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Bereich für Texte mit lyrischem Charakter: z.B. Liebeslyrik, Erzählgedichte, Kurzgedichte, Formgedichte, Experimentelle Lyrik sowie satirische, humorvolle und natürlich auch kritische Gedichte
carl
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Beitragvon carl » 22.06.2017, 18:43

das tal dampft vom regen als
die schnecke die du gerettet hast
– du lebenshüterin –
den polierten stein abrutscht so
wie die sonne untergeht.

schwalben teilen die jagd mit
fledermäusen im rücken
fichten sitzen wir mit
gläsern in händen auf der
friedhofsmauer

und trinken:
dass du dich loslassen kannst
heute in meinen armen ich in deinen
sterben darf – aber noch nicht
heute.

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Werner
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Beitragvon Werner » 22.06.2017, 19:08

gefällt mir ganz gut, klingt für mich nur an einigen stellen bisschen holprig und "verquert", umständlich?! so ein einschub wie "du lebenshüterin" wirkt auf mich immer schnell etwas "belehrend", so von oben, moralisch bewertend, mir würden die reinen beschreibungen der verschiedenen ereignisse oder sachverhalte genügen. auf die schnelle im ersten durchgang mal mein versuch zu mehr "geschmeidigkeit" (?) an manchen stellen:

dampft das tal vom regen
rutscht die schnecke
die du gerettet hast
den polierten stein hinab

teilen schwalben die jagd
mit fledermäusen
sitzen wir auf der friedhofsmauer
und halten gläser in den händen

trinken darauf
dass die sonne untergeht
du dich loslassen kannst
in meinen armen

und ich sterben darf in deinen
aber noch nicht
heute


???

carl
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Beitragvon carl » 30.06.2017, 17:51

Lieber Werner,

Dank für deine Hinweise! Ich werde sie noch ein bisschen bebrüten...
In einem hast du den Punkt schon mal getroffen: das Gedicht ist verquer.
Deine Version ist mir zwar zu glatt, aber deswegen ist meine ja noch lange nicht gut.
Ein Gelegenheitsgedicht eben...

Viele Grüße, Carl

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 01.07.2017, 09:30

Hallo Carl,

das Verquere finde ich hier gerade gut. Allerdings könnte ich auf die letzte Strophe sehr gut verzichten. Sie erzählt mir zu sehr aus, was in den ersten beiden Strophen gezeigt wird und ist in diesem Sterbensbild schon zu abgenutzt, um mitzuhalten mit dem, was die anderen Bilder und Klänge evozieren.

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

Peter

Beitragvon Peter » 01.07.2017, 17:48

Hallo Carl,

das Verquere finde ich klasse, es hat soetwas händisch Aufgenommes, ein bisschen verwackelt und unscharf.

Bei Texten brauche ich immer einen Moment, an dem ich mich festmachen kann, eigentlich das Bild der Sprache selbst, und dasselbe ist für mich die Schnecke, die den Stein "abrutscht", obwohl ich das Verb hier etwas unglücklich finde, weil rutschen doch auch, wie sagt man physikalisch?, eine Dynamik entwickelt, die ja im Kriechen der Schnecke nicht beinhaltet ist.

Das Gedicht trifft sich für mich auch gut mit dem Titel, weil es m.E. von der Zeit, oder von der Art und Weise der Zeit spricht, wie wenig wir sie behalten können und wie sie in ihrer Gegenwart an sich schon eine verlustige Schieflage hat.

Liebe Grüße
Peter

carl
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Beitragvon carl » 02.07.2017, 13:35

Lieber Peter,

Dank für die Ermutigung zum Verqueren!
Außerdem hast du mir was ins Bewusstsein gebracht, was mir noch gar nich klar war:
Rutschen als dynamischer Prozess! Danke...
Kriechen möchte ich nicht nehmen, weil es aktiv ist.
Es geht um einen Prozess der Überwältigung, der passiv erlebt wird, von der Schnecke stellvertretend für das lyrische ich. Und der trotz Überwältigung unmerklich ist wie der Sonnenuntergang, den du ja auch nicht direkt beobachten kannst. Er ist zu langsam. Und doch ist die Sonne plötzlich weg.


Liebe Sylvi,

Bist du sicher, dass die letzte Strophe weg kann?
Es geht hier nicht um junge Leute mit großen Lebensentwürfen a la bis dass der Tod uns scheidet.
Sondern um einen Menschen, der nur noch Verfall und Tod vor sich hat.
Und der völlig überraschend von einem jüngeren Menschen diese Zusicherung bekommt:
Ich bin da, wenn du stirbst!
Es geht hier nicht darum, wie realistisch das für die Zukunft ist.
Sondern. dass sie. das. genau so. meint. heute.



Lieber Werner,


"moralisch" ist die Lebenshüterin nicht für mich, aber ich hatte die Frage, ob nicht überhöht?
Nur wie soll ich das sagen: wenn das Große Leben wie die Sonne nach dem Regen nochmal einen versöhnlichen Blick auf den Existenzkampf wirft und zum vergehenden, kleinen Leben sagt: ich habe dich nicht vergessen...?
Es geht hier nicht um einen subjektiven Akt von Seiten des lyrischen du, sondern um die von ihm unbemerkte plötzliche Transparenz.
(Mal abgesehen davon, dass sie tatsächlich Ärztin ist -:)


Deshalb, Sylvi, muss das du auch als konkrete Person in den Blick kommen (letzte Strophe).


Dank für eure Kommentare! Carl

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 02.07.2017, 15:04

Hallo Scarl ;):

Bist du sicher, dass die letzte Strophe weg kann?
Es geht hier nicht um junge Leute mit großen Lebensentwürfen a la bis dass der Tod uns scheidet.
Sondern um einen Menschen, der nur noch Verfall und Tod vor sich hat.
Und der völlig überraschend von einem jüngeren Menschen diese Zusicherung bekommt:
Ich bin da, wenn du stirbst!
Es geht hier nicht darum, wie realistisch das für die Zukunft ist.
Sondern. dass sie. das. genau so. meint. heute.
Ja, ich bin sicher, was mein Lesen anbelangt. Für mich genügen die Bilder und Assoziationen zur abrutschenden Schnecke, Sonnenuntergang, Lebenshüterin, Schwalben und Fledermäuse, rücken fichten :ff: , Friedhofsmauer ...
Was ich allerdings nicht herauslese, ist der Altersunterschied, oder generell einen Hinweis aufs Alter. Wenn dir das wichtig ist, müsste das irgendwo im Text sichtbar werden?
Die konkrete Person sehe ich auch ohne die letzte Strophe, sie ist doch in den anderen Strophen auch "anwesend"?

Liebe Grüße
Ylvi
Das ist das Schöne an der Sprache, dass ein Wort schöner und wahrer sein kann als das, was es beschreibt. (Meir Shalev)

carl
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Beitragvon carl » 02.07.2017, 15:22

Sorry Ylvi


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