Reinkarnation (1)

Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
Last

Beitragvon Last » 27.09.2016, 18:21

Reinkarnation (1)

Ich traf eine Frau,
die für eine Suppe
Hasse ma‘ n Euro!
mir ins Ohr schrie.

Wie gern hätte ich
Ja! gerufen.
Wie gern hätte ich
sie ausgeführt.

Wie gern hätte ich
bei einem Eintopfgericht
wie der Mönch am Meer
in ihre Augen geschaut,
wie der Stille Mariens
ihren Worten gelauscht.

Doch tat ich es nicht,
weil von der Suppe bis zum Meer
alles gelogen war.

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Amanita
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Beitragvon Amanita » 27.09.2016, 20:19

Interessant jedenfalls!

(Mit dem Titel komme ich noch nicht ganz klar ...)

Last

Beitragvon Last » 29.09.2016, 14:44

Hallo Amanita,

danke für Deine Rückmeldung.

Es handelt sich um eine Trilogie. Das mit dem Titel wird vielleicht später etwas klarer. Ich wollte dieses einzeln einstellen, weil ich an verschiedenen Stellen unsicher war.
Zuletzt geändert von Last am 29.09.2016, 15:09, insgesamt 1-mal geändert.

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.09.2016, 14:55

Vielleicht habe ich ein Brett vorm Hirn, aber ich verstehe die innere Logik der ersten Strophe nicht.

Es klingt so, als habe die Frau "Hasse ma'n Euro" gerufen, damit der Sprecher (also das lyrische Ich) ihr Suppe gibt - also sei die Suppengabe quasi die Entlohnung für ihr Geplärr - ähnlich, wie wenn ich für eine Suppe Zöpfe flechte oder die Straße fege.

Gemeint ist aber doch wohl (wenn nicht, bitte erklären!), dass sie den Euro haben wollte, um sich eine Suppe zu kaufen?
Dann müsste es wohl eher "hasse ma'n Euro für ne Suppe" heißen?

Die Fortsetzung der Trilogie interessiert mich jetzt sehr ...
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

aram
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Beitragvon aram » 29.09.2016, 15:18

hallo last,
der text ist eigenwillig konstruiert - lyr.ich begründet mit einem abschließenden 'alles gelogen', führt dazu 'suppe' und 'meer' an, wobei nicht nur letzteres einer bloßen vorstellung des lyr.ich entstammt, sondern auch die 'suppe' gerade nicht als teil der rede der frau erscheint. das wirkt ziemlich vertrackt.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 29.09.2016, 20:42

Lieber Last,

ich mag, wie der Text in sich eigentlich die gleiche Wendung nimmt bzw. das gleiche Bezugsproblem hat, wie dieser Text von Kleist zum Mönch am Meer (http://www.blauersalon.net/online-liter ... php?t=1204) und es auch ein "existentieller" Kontext ist, eben nur ein ganz anderer, das ist gehaltsreich und interessant zu lesen. Eine Bedeutungsreinkarnation? :-)

Liebe Grüße
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Last

Beitragvon Last » 30.09.2016, 09:48

Hallo Zefira, hallo Aram,

danke für die Rückmeldung.

Ich stimme Dir zu, Zefira: die innere Logik des ersten Satzes ist durch den gegen die Leseerwartung verkürzten Anteil direkter Rede nicht eindeutig. Sinnstiftend für den weiteren Textverlauf erscheinen mir beide von Dir genannten Lesarten.

Ich stimme demnach auch Dir zu, Aram. Das Gedicht ist eigenwillig konstruiert.

Es entsteht auf meiner Seite natürlich die Unsicherheit: kann ich das dem Leser zumuten oder verdränge ich ihn so?

Ich habe nach den bisherigen Rückmeldungen den Eindruck, dass das durchaus grenzwertig ist.

-----------

Hallo Lisa,

auch Dir danke für die Antwort. Tatsächlich ist dieser Text Kleists auch mein erster Zugang zu Friedrichs Gemälde gewesen.
Wusstest Du, dass der Text eigentlich gar nicht aus Kleists Feder stammt, sondern von Brentano und Arnim? Kleist hat vor allem redaktionelle Eingriffe zur Veröffentlichung des zu langen Texts in den Berliner Abendblättern vorgenommen, ihn dabei aber auch ergänzt und die Bedeutung entscheidend verändert. Was widerum zu einem Streit mit Brentano führte.

Ich selbst schreibe natürlich aus meiner eigenen Weltsicht heraus meine eigenen Texte. Niemand muss Kleist kennen, um dieses Gedicht entschlüsseln zu können. Nichtmal das Gemälde von Caspar David Friedrich muss bekannt sein. Trotzdem habe ich wohl zu viel Kleist gelesen und dabei zu viel Faszination empfunden, um nicht davon in meiner Weltsicht beeinflusst zu sein. Die "Bedeutungsreinkarnation" lässt sich also nicht vermeiden. ;-)

aram
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Beitragvon aram » 01.10.2016, 09:10

Last hat geschrieben: kann ich das dem Leser zumuten oder verdränge ich ihn so?

hallo last, aus meiner sicht: beides.
als einzeltext bzw. ohne information zu autor/absicht praktisch nicht kongruent rezipierbar.
das ist aber bei etlichen texten (und nicht nur texten) so. erst über eine mehrzahl, oft vielzahl ähnlich 'gedacher/gemachter' werke (zudem meist auch orientierung ermöglichende meta-informationen) ist sinn für ästhetik und perspektive entwickelbar, können sie zugänglich werden.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 08.10.2016, 09:48

Versuchend, "der stille Mariens" zu verstehen, geriet ich im Internet auf Woyzeck ...

"Hasse ma`n euro"...

Vor der Einführung dieser Währung hätte man nichts verstanden.

Interessant, wie in der Umganssprache fünf Wörter sich auf drei reduzieren lassen.

Es hört sich wie ein Name, Name und Vorname: Hasseman Euro.

Das ist der Kern der Sprache, wie Einheimische mit ihr umgehen.

Deswegen werden wir nie wissen, bis auf die wenigen, noch existierenden Dokumenten, wie die Komödien Plautus, exemplis causa, wie die alten Römer wirklich geredet haben. Auf jeden Fall nicht, wie es heute immer noch in den Schulen gelehrt wird. Eher so wie die um einen Euro bettelnde junge Frau.

Dass sie jung, und hübsch war, entnehme ich aus der Reaktion des Dichters.

Wobei dieses "schrie" sie mir ins Ohr mir nicht ganz gefällt, ich glaube nicht, dass sie geschrien hat.

Und er hätte ihr nicht ein Euro, sonder sein Herz gegeben.

Was er auch tat.

Die letzte Strophe kaufe ich ihm nicht ab: Auch wenn es gelogen gewesen wäre, er hätte nicht einer wirklichen Einladung dieser Frau widerstanden.

Last

Beitragvon Last » 11.10.2016, 15:10

Hallo Klimperer,

danke für Deine Rückmeldung. Ich denke, dass man das Gedicht auch so lesen kann. Die reale Frau war aber nicht jung und hat den Passanten wirklich ins Ohr geschrien. Das steht hier aber nur bedingt, sodass der Leser sich das Bild selbst zusammesetzen muss und dazu ja nur die Informationen zur Verfügung hat, die ihm der unglaubwürdige Sprecher überlässt.

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Werner
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Beitragvon Werner » 17.10.2016, 21:52

der text "spielt" mit möglichkeiten ... dann muss er das aber auch sprachlich noch viel mehr, viel absurder und wahnwitziger tun, denke ich, der text bleibt ja sprachlich eher "brav" und in einem durchgängigen ton (mal vom ausspruch der frau "Hasst Du mal einen Euro" abgesehen)?

fazit: er (lyri) hat ihr nix gegeben! nich ma ne suppe.

den titel verstehe ich so, dass lyri als nächstes als bettlerin wieder auf die welt kommt bzw. in einem früheren leben eine solche war? mit der stille mariens wird der text ja fast sakral, aber nur fast.

bin weiter gespannt.

Last

Beitragvon Last » 18.10.2016, 15:44

Hallo Werner,

danke für die Rückmeldung. Nach den bisherigen Kommentaren bin ich für mich zu dem Schluss gekommen, dass ich - was diesen Text angeht - eher Autist als Author bin. Manchmal hat man das ja, das einem selbst etwas als zwingend notwendig erscheint, von dem man gleichzeitig weiß, das jemand anderem einfach Informationen fehlen, um das so nachvollziehen zu können.

Von daher bin ich fast geneigt zu sagen, dass der Text "brav" sein muss, weil das lyrische Ich sich für brav hält. Gleichzeitig sind da einige Bedenken, die ich am Anfang hatte, einige Stellen, die ich ursprünglich nicht zwingend so setzen musste wie sie jetzt sind. Und was Du hier "brav" nennst, meint kritisch verschärft ja eher "sprachlich gediegen, sodass der Text eher am Leser vorbei plätschert". Konstruktiv: ein bisschen mehr Pfiff könnte nicht schaden.

Teil 2 und 3 sind fertig (bis auf letzte Details), sie setzen den Stil so fort. Ihn hier zu ändern bedeutet dann eventuell auch eine gewisse Neukonzeption.

Ich lasse das nochmal sacken.


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