar, dass er gleich für mich ins Deutsche übersetzt ist, er wirkt wie deutsche Sprache mit seltsamen Klangkörpern drin, Kunstsprache, solche Sätze werden - in natürlicher Umgebung - gewöhnlich nicht an mich herangetragen, was zeigt der Barometer an, mündet die Ausdrucksphäre in ein Schönwettergebiet, oder gibt es endlich Regen, der als Schnee getarnt, vom Ausland illegal über die Unter-Null-Grad-Grenze in unser Land einreist , wenn mir die Ernsthaftigkeit, die aus diesen deinen Zeilen spricht, nicht so einnehmen würde, die mir wirklich von etwas berichten, einem sehr feinem Wahrnehmen, dass mich oftmals mehr fasziniert, als laute Wellen, die schnell ins Meer umschlagen und trotzdem Wüste nicht zu bewässern vermögen,

erstaunlich find ich die Idee mit der Rückführung der Zeilensetzung,
hab den Text ursprünglich natürlich nicht der eingesetzten Zeilensetzung geschrieben,
das hat mich jetzt neugierig gemacht, hab nachgesehen, wie der text in der urspungsform von mir gesetzt war
- ganz puritanisch, der text war anfänglich absatzlos konzipiert, erst jetzt hab ich eine erste Zeilenschaltung eingefügt,

wir türmen vor uns
verlassen uns auf die schräge in uns
lassen uns fallen wie ein pisaner
in der waagrechten hätten wir uns gehalten
an den händen und den mündern
wenn unsere füße uns nicht einen strich durch
den kopf gemacht hätten

sie haben uns fortgeschleift in ihre kniehöhlen
das lot aufgefressen von unten bis oben
das grüne gras wuchs aus unseren mündern
durch fersentundren ziehen sie unsere reste



aram, hab deinen Kommentar genossen, danke für die Rückmeldung :smile:


Hallo Quoth,

auch deine Ideen finde ich erstaunlich...

daraus liese sich mehr draus machen.... beispielsweise seltsame Wegbeschreibungen...

.....unter den nasen-wäldern taucht man ein in den feuchten Lippen-Dschungel, wenn du dich in diesem Dschungel verlierst, findest du ohne fremde Hilfe nicht mehr heraus,


Hallo Werner,

in der von mir eingestellten Zeilensetzung gebe ich dir recht, wenn er so allein für sich steht, wirkt er wie ein Fremdkörper,
doch jetzt in der Ursprungsfassung - wie ein Archäologe, wiederentdecke ich seinen ursprünglichen Sinn wieder (wer hat hat die Deutungshoheit, der Schreiber oder sein Text :smile: ) der Text hat das Herz einer bunten Glasscheibe, hält man ihn etwas anders (satzarithmetisch verändert) ins Licht, verändert sich seine Farbe,

vielleicht ist es ein meditativer Text auf der Flucht...vor dem Einbalsamiert werden in Lyrik.

Das Antworten hat mir jedenfalls Spaß gemacht.

namaste,
jondoy


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